Carl und Giacomo … amici per la pelle

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Mrz 242015
 

Durch schneidenden, sprühenden, scharf splitternden Regen bahnte ich mir am Samstag mit meiner Bratsche auf dem Fahrrad den Weg nach St. Canisius in der Witzlebenstraße. Nichts Großes, nichts Weltbewegendes, nichts Welthistorisches war angesagt, nur eine Kleine Passionsmusik von Carl Loewe und ein kurzes Requiem von Giacomo Puccini.
Zwei kurze, unscheinbare Werke also, dargeboten von zwei Kirchenchören und einer bunt zusammengewürfelten Musikerschar. Thema: Sterben, Tod, Weiterleben, Feindschaft, Hass, Einsamkeit, – und Schritte über Feindschaft, Hass und Einsamkeit hinaus. Wie ein grauer Nebel erhob sich der mit Dämpfer abgedunkelte Klang der Streicher in der kahl und unwirklich scheinenden Kirche.
Was geschah da? Einer starb da ganz für sich allein. Natürlich hat er sich von allen verlassen gefühlt, natürlich hat er an der Anwesenheit und Existenz Gottes gezweifelt, natürlich hatten sie ihm wieder und wieder Blasphemie, Tabuverletzungen ohne Zahl, Gottlosigkeit vorgeworfen. Spott über den Propheten steht in der Geburtsurkunde der Gemeinde. Sie hatten ihn verspottet und verlästert. So tief war er gesunken, dass er wie ein ganz gemeiner Verbrecher enden sollte. Schwere Stunde, schwerste Stunde!
Dennoch erhob sich ein Bratschensolo über der grauen, matten, sterbenskranken Stunde. Ja, was leistete sich denn Puccini da wieder einmal mit diesem Bratschensolo? Natürlich, ein Italiener! Das war doch ungeheuerlich. Da schwang sich etwas auf, da schwang sich etwas herab.
Die Bratsche sang, als hätte es keinen schneidenden Nieselregen auf der Hinfahrt gegeben, der Chor sang, als würde es Schritte über Tod, Haß und Feindschaft hinausgeben; ja, wir wussten oder ahnten, es war Schlimmes geschehen, es würde auch wieder Schlimmes geschehen. Nicht nur in der Weltgeschichte war Schlimmes geschehen, auch in unserer Kleinen Lebenspassion, in unserem eigenen kurzen Requiem war Schlimmes geschehen.
Und doch ist das Schlimme nicht das Letzte. Die Abwesenheit Gottes, die der Sterbende so deutlich als seine vorletzte Botschaft herausgeschrien hat, ist nicht das Letzte. Es geht weiter. Er ist noch nicht ganz fertig. Mit der Musik erbrachten wir den Beweis. Der Beweis wurde uns zu Ohren gebracht. Auf schneidenden, scharf splitternden, sprühenden Nieselregen folgt samtener, warmer Klang, folgt Aufsprießen der Narzissen, folgt gelbes klingendes Licht. Und der Regen war schon fast vergessen.

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Der Tag geht schon zur Neige

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Nov 252014
 

Der Tag geht schon zur Neige wie ein wildes Tier nach langem Suchen und Kämpfen seine Lagerstatt sucht. Was soll all das Kämpfen, was soll all das Suchen?

Wie von selbst klingen jetzt  Brentanos herrliche Verse im Ohr:

  

Sprich aus der Ferne,
Heimliche Welt
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.

 

Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.

 

Klingender Lieder
Glänzender Lauf
Ringelt sich nieder
Wallet hinauf

Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt,
Alles ist freundlich wohlwollend verbunden
Bietet sich tröstend und traurend die Hand.

 

 

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Vergrämung des Menschen durch klassische Musik

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Okt 192014
 

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Vergrämung – davon sprechen Vogelkundler, wenn Tauben oder Kormorane durch unangenehme Reizüberflutung von einem Ort vertrieben werden – der Kormoran von einem Fischteich etwa, die Taube aus einem U-Bahnhof.

Das Urban-Krankenhaus im heimatlichen Kreuzberg vergrämt in diesem Sinne Raucher mit klassischer Musik. Ich habe die erzwungene Beschallung selbst erlebt, als ich vor einiger Zeit eine krebskranke Patientin im Urban betreute. Und so las ich es gestern in der U6 Richtung Alt-Tegel. Die suchtkranken Patientinnen und Patienten ertragen „das Gejaule“ nicht.

http://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/klinik-verjagt-raucher-mit-klassischer-musik

So weit ist es also gekommen – klassische Musik (Vivaldi, J.S. Bach, Tschaikowski, Beethoven) wird als Waffe gegen suchtkranke Menschen eingesetzt.

