Feb 132016
 

20160213_080008[1]

Wieder und wieder stoße ich auf ungläubiges Staunen, wenn ich vorschlage, man sollte die alten maßgeblichen Schriften der europäischen Geschichte in den Originalsprachen studieren, ggf. auch singen und nicht bloß stumm in Übersetzungen lesen. „Das Neue Testament auf Griechisch singen? Wie schräg ist dieser Vorschlag denn!“

Nun, ich vertrete den Standpunkt, daß man Albert Einsteins Weg zur Relativitätstheorie, ja die Relativitätstheorie selbst umfassend nur erklären und verstehen kann, wenn man Albert Einsteins Schriften im Original, also in deutscher Sprache, d.h. in der Kindheits-, Mutter- und Arbeitssprache Albert Einsteins liest. Ein gleiches gilt für die Quantenmechanik Werner Heisenbergs, bei der ebenfalls sehr gute Deutschkenntnisse zum Verständnis unerlässlich sind.

Goethes West-östlichen Divan wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man ihn im Original, also in deutscher Sprache liest, und auch den Faust und auch seine Italienische Reise sollte man ruhig in deutscher Sprache lesen.

Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels Phänomenologie des Geistes, das Kapital Karl Marx‘, die Psychoanalyse Sigmund Freuds, Grimmelshausens Simplicissimus teutsch, die deutschen Predigten des Meisters Eckhart, Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen und all die anderen überragend wirkungsreichen Schriften der europäischen Geistesgeschichte, ja der Weltgeschichte wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man sie im Original, also in deutscher Sprache liest. Um überhaupt europäische Geschichte verstehen und lehren zu können, muss man die sieben oder acht großen, wirkungsmächtigen Europasprachen lernen und kennen, zu denen nun einmal neben und hinter dem Griechischen und dem Lateinisch-Romanischen auch das Deutsche gehört.

Ohne gute bis sehr gute Deutschkenntnisse wird man Albert Einstein nicht verstehen. Und dasselbe gilt eben auch für die fortzeugenden Urschriften des Christentums, die samt und sonders in griechischer Sprache verfasst worden sind, so wie die Bibel der Juden in hebräischer – und zu kleinen Teilen auch in der eng verwandten aramäischen Sprache – verfasst worden ist.

Alle Autoren unseres vielzitierten Neuen Testaments, aber auch noch die maßgeblichen östlichen UND westlichen Kirchenväter des 2. Jahrhunderts wie etwa Clemens von Rom (sic!) und Hippolytos von Rom (!) dachten und schrieben nachweislich in griechischer (nicht in lateinischer!) Sprache. Das Griechische und nur das Griechische ist die entscheidende Sprache, in der sich im 1. bis 3. Jahrhundert alle noch heute geglaubten Grundlagen der verschiedenen christlichen Konfessionen ausbildeten.

Das Christentum lässt sich also in diesem angedeuteten historischen Sinne cum grano salis als „West-östliche griechische Religion“ bezeichnen. Ohne Griechisch kein Christentum! Alle bis heute grundlegenden Bekenntnisschriften des Christentums sind griechisch verfasst.

Wer also beispielsweise den ersten Korintherbrief des Apostels Paulus mit dem Hohenlied der Liebe, das Johannesevangelium oder auch das noch heute im Gottesdienst verwendete Nikänische Glaubensbekenntnis umfassend verstehen, auslegen und in moderne Muttersprachen übersetzen will, muss sich mit der griechischen Urfassung kritisch und auch textkritisch auseinandersetzen.

Wer dies verweigert und sagt, dies – also die Befassung mit den griechischen Quellen oder mit der griechischen Sprache – sei nicht mehr nötig, da dies die „Kirchen es im Laufe der Jahrhunderte schon alles richtig gemacht“ hätten, der leistet Verzicht auf einen großen Teil der Bedeutungsfülle, die jenen uralten Glaubenszeugen innewohnt. Er beschneidet sich und seine Freiheit unnötig!

„Aber auf die heutigen Übersetzungen der Bibel ist doch wenigstens Verlaß, oder?“, so fragte den Gräzisten ein Sangesbruder einmal.

Antwort des Gräzisten: „Die Übersetzer haben das Neue Testament verschieden übersetzt. Es kömmt aber heute drauf an, die verschiedenen, teilweise einander glatt widersprechenden Übersetzungen richtig zu interpretieren!“

Sangesbruder: „Du redest und singst in Rätseln. Nenne mir ein Beispiel!“

Der Gräzist: Gern, hier kommt es: καὶ καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν (sprich: kai ho logos ähn pros ton theón). Johannesevangelium Kapitel 1, Vers 1.

