Feb 132011
 

Einen bestechend klar formulierten, naturwissenschaftlich abgesicherten Aufsatz des Biologen Björn Brembs las ich soeben in der neuesten Nummer der Zeitschrift Proceedings of the Royal Society – B Biological Sciences.

Thema: „Zu einem naturwissenschaftlichen Begriff der Willensfreiheit als eines biologischen Merkmals: Spontanes Handeln und Entscheidungsfindung bei Wirbellosen“.

Der Autor untersuchte, vereinfacht ausgedrückt, die folgende Frage: Haben Fruchtfliegen so etwas wie Willensfreiheit? Der Autor untersuchte Fruchtfliegen auf ihre Fähigkeit, zwischen Handlungsalternativen zu wählen. Bei gleicher Ausgangslage müssten doch Tiere derselben Art stets gleich entscheiden, so die triviale Ausgangsannahme. Hungrige Fruchtfliegen müssten sich doch stets auf eine mögliche Nahrungsquelle zu bewegen! Dem ist aber nicht so. Die Tiere zeigten stets eine etwa 20-prozentige Abweichung vom zu erwartenden Verhalten. Selbst bei einfachen Stimulus-Response-Situationen, wo ein einfacher Reiz durch eine hochgradig vorhersagbare Reaktion zu beantworten ist, gibt es Abweichler, Ausbrecher, Neugierige unter den Fliegen. Sondert man diese etwa 20 Prozent Abweichler unter den Probanden aus und setzt die verbleibenden Fliegen einem neuen Experiment aus, so ergibt sich wieder eine etwa gleich hohe Abweichlerquote.

Fliegen scheinen also Lösungen für Probleme zu suchen – statt einfach nur Instinkte spielen zu lassen.

Towards a scientific concept of free will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates — Proceedings B
The fly cannot know the solutions to most real-life problems. Beyond behaving unpredictably to evade predators or outcompete a competitor, all animals must explore, must try out different solutions to unforeseen problems. Without behaving variably, without acting rather than passively responding, there can be no success in evolution.

Das Verhalten von Insekten ist selbst in einfachsten Standard-Situationen nie zu 100% voraussagbar. Es sieht so aus, als hätten die Insekten eine Art Ermessensspielraum. Die Freiheit des Ausprobierens sichert den Arten einen Evolutionsvorteil.

Entscheidungen für oder gegen etwas scheinen selbst im Tierreich in dem Sinne möglich zu sein, dass die Tiere neuronal nicht determiniert sind. Bei absolut gleichen Ausgangsbedingungen „entscheiden“ sich genetisch ähnliche oder genetisch gleiche Insekten selbst in fundamentalen Existenzfragen – etwa bei der Frage, ob tier ins Licht oder vom Licht weg fliegen sollte – unterschiedlich!

Neurobiologie – diese im Moment äußerst angesagte Leitwissenschaft – diskutiert, ob man so etwas wie den freien Willen noch zulassen oder rechtfertigen könne. Wird Willensfreiheit obsolet, da doch zunehmend erklärbar wird, warum unser Hirn so reagiert, wie es reagiert?

Der Aufsatz von Brembs weist meines Erachtens nach, dass neuronale Vorgänge die tatsächliche Handlungsentscheidung bei Tieren nicht eindeutig bestimmen.

Für das uralte philosophische Problem der Willensfreiheit beim Menschen meine ich festhalten zu dürfen:

Ein biologischer Nachweis, dass wir keinen freien Willen haben, lässt sich nicht erbringen. Viele Befunde sprechen dafür, dass nicht nur wir Menschen, sondern auch Tiere einen sehr weiten Entscheidungsspielraum nutzen können. Dass wir tatsächlich entscheiden können, dass wir also mit Willensfreiheit begabt sind, dass wir in weitem Umfang „Herr oder Herrin unserer Taten“ sind, ist eine nicht nur durch Introspektion zugängliche, sondern auch durch naturwissenschaftliche Experimente nicht widerlegbare Grundverfasstheit.

Damit wird nicht geleugnet, dass Willensakte an materielle Vorgänge unlösbar gebunden sind – also letztlich an Prozesse unter Neuronen, Synapsen, Botenstoffen und Erregungspotenzialen im Hirn. Aber diese Prozesse sind nur Substrate, Trägersubstanzen des Willens.

Der Mensch selbst ist frei. ER WILL – oder will nicht. Erst durch Freiheit wird Verantwortung, wird Moral, wird Sittlichkeit, wird Recht und Unrecht denkbar. So wird etwa niemand einem Mörder eine Entschuldigung zubilligen, wenn er behauptet: „Ich musste töten! Es überkam mich!“

Von den wenigen Fällen des Wahnsinns oder der Schuldunfähigkeit abgesehen, werden wir stets sagen: „Der Mörder musste nicht töten. Er muss sich für die Folgen seines Tuns verantworten.“

Ich bekenne mich in diesem Sinne leidenschaftlich zur Freiheit des Menschen.

Bild: Der arme Kreuzberger Blogger spricht mit Berliner Kindern über Freiheit, über Gut und Böse in Mozarts Zauberflöte.

Björn Brembs: Towards a scientific concept of free will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates. Proc. R. Soc. B 22 March 2011 vol. 278 no. 1707 930-939

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