Es ist nicht zu leugnen: Rein theoretisch kann man Bach, Mozart, Beethoven, Brahms auch als Folterwerkzeug einsetzen, indem man sie zu laut, zu lange, am falschen Ort und zur falschen Zeit auf die Ohren drückt, oder sie als abstrakten Lernstoff in Kinderseelen hineindrückt. Auch Licht, eine gute Quelle unseres guten Lebens,  kann man zur Folter einsetzen. Und das wird in Gefängnissen mancher Länder auch gemacht.

Tiefer Gram erfasst mich. So tief ist Deutschland, das Land Bachs, Beethovens, Felix Mendelssohns und Johannes Brahms‘  gesunken. Vor Jahren wurde Mozart wenigstens noch als Mittel zur besseren Hühnerei-Ausbeute in Legebatterien gepriesen, oder auch als Mittel zur pränatalen Intelligenzförderung bei Kindern. Und jetzt verjagt man die Leute mit klassischer Musik.  So wird von Anfang an der Sinn für die Schönheit klassischer Musik unterdrückt. Die Leute werden durch Zwangsbeschallung gefügig gemacht. Der Sinn für Schönheit wird ihnen gewissermaßen herausoperiert.

Noch vor  der um sich greifenden  Selbstaufgabe der europäischen Sprachen, etwa des Deutschen, Italienischen oder Polnischen, zugunsten des Globischen (z.B. „There will be no Staatsbankrott“, wie es Wolfgang Schäuble formulierte), neben der schleichenden, fortschreitenden Selbstaushöhlung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Europäischen Zentralbank  oder der EU-Kommission (also der beiden derzeit scharf konkurrierenden zentralen Gesetzgebungsbehörden der Europäischen Union) empfinde ich die Verhunzung, die Verleugnung, den Missbrauch der großen Musik etwa Antonio Vivaldis, Beethovens, Johannes Brahms‘, Felix Mendelssohns, Peter Tschaikoswkijs  oder Johann Sebastian Bachs als besonders schlimm. Diese bewusste Abkopplung einer ganzen Gesellschaft von allem, was sich in der Vergangenheit als schön und gut und erhaltenswert erwiesen hat,  was mir zumindest auch weitergebenswert erscheint, ist für mich Quelle tiefen Grams.

Ich meine: Die Schönheit der klassischen Musik – also etwa des zweiten Satzes in Beethovens Streichquartett op. 18 Nr. 1 –  soll den Kindern und den Kranken im Urban-Krankenhaus behutsam erschlossen werden. Ein Aufscheinen, ein plötzliches Durchzucktwerden, ein freudiges, strahlendes Schönen  trägt diese Musik. Als Mittel zur Vergrämung des Menschen ist diese Musik viel zu schade.

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Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen

 Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Musik, Russisches, Singen, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen
Aug 182014
 

2014-08-10 23.22.44

 

 

 

 

 

 

 

 

Vielfache Hinführung zu den Herrlichkeiten der deutschen Kultur, zur Schönheit der deutschen Sprache verdanke ich der russischen, aus Moskau stammenden Altistin Irina Potapenko, die mittlerweile hier bei uns in Berlin-Kreuzberg lebt, singt und schafft. Ob nun die Einsamkeits-Gedichte Eichendorffs, die Mondscheinbilder Caspar David Friedrichs, die „Erbarme-dich“-Arie Johann Sebastian Bachs, all das, was bei uns smarten, smartphonegetriebenen Deutschen in Vergessenheit geraten ist, bringt sie mir immer wieder überzeugt und überzeugend zu Gehör und zu Gesicht. Freuen wir uns darüber.