Die übliche deutsche Übersetzung lautet: „und das Wort war bei Gott“. Eine mögliche, nicht völlig falsche Übersetzung!

Richtiger wäre aus dem gut bezeugten griechischen, eindeutig belegten und textkritisch gesicherten Wortlaut jedoch: „zu Gott hin“, oder auch „gegen Gott hin“, „angesichts Gottes“ und nicht „bei Gott“.

Denn die griechische Präposition πρὸς mit Akkusativ bezeichnet in all den Jahrhunderten des alten griechischen Sprachgebrauchs – und ohne Zweifel auch im Neuen Testament – keine räumliche statische Nähe („bei“), sondern vielmehr eine gerichtete Bewegtheit zu etwas hin, keine Identität, sondern dynamische Spannung, kein Zusammen, sondern ein Auseinander und ein Zueinander. Eine pulsierende kosmische Bewegung! Gravitationswellen! Saiten, „Strings“, wie die Astrophysiker heute sagen würden, die das gesamte Universum durchziehen! Johannes verfasste lange vor den Astrophysikern der heutigen Zeit eine bildliche String-Theorie des Kosmos.

„Das Wort war zu Gott“, darin steckt eine geradezu Heisenbergsche Unschärferelation, ein energetisches Kraftfeld, eine komplexe Gleichung mit Unbekannten, eine geradezu einsteinisch anmutende Formel, bei der nicht klar ist, ob es sich um Materie, Energie, Gravitation, um dunkle Masse oder um Licht handelt, oder ob alles sich in alles hinein verwandelt.

Beleg:
„Die Präpositionen“, in: Eduard Bornemann, Oberstudienrat i.R. und Honorarprofessor in Frankfurt Main: Griechische Grammatik. Unter Mitwirkung von Ernst Risch, Ordinarius für indogermanische Sprachwissenschaft in Zürich. Verlag Moritz Diesterweg, 2. Aufl., Frankfurt am Main u.a. 1978, S. 197-208, hier insbesondere zu πρὸς cum accusativo S. 204-205

Bild:
Morgenröte, das Heraufdämmern eines neuen Tages über dem Gasometer! Das Heute, das Itzt, das Nu, das Hier!

 Posted by at 12:35

Leben wir alle in einer und nur einer Welt? Oder gibt es mehrere Welten?

 Deutschstunde, Einstein, Katzen, Philosophie  Kommentare deaktiviert für Leben wir alle in einer und nur einer Welt? Oder gibt es mehrere Welten?
Feb 012016
 

20160131_135031[1]

Einstein, der stolze, frohe, geschmeidige, prachtvoll gesunde, munter krällende Kater des Wissenschaftsparks Albert Einstein, den die Wissenschaftler dort offenbar kennen und schätzen, näherte sich uns gestern zutraulich, selbstbewußt, neugierig. Was mag er von der Arbeit des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) verstehen, das mitten in seinem Revier gelegen ist? Was bekam er vom Endspiel um die Handball-Europameisterschaft mit? Muss ihm die Relativitätstheorie Albert Einsteins ein Buch mit sieben Siegeln bleiben?

Recht wenig versteht er davon, so vermuten wir. Vieles, das meiste an Erkenntnissen, an kognitiven Leistungen aus unserer Menschenwelt wird ihm unverständlich bleiben. Was er indes durchaus verspürt, was er zweifellos teilt mit uns, das sind urtümliche Gefühle und Gemütszustände wie etwa Lust und Schmerz, Zutrauen und Neugierde, Anhänglichkeit und Abneigung, möglicherweise auch Gefühle wie Stolz, auch Besitzansprüche in seinem Revier, möglicherweise Behaglichkeit. Auch eine gewisse Objektkonstanz (wie das Sigmund Freud nennt), dürfen wir ihm zusprechen, denn er kennt Orte und Personen, die gut und günstig für ihn sind. Er hat seine Loge!

Über ein Ichbewußtsein in unserem menschlichen Sinne dürften andere Säugetiere wie etwa Katzen nicht verfügen; aber dies ist nicht sicher zu entscheiden; manche Biologen behaupten nachweisen zu können, dass Primaten, also Schimpansen etwa, ein echtes Ich-Bewußtsein ausgeprägt hätten.

Leben wir alle in einer Welt, alle Menschen, alle Tiere?