„Sonne der Schlummerlosen“, das Lied von Hugo Wolf auf ein Gedicht von dem Briten Lord Byron, ist einer dieser Schätze der deutschen Kultur, zu denen mir Irina Potapenko durch ihren Gesang vor einigen Jahren den Zugang eröffnete. Es fiel uns wieder ein, als wir uns vor wenigen Tagen mehrere Nächte lang mit einem Teleskop auf den Weg in die russische Feldeinsamkeit, die russische Welteinsamkeit machten, um die Schönheit des Mondes zu bewundern, der am sternklaren Himmel seine Vollmondphase durchmaß.  Er war ja in jenen Nächten wenig mehr als 360.000 km entfernt, nach astronomischen Maßstäben also nur einen Katzensprung. Schönheit des Vollmondes bewundern? Ja, Schönheit, und zugleich schrundige, fast hässlich zu nennende Kahlheit trat in der 90-fachen Vergrößerung unseres guten französischen Teleskops hervor. Etwas jäh Zerrissenes, Angefressenes, Erbarmungswürdiges schien mir von dem bleichen Gesellen, dem Mond auszugehen. Wir sahen deutlich die schnurgeraden, wie mit dem Lineal geritzten Linien, die „Mondkanäle“, die Blasen, die aufgequollenen Krater, die jahrmillionenlang von Kometen und Asteroiden zerpflügten Felder.

Am dritten Tag, als der Mond schon deutlich im Abnehmen begriffen war, trat an der im spiegelverkehrten Sichtfeld des Teleskops linken, real also der rechten Seite des Mondes eine unglaublich schroffe Eindellung, etwas Eingefressenes hervor, ein riesiger, sicherlich mehr als 30 km runder Krater, wodurch der Mond tatsächlich wie ein angebissener Apfel aussah, vergleichbar dem Logo des US-amerikanischen Smartphone-Herstellers Apple.

Mich durchfuhr der Gedanke: „Aber … das ist ja alles unglaublich schön, schrecklich, mitleiderregend, ehrfurchteinflößend!“

Und doch – es war nur der Mond. Ein einsamer Gesteinsbrocken, ein Geröllklumpen, mitleidlos gekettet seit wohl 4,5 Milliarden Jahren an unsere Erde, der er nicht entkommen kann, und dem wir nicht entkommen können und nicht entkommen wollen.

Ich setze hier eines der Fotos hinein, die ich zusammen mit Ivan, einem meiner Söhne, am Ufer des Moskau-Flusses aufnahm, entstanden am 10. August 2014 um 23:22:44 Uhr.

Hört das Lied hier:

Hugo Wolf – „Sonne der Schlummerlosen“ Byron – Fischer-Dieskau, Moore – YouTube.

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Zweierlei Gnaden

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Jun 222014
 

Der Schreibende ist am Donnerstag aus Moskau zurückgekehrt von dem Begräbnis unseres Alexander Jakowlewitsch.  Wir geleiteten ihn am Dienstag auf dem letzten Gang auf den Wagankowoer Friedhof. Ein tränenreicher Abschied, der eine große Trauergemeinde zusammenführte. Ich hielt eine der zahlreichen Abschiedsreden in Du-Form, spielte auf der mitgebrachten Geige eine Sarabande in d-moll von J.S. Bach, die Hebräische Melodie von Joseph Achron, zu allerletzt den unüberbietbaren Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ von Bach. Ich sagte:  Для тебя и для нас Бах всегда Бах. Спи, мой Дорогой. Für dich und für uns bleibt Bach immer Bach! Schlafe mein Lieber.

Am Samstag feierten wir mit einem katholischen Gottesdienst eine Goldene Hochzeit mit Verwandten im niederbayrischen Rotttal. Von einem frisch ausgeworfenen Grab zu einer Hochzeitsfeier!

Das eine betrübt, die andre erfrischt,
so wunderbar ist das Leben gemischt.

Zweierlei Gnaden! Zwei gleichermaßen tiefe, zwei mich nachhaltig bewegende Feiern! Eine festliche Traurigkeit trug mich mitten im Leben dahin.

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Stricke des Todes: am letzten Pult des Lebens

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Jun 152014
 

Stricke des Todes hatten uns umfangen,
Und Angst der Hölle hatte uns getroffen,
Wir wandelten in Finsternis.

So wählte Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem reichen Schatzhaus unserer Bücher aus. Sie hatten, nicht: sie haben! Der Tod – so singt und klingt es im Tenorsolo der Nr. 6  seiner Kantatensinfonie „Lobgesang“. Sie hatten uns umfangen. Gemeint ist wohl: Der Tod ist kein letztes. Irgendwann dürfen wir sagen: Die Nacht ist vergangen.

Vorgestern starb in Nikolina Gora unser geliebter Vater, Schwiegervater, Opa, Ehemann Alexander Jakowlewitsch Potapenko. Es gibt wohl unter allen Russen keinen Mann, der mich mehr geliebt hat als er, und keinen, den ich mehr geliebt habe als ihn. Heute nachmittag spiele ich folglich zu seinem Gedenken für ihn und für uns die Bratsche am letzten Pult in einem schönen großen Konzert:

Sonntag, 15.06.2014, 19:00 Uhr, Paul-Gerhard-Kirche, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 48
Sinfonie Nr. 2 “Lobgesang” von Felix Mendelssohn Bartholdy

Ausführende:
Neuer Chor Alt-Schöneberg
Kirchenkreisorchester Schöneberg mit Gästen
Solisten: Anna Gütter, Eva Summerer, Goran Cah
Leitung: Sebastian Brendel

Karten an der Abendkasse: 15 (10) Euro

 

 

 

 

 

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Der überglückliche Kalkant Bachs in Eisenach

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Mai 022014
 

2014-05-01 17.26.47

Heut bin ich recht froh, sintemalen ich gestern mich in Eisenach bei unserem Martin LUTHER und unserem Johannes BACH gestärkt habe. Wer – Johannes Bach? Warum nicht Johann Sebastian Bach? Nun, ich betrachtete genau das Schülerverzeichnis der Eisenacher Lateinschule, die Johann Sebastian Bach ab dem Alter von 8 Jahren  besuchte. Der schulamtliche Name unseres Meisters aller Gattungen lautet dort – handschriftlich eingetragen-  nicht „Bach Johann Sebastian“ sondern „Bach Johannes“. 

Denkt Euch nur: Ich durfte am 1. Mai 2014 nachmittags um 17 Uhr im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach an diesem vielleicht von Bach selbst einmal traktierten oder vielleicht inspizierten Orgelpositiv des Jahres 1650 als tüchtiger Kalkant musizieren. Der Organist vertraute mir. Er glaubte mir auf mein gutes Wort hin, dass ich ein guter Kalkant sein werde! Das ist Glauben, ist Vertrauen: „Ja, du schaffst das schon! Kalkant – das kannst du!“, sagten die Augen des Organisten. 

Damit fängt alles an.

Ich strahlte: Ich ein Kalkant im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach! Herrlich, überherrlich! „Empfangt den heiligen Hauch!“, sagte es in mir – und das ist akkurat, was im Evangelio des Johannes 20, 22 steht! Es ist eine der Osterbotschaften Jesu. Das lateinische Spiritus bedeutet Hauch, griechisch Pneuma, hebräisch Ruach.

Omnis spiritus laudet te!

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Mein Freund, warum bist du kommen?

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Apr 222014
 

2014-03-30 13.55.50Die Ostertage fanden mich häufig den Zug wechselnd, häufig das Gefährt und die Gefährten wechselnd, wandernd, reisend, redend, singend, feiernd. Hier mit einigen Tagen Verspätung nachgereicht ein Gespräch, das ich am vergangenen Samstag im ICE 1525 irgendwo zwischen Jena und Nürnberg aufzeichnete:

Karsamstag ist es heute, der Tag der Grabesruhe, der Tag des stillen Nachdenkens. Ein unbezwingliches Verlangen trieb mich am Gründonnerstag in die Berliner Philharmonie. Enoch zu Guttenberg würde dort um 20 Uhr die Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs dirigieren. Ich wollte erfahren, ob verschiedene Vermutungen, die ich am Nachmittag fiedelnd und summend zur Gestalt des Petrus und zur fundamentalen Bedeutung der Ungläubigen für die Gläubigen angestellt hatte, eine Art Widerhall oder eine Art Widerspruch finden würden.

Guttenberg fasst die Matthäuspassion als rauhe See mit gelegentlicher Windstille, als durch und durch aufgewühlte, von Rubati, von Affekten, gestoßenen Rufen und gezogenen Klagen durchzogene Klangrede. Gelebte Rede, wirkendes Wort! Das Wort trägt und gestaltet alles. Die Musik ist nichts anderes als eine ins Unermessliche verstärkte Rede. Es geht nicht um „Kunstgenuss“ des Bildungsbürgertums, das immer noch weiß oder zu wissen glaubt, was „der Deutsche an seiner Matthäuspassion hat“, um Norbert Elias verkürzt wiederzugeben. Nein, die Aufführung strebt den sinnlichen, leibhaftigen theatralischen Nachvollzug eines Geschehens an, das den ganzen Menschen verhandelt, behandelt, durchwalkt, aufstört, annagelt, zerlegt und heilend wieder zusammensetzt.