Zweifellos ist eine Verständigung zwischen Mensch und Tier möglich. Insofern teilen wir mit Tieren eine gewisse Welterfahrung. Menschen und Tiere teilen einander Gefühle und Wünsche mit. Sie kommunizieren miteinander.
Der Kater wird angelockt durch Zischen und Schnalzen. Er erwidert das Streicheln und das Zureden durch Zuneigung und Anschmiegsamkeit. Einstein zeigte uns gestern, was er alles kann! Er richtete sich stolz auf und krällerte hingebungsvoll die Baumrinde.

Ich sage – Stolz. Denn „Stolz“ mit bezug auf eine Katze scheint mir hier mehr zu sein als nur eine Projektion eigener Gefühle des Menschen auf das Tier. Katzen zeigen anderen, was sie sie können, sie behaupten gegenüber anderen ihr Revier, ihren Besitz. Und das ist zweifellos genau jene Haltung, die wir Menschen bei uns selbst ebenfalls als Stolz bezeichnen würden.

Wir begegneten einander in der physikalischen Welt, eben auf dem Gelände des Wissenschaftsparks Albert Einstein.

Aber Kater Einstein lebt auch in seiner eigenen Welt, von der wir nur unzulängliche Kunde haben. So wie wir auch in unserer eigenen Welt, der Menschenwelt eben, leben. Unsere Welten durchdringen sich, sind aber auch teilweise voneinander verschieden.

Immanuel Kant sagt: Der Begriff Welt ist bloß eine regulative Idee. Er übersteigt die Grenzen aller sinnlichen Erfahrung. Die Vorstellung, es gäbe eine Welt und nur eine Welt, ist also in höchstem Maße klärungsbedürftig!

Doch darüber mehr morgen!

Ein letzte Frage betrifft das Wort „krällen“. Eine mitwandernde Fränkin in unserer kleinen Wandergruppe verwendete diesen Ausdruck. Krällen, krällern – ein merkwürdiges Wort! Aus welcher Welt stammt es?

Es ist immerhin in Grimms Wörterbuch belegt, gerade für Franken; lest selbst einen Auszug aus dem Eintrag „krällen“:

3) heimisch ist es im schwäb., henneb. Fromm. 2, 413, mähr. 5, 461, erzgeb., sächs. (neben krallen), in Nürnberg kröllen Grübel 2, 88, in Ansbach erweitert krällern. mit dehnung oberlaus. krählen Anton 9, 11, schles. krêlen, s. über diese dehnung unter kralle I, 1, b. aber fremd ist es dem schweiz., bair. östr., wo kräueln gilt. auch dem nd. scheint es fremd.

http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GK12073#XGK12073

Foto: Der Einstein-Turm im Wissenschaftspark Albert Einstein, Aufnahme von gestern

 Posted by at 19:14
Jan 152016
 

Wir warn all verdorben
per nostra crimina.

So lautet es lateinisch-deutsch in der dritten, erstmals 1545 bezeugten Strophe des älteren geistlichen Liedes In dulci jubilo, dessen Urfassung und Melodie wohl auf das 15. Jahrhundert zurückgehen. Das neue Gotteslob-Gesangbuch der deutschsprachigen Katholiken bringt das hybrid aus lateinischen und deutschen Teilen geformte Lied als Nummer 253.

Wir waren „verdorben“, corrupti eravamus, wir, das Volk, die Gesellschaft, die „Population“ waren wegen unserer Verbrechen, per nostra crimina, ein heilloses, schuldbeladenes, unrettbar böses Volk. So etwa dürfen wir in heutiger Sprache den Sinn des Weihnachtsliedes wiedergeben.

Gibt es eine Kollektivschuld eines ganzen Volkes? Die heutige deutsche Gesellschaft vertritt in der politischen Elite und den führenden Leitmedien diese Meinung; „dafür, für das und das und das, was das Deutsche Reich in den Jahren 1933-1945 angestellt hat, trägt das deutsche Volk auf ewige Zeiten Schuld und Verantwortung.“ Der Bundestag hat es letztes Jahr in einer Resolution so geschrieben, die junge Generation der Deutschen wird seit etwa 1980 in einem intensiven Schuldgefühl wegen der Verbrechen der Großväter erzogen; die Jahre 1933-1945 werden heute als definierende Momente der deutschen Geschichte gesehen, neben denen nichts anderes Bestand hat. Von Hermann dem Cherusker bis zu den heutigen Tagen gilt die Geschichte der Deutschen als heillos verdorben, Deutschland beeilt sich, seine Eigenständigkeit als Verfassungsstaat endlich aufzugeben, um sich in einen größeren europäischen einheitlichen Volkskörper einzugliedern. Dem dient die schrankenlose Öffnung der Landesgrenzen, die bereitwillige, bedingungslose, unterschiedslose Aufnahme von Hunderttausenden junger kräftiger Männer aus fernen Ländern, die nichts weniger im Sinn haben als Deutsche zu werden.