Das getragen Schreitende, das gravitätisch Gemessene, das mir noch aus den eigenen Aufführungen in den Ohren hängt, ist fast völlig verschwunden. Die tiefe Frömmigkeit, welche üblicherweise in die Choräle, die „schimmernden Barockjuwelen“, hineingelegt wurde, ist restlos geschwunden. Ein Beispiel vom Beginn (Choral Nr.3):

Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen,
Daß man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?

Selbst innerhalb von 8 Takten stößt, bedrängt, zieht Guttenberg den Chor und setzt dabei jedes einzelne Wort, jeden einzelnen Satz in ein neues Licht. Der Chor „kriegt sich nicht ein“ – er ist nach dem klar erkennbaren Willen des Dirigenten vollkommen aus dem Häuschen. Es fehlt dem Chor – das Selbstverständliche, es fehlt das Schwelgerische, es fehlt der bunte gewebte Klangteppich der dekorativen Bach-Aufführungen, die auch heute noch immer wieder schimmernd erklingen. Alles wird neu errungen, alles wird neu aus der Taufe gehoben.

Rasche, häufige Tempi-Wechsel, klares Herausarbeiten der Zentralität des Wortes, das sich des Klanges bedient. So hörten wir das am Gründonnerstag.

Daneben gab es aber doch einige herausgehobene Ruhe- und Haltepunkte. Deren erster war die Szene der wechselseitigen Erkenntnis zwischen Judas und Jesus im Rezitativ Nr. 11.

Bin ich’s Rabbi?
Er sprach zu ihm:
Du sagest’s.

Unterlegt wird der kleine Dialog des Einverständnisses durch einige eher triviale Harmonien in g-Moll, ausgeführt durch das Continuo mit Streichern. Hier staunte ich: Das Tempo der Achtelakkorde wurde durch den herrischen Stab des Dirigenten ins Zeitlupenhafte, ins fast Elysische gedehnt. Ich meinte eine Verlangsamung sondergleichen zu hören. Eine der langsamsten Stellen des ganzen Abends! Es war die vollkommene Harmonie, hinsinkend aus dem verminderten Akkord auf der Dominante hinab ins ruhige, smaragdgrün leuchtende g-Moll. Grundstufe g-Moll! Tiefes, tiefes G im Kontrabass. Ein tiefes tiefes Geh! Geh! Geh! war da herauszuhören. Eine klare Ausdeutung, die Guttenberg hier liefert: Zwischen Judas und Jesus bestand laut dieser Aufführung ein tiefes, inniges, zum Frieden führendes Einverständnis: Geh! Geh! Geh!  Judas ist gewissermaßen ein verlässlicher Mitspieler in diesem Drama. Er tut, was ihm gesagt wird, er sucht seine Rolle und führt sie dann „untadelig“ aus. Ein Verräter, der die Wahrheit des Verrats vorher offen verkündet. Meeresstille – , ein letztes Atemholen, eine untrügliche Ruhe vor dem Sturm!

Judas erscheint hier überhaupt in einem neuen Licht. Während Petrus, die Jünger, Pilatus und das Volk mehr oder minder ratlos und haltlos getrieben, vom Dirigenten gepeitscht und oft auch unberechenbar agieren, ziehen Judas und Jesus ihre Handlungslinien als einzige ohne Schwanken und ohne Zweifel durch. Jesus und Judas sind die beiden Zuverlässigen unter all den Unzuverlässigen. Verlässlichkeit – wie man sie von einem Freund erwartet. Nicht zufällig ist Judas im gesamten Neuen Testament der einzige Jünger, den Jesus mit dem Ehrentitel Freund anredet (Rezitativ Nr. 26):

„Mein Freund, warum bist du kommen?“
Eine andere Lesart sagt:
„Mein Freund, darum bist du gekommen?“

Und noch eine zweite glatte, friedliche See zeichnete diese Aufführung. Es ist der Chor des römischen Hauptmannes und seines Volks (Nr. 63b):

Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.

Die tiefe Seelenruhe, der erlösende Friede im Glauben an den Menschensohn, der Gottes Sohn gewesen ist, trat mit überwältigender Kraft in den wenigen Tönen der ungläubigen, der außenstehenden Zeugen zutage. Diese Stelle war die zentrale Stelle dieser Aufführung. Sie war der entscheidende Schlusspunkt.

Alles andere, was noch danach kam, war schon Nachgesang, war Rückführung ins Hier und Jetzt, war tänzerischer Kehraus, bis hin zum beschwingten Menuett des Schlusschors (Nr. 68): „Wir setzen uns mit Tränen nieder.“

Nun, diese Tränen flossen reichlich herab, sie hatten eine befreiende, reinigende Wirkung. Sie waren schon sehr schön – sehr schön inszeniert. Sie standen im Herabfließen schon nicht mehr auf der Höhe des „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“

Die Chorgemeinschaft Neubeuern, der Tölzer Knabenchor, das Orchester der KlangVerwaltung, die Solisten Carolina Ullrich (Sopran), Olivia Vermeulen (Alt), Daniel Johannsen (Evangelist), Manuel König (Tenor), Falko Hönisch (Christus) hoben unter der Stabführung Enoch zu Guttenbergs die Matthäus-Passion – ein Werk, das ich zu kennen glaubte, zumal ich es seit Kindheitstagen mehrmals selbst mitgesungen und mitgespielt hatte – völlig neu aus der Taufe.

Fulgebat crucis mysterium – das unerschöpfliche Geheimnis des Kreuzes trat völlig neuartig hervor in der Berliner „Philharmonie“ – wörtlich übersetzt: Harmonie der beiden Freunde.  Zentralität des Wortes, Zentralität der Jesus-Judas-Beziehung sind in meinen Ohren die tragenden Einsichten dieser erschütternden Darbietung gewesen. Und dafür danke ich am heutigen Tag der Grabesruhe allen, die dabei geholfen haben.  

Bild: Ein Blick auf den Altar und in die Apsis der Klosterkirche zu Zinna (am Teltower Fläming-Skate-Rundkurs). Das Altarbild dürfte etwa auf 1703 zu datieren sein, also in etwa auf die Entstehungszeit der Matthäus-Passion. Die Ausmalung der Apsis geht etwa auf 1900 zurück. Die Kirche selbst gilt als eine der besterhaltenen Zisterzienserkirchen im nördlichen Deutschand. Aufnahme vom 30.03.2014

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Doch es geht auch anders: Die Lehre des spannenlangen Hansels

 Gute Grundschulen, Integration durch Kultur?, Kinder, Musik, Singen  Kommentare deaktiviert für Doch es geht auch anders: Die Lehre des spannenlangen Hansels
Mrz 112014
 

Weit ab von den Diktaten des heutigen Jugend- und Schlankheitswahns verbrachte der Kreuzberger Blogger seine Kindheit im Kreise der Geschwister und Nachbarskinder. In Grundschule und Kindergarten wurde damals fleißig von unvollkommenen, gleichwohl liebenswerten Menschen gesungen, etwa vom spannenlangen Hansel, von der nudeldicken Dirn. Vom dummen Ivan und von der faulen Liese. Vom hässlichen Aschenputtel und vom unwirschen Rumpelstilzchen, vom dummen Hans im Glück und vom fleißigen Katerlieschen.

Das war gelebte Inklusion!

Wir alle waren „spannenlange Hanseln“, wir alle waren „nudeldicke Dirnen“. Was war so schlimm daran? Dick und rund, na und? WAS ist SCHLIMM daran?

Nebenbei: Wir lernten mit derartigen lustigen, auch wohl lächerlichen Liedern die Willkommenskultur von Vielfalt (ACCEPTING DIVERSITY, wie man heute hochtrabend auf Denglisch sagt), wir lernten, dass nicht alle gleich sind und auch nicht gleich sein müssen. Wir lernten uns bewegen. Wir lernten singen. Wir lernten Rhythmus nicht über die zugestöpselten Ohren eines I-pod-Anhängsels, sondern durch Singen, Zählen, Tanzen, Spielen.

Wir lernten einwandfreies Deutsch, wir lernten Lachen, wir lernten Schütteln, Rütteln, Hupfen.

Verdient hat an uns singenden, lachenden, tanzenden Kindern niemand. Im Gegenteil, das Singen von Liedern, das Tanzen von Tänzen war kostenlos. Es gab keine Konferenzen und Kongresse zum Thema ACCEPTING DIVERSITY. Das Thema wurde gelebt, gesungen, erzählt und vorgetanzt.