Von daher erklären sich auch die hartnäckigen Versuche, den deutschen Nationalstaat endlich abzuschaffen, ihn als postklassischen, postnationalen Staat einzuschmelzen in die verherrlichte Währungsgemeinschaft; die Aufgabe der D-Mark wird als sinnfälliger Beweis für die Aufgabe der deutschen Nation gesehen.

„…die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.“ Ein erstaunliches Wort, das Goethe da am 20.07.1827 an Carlyle schreibt! In der Tat, die Sprache ist es, die eine Art geistiges Band der Nation stiftet, so wie die Währung – die „Münzsorte“ – eine wirtschaftliche Einheit der Nation verbürgt und symbolisiert.

„Der Euro darf nicht scheitern! Denn scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ Dieser tiefe, irrationale Glaube an den seligmachenden Euro, an die Währung, die die Deutschen endlich von ihrem Deutschsein erlösen soll, findet sich nur in Deutschland – in keinem anderen europäischen Land – als offizielle Politik, – scheint er doch zu verbürgen, dass die Deutschen endlich nicht mehr Deutsche, sondern glühende Europäer sein wollen, da sie doch die eigene Währung sowie zunehmend auch einen Teil der eigenen Sprache auf dem Altar Europas geopfert haben.

Kein Zweifel: Der Begriff der deutschen Kollektivschuld ist heute in Deutschland mehr denn je gelebte und geglaubte Realität; jeder Verweis darauf, dass auch andere Völker etwas Böses getan haben, wird abgebügelt und abgeschmettert mit dem Hinweis, das gehöre sich nicht, man dürfe die unvergleichliche deutsche Kollektivschuld auf keinen Fall in einen Kausalzusammenhang einbetten oder gar relativieren.

Die Theologie des alten Israel kannte übrigens durchaus den Begriff der Kollektivschuld. „Ein verdorbenes Geschlecht“, ein „abtrünniges Volk“, eine „wilde Rotte“, mit dessen „Messer man nichts zu tun haben will“. Es gibt Hunderte derartiger Anklagen der Propheten Israels gegen das eigene Volk oder auch gegen einen der 12 Stämme Jakobs. Jakob selbst sagt sich ausdrücklich in seiner Abschiedsrede, dem berühmten „Jakobssegen“ – von zwei seiner Söhne los – von Simon und Levi. Bekanntlich hatten Simon und Levi den ersten Genozid der Bibel an einer anderen Kultgemeinschaft verübt – ein strafwürdiges Verbrechen. In der Tat verschwindet nach und nach der Stamm Simon aus dem alten Israel, während der Stamm Levi von allem Streben nach irdischer Herrlichkeit abgesondert wird, da seine Mitglieder fortan zu Trägern des Gotteswortes werden – zu den „Leviten“, die eben dem weniger sündhaft gewesenen Teil des Volkes Israel „die Leviten lesen“ sollen.

Das Weihnachtslied „In dulci jubilo“ räumt nun gewissermaßen mit dem antiken Begriff der Kollektivschuld, der Erbschuld auf. Ja, es war so, ja wir WAREN alle böse. Es war so – aber es ist nicht mehr so. Es gibt keine ewige Schuld, jeder Mensch fängt wieder von vorne an, Schuld wird nicht weitergegeben von Vätern auf Söhne.

Das Weihnachtslied verkündet sehr modern die Endlichkeit der Schuld. Es gibt keine absolute Schuld. Es gibt kein absolutes Böses, das in einem Volk nistet.

Für das vorherrschende deutsche Nationalgefühl meine ich hingegen folgende Sätze formulieren zu dürfen: Der Bundestag und das deutsche Feuilleton verkünden die unermessliche Unendlichkeit der kollektiven Schuld. Es gibt absolute Schuld. Es gibt das absolute Böse, das in einem Volk nistet. Und dieses Volk sind wir, die Deutschen.

Das ist der Subtext, den wir immer wieder und wieder hören und aufs Butterbrot geschmiert bekommen.

Die deutsche Nationalhymne müsste folgenden Satz enthalten:

Wir sind all verdorben
per nostra crimina.

 Posted by at 16:38

Doch immer behalten die Quellen das Wort

 Deutschstunde, Johann Gottlieb Fichte, Selbsthaß, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Doch immer behalten die Quellen das Wort
Jan 132016
 

20160110_105437[1]

Solo e pensoso i più deserti campi
vo misurando a passi tardi e lenti …

Gute, erfreuliche Wiederbegegnungen gestrigen Tages mit einigen Autoren und geistigen Vätern meiner Jugend im herrlichen Päsenz-Lesesaal der Berliner Staatsbibliothek am Potsdamer Platz! In ihm wurde ja auch von Wim Wenders ein Teil der Szenen im „Himmel über Berlin“ gedreht!

Beispiel einer von vielen erfreulichen Wiederbegegnungen: der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. In München hörte ich noch einige Vorlesungen von Reinhard Lauth, dem 2007 verstorbenen Herausgeber der großen Fichte-Gesamtausgabe. Ich erinnere mich an ihn als eine tiefe, redliche, sanfte mit dem unerbittlichen Ethos des Abseits ausgestattete Lehrerpersönlichkeit.

In Berlin wiederum griff Michael Theunissen, zu früh verstorben am 18. April 2015, damals affirmativ und doch eigenwillig auf Fichtes divulgativ angelegte „Bestimmung des Menschen“ zurück. Der Henry-Ford-Bau wurde damals Treffpunkt und Quellpunkt zahlreicher Forscher- und Akademiker-Karrieren. Unvergeßlich bleiben mir Theunissens hartnäckiges Bemühen, einen Begriff von der Bestimmung des Menschen unter den Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts herauszuschälen, – und sein leidenschaftliches Eintreten gegen den „Präsentismus“, also gegen das töricht-überhebliche Bestreben der heutigen Bildung, sich abschätzig und unbelehrbar über alles hinwegzusetzen, was drei Jahrtausende an Geistesgeschichte über uns und zu uns gesagt haben. Im Rendsch Nameh heißt es treffend:

Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag‘ von Tag zu Tage leben.

Heute kennt fast niemand mehr Johann Gottlieb Fichte. Die Ampeln stehen für ihn leider zur Zeit auf der Fichte-Straße komplett auf Rot.

Zitiert wird Fichte außerhalb der Philosophenkreise fast nur noch abschätzig, etwa wegen seiner „Reden an die deutsche Nation“. Immerhin: BBBike, die trefffliche Radfahrer-Navigation, führt mich immer wieder durch die Fichtestraße, wenn ich ins dunkle Friedrichshain hinüber ans andere Ufer des Landwehrkanals wechsle.

Die ignorante Verdammung Fichtes, wie man sie beispielsweise kürzlich in der Süddeutschen Zeitung aus der Feder Michael Bittners lesen konnte, führt in die Irre.

Alles wird da mit triefender bräunlicher Soße übergossen, von Luther führt dann allzuschnell ein gerader Weg über Fichte, Arndt und Jahn nach Trostenez, Flossenbürg und Kephallonia! Furchtbar, dieses Wüten einer unbelehrten und unbelehrbaren Generation junger Deutscher, denen unter dem Bann einer reifizierten Großschuld, der Inkarnation des absolut Bösen, der Selbsthass wirklich von der Kita an eingeimpft ward!

Dabei gelang es Fichte hier in Berlin, im Abseits seiner privat finanzierten und publizierten Vorlesungen, einen im Geist, nicht in der Macht, nicht im Blut, nicht im imperialen Streben, sondern in der sittlichen Bestimmung der Nation begründeten Begriff der Deutschen Nation herauszuarbeiten – selbstverständlich in schroffer Entgegensetzung zum imperialen Machtgestus Napoleons, zum statuarisch-statischen Reichsbegriff des antiken Rom.

Dass all diese Überlegungen so völlig verschwunden sind, mag mit ein Grund dafür sein, weshalb die deutsche Gesellschaft gerade in diesen Tagen ein so klägliches, streitsüchtiges, so zänkisches, so flaches und plattes Bild abgibt: Abbild einer zutiefst verunsicherten, ihrer selbst ungewissen, das eigene Gedächtnis verlierenden Nation.

Bild:
Triefende braune Soße an der Fichtestraße in Kreuzberg, Aufnahme von gestern

 Posted by at 23:48

Verschollenes. Spuren im Schnee. Auf Flügeln des Gesanges

 Deutschstunde, Europäische Union, Gedächtniskultur, Leitkulturen, Schöneberg, Singen, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Verschollenes. Spuren im Schnee. Auf Flügeln des Gesanges
Jan 062016
 

20160106_105119[1]

Und wieder erwachten wir, und wieder hatte der Schnee sein weißes Gewand über Feld und Flur gelegt, und wieder dreht sich das lustige Anemometer, die effizienteste aller Wetterfahnen, hoch droben am aufgelassenen Gasvorratsbehälter! Hier