WAS WAR SCHLIMM DARAN?

Spannenlanger Hansel – Kinderlieder und Singspiele | Labbé Verlag.

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Here come YOUR music makers

 Freude, Geige, Heiligkeit, Liebe, Musik, Religionen, Singen, Unverhoffte Begegnung  Kommentare deaktiviert für Here come YOUR music makers
Nov 192013
 

2013 11 16 Te deum

So, jetzt hört uns mal alle genau zu: „We are the music makers, the dreamers of dreams!“

Das war das TE Deum Anton Bruckners im Berliner Dom am 16. November 2013. Und irgendwo gab es IHN doch, auch wenn man IHN nicht immer hörte und den Kopf drehen musste, um IHN zu sehen. Den kleinen Mann an der Orgel, weit droben! Ja, vielleicht ist ER so etwas wie der kleine Mann auf der Orgelempore. ER hört, was wir unten treiben, ER hört uns, und wir drehen den Kopf und fragen: Hörst DU uns überhaupt?

Oder sind wir lärmende Musikmacher, traurige Traumtänzer, Verzichtbare? –

wandering by lone sea-breakers,
And sitting by desolate streams;
World-losers and world-forsakers,
On whom the pale moon gleams.

Den überströmendsten Traurigkeitsgenuss hat Edward Elgar in dieses Gedicht von Arthur O’Shaughnessy hineingewebt. Noch heute, während ich dies schreibe, höre ich die Klänge in mir weiterklingen. Der Chor erfüllte mich mit dem Anhauch des Unnennbaren.

Und DU? Hast DU uns gehört? Hat es Sinn, sich zu DIR nach oben zu wenden? DU – bist DU der Sense-Maker für uns Music-Makers, the great Listener?

Das Bild zeigt vorne: Die Junge Philharmonie Kreuzberg. Mitten drin der Mann mit umgewandtem Kopf, das ist der hier Schreibende, fotografiert von seiner Schwester.

Hinten: Die studiosi cantandi Berlin, alle geleitet von Norbert Ochmann

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Für ein Europa der Musik und des Tanzes!

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Aug 262013
 
2013-08-11 17.07.12
Ein herrlicher Sonntag war das gestern! Um 12 Uhr begann das Konzert in der Kreuzberger Oranienstraße mit den 18  jungen Geigerinnen und Geigern im Alter von 2 bis 11 Jahren! Alle hängen sich rein, jedes Kind ist stolz auf seine erste A-Saite, die es streichen darf, alle werden mit Beifall belohnt. Die Namen der Kinder klingen selber wie Musik: Valentin, Carla, Sofie, Marta, Narumi, Romy, Ben, Alesso, Uma, Sari, Anna, Mischa-Ribal, Ivan, Mark, Charlotte, Mischa, Ljowa usw … sie kommen aus Europa und aus Asien, die Eltern stammen aus 12 verschiedenen Ländern. Ich selbst darf jedes Kind und jedes Stück ansagen, nenne die Namen, flechte kleine Geschichten um die Kinder und Stücke… Große Freude, so wächst Europa zusammen – in der Oranienstraße in Kreuzberg. Beethovens „Das Frettchen“ erklingt neben Vivaldis G-Dur-Konzert, Janschinows Spinnrad behauptet sich neben Cuis Perpetuum mobile, auf Allemande und Giga aus Bachs Partita d-Moll folgt der Csárdás von Monti, gekrönt von Scott Joplins Ragtime!
So gedeihen Kinder! So wächst Europa zusammen!
Bild: It takes two to tango! Tangotanzen in Kreuzberg. Park am Gleisdreieck am 11.08.2013
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Sammeln wir andere Schätze!

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Aug 182013
 

2013-06-22 11.25.18

Der arme Kreuzberger Spielmann spielte heute bei der Taufe des kleinen Robert in der evangelischen Johanneskirche in Berlin-Lichterfelde an seiner Geige mit der großartigen russ.-orthodoxen  Sängerin Irina Potapenko das röm.-kath. Agnus Dei von Georges Bizet und das Ave Maria von Caccini und sang laut, fröhlich  und aus Leibeskräften aus dem ev. Gesangbuch die herrlichen Lieder eines Paul Gerhardt von der Empore herab. Ein neuer Schmetterling wird ans Gewand des Christentums geheftet. Möge er wachsen, seinen Weg finden und gedeihen! So wächst und klingt Europa allmählich zusammen! Was liegt schon am Geld! Was liegt denn am Geld und am Gold! Sammelt euch andere Schätze!

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„… hier wird niemand überwältigt“: Beethovens Streichquartett op. 18, Nr. 1

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Apr 152013
 

Im Anschluss an den gestrigen Beitrag entspann sich folgendes Gespräch mit einem Leser:

„Also können Sie, wenn ich Sie recht verstanden habe,  mit dem menschheitsumgreifenden Pathos eines Beethoven, eines Friedrich Schiller nichts anfangen?“

„In der Tat bleibt ein gewisser Grundverdacht bestehen, sobald ich den Schlusschor aus Beethovens 9. Symphonie höre. Nicht umsonst hat ja die Europäische Union genau diese Melodie als ihre Hymne gewählt. Eine Hymne ohne Text! Etwas Herrisches, Hochfahrendes haftet der ganzen 9. Symphonie in d-moll an, insofern vergleichbar der von oben herab verfügten Einführung der Gemeinschaftswährung. Wer alle liebt, liebt im Grunde keinen, vor allem dann, wenn er diesen Glauben an die Liebe zu allen mit größtem Aufwand bekennt.  Niemand kann heute in Worten angeben, was der Sinn der Europäischen Union ist.“

„Sind Sie ein Euro-Skeptiker? Also verwerfen Sie Beethoven?“

„Nein, ganz im Gegenteil! Ich liebe ihn sehr, so wie vielleicht nur 5 oder 6 andere Komponisten. Ich empfinde großes Mitleiden mit ihm, wenn ich die 9. Symphonie höre. Allerdings ziehe ich derzeit bei weitem einige seiner Streichquartette den Symphonien vor…“

„Welche Streichquartette meinen Sie?“

„Ich meine insbesondere die Streichquartette op. 18, hier wiederum das 1. Quartett in F-dur, und in diesem wiederum den 2. Satz, das Adagio affettuoso ed appassionato.“

Wir hören eine Klangprobe in der Darbietung durch das Artemis Quartett, dem wir damals bereits in Fleisch und Blut im Kammermusiksaal der Philharmonie lauschen durften, worüber wir am 28.01.2009 berichteten:

Ludwig van Beethoven: Sämtliche Streichquartette (Artemis Quartett) (7 CDs) – jpc.

Vierklang. Artemis. Anfang. Eine Suche

„Hören Sie nicht den ruhig und unablässig pulsierenden, den gleichschwebenden d-moll-Herzschlag in den Begleitstimmen? Hören Sie, wie sich hier in Violine I ab Takt 2 aus dem pianissimo heraus ein Gesang an die Eine erhebt, das Beschwören der einzigen und Einen, der das „edelste Herz“ sich verschreibt? Alle vier Stimmen treten frei zusammen, alle Stimmen sind durchhörbar, hier wird niemand überwältigt und erschlagen!“

„Also hören Sie in diesem Quartettsatz die Stimme des freien Menschen, der in voller Freiheit liebt und zugrunde geht?“

„So ist es. Hier gelangt der Einzelne zu sich und zu seinem Anrennen gegen die Begrenztheit. Hier findet er zu dem einen, zu der anderen im — Tode. Man könnte an die Zeilen Romeos für die gestorbene Julia denken:

O my love! my wife!
Death, that hath suck’d the honey of thy breath;
Hath no power yet upon thy beauty:
Thou art not conquer’d; beauty’s ensign yet
Is crimson in thy lips and in thy cheeks,
And death’s pale flag is not advanced there.

„Shakespeares Gruftszene frei zitiert! Sie beeindrucken mich! Was würde wohl Beethoven zu Ihrer Deutung sagen?“

„Ich bin zuversichtlich, dass er ihr zustimmen würde. Er würde sich möglicherweise verstanden fühlen – sowohl in meinem tiefen Grundvorbehalt gegenüber der eigentlich menschen-unmöglichen 9. Symphonie wie auch im Lobpreis seiner frühen Streichquartette opus 18.“

„Was raten Sie angesichts der Krise?“

„Hören wir die freien Stimmen! Mehr Streichquartette opus 18 – weniger 9. Symphonie!“

 Posted by at 22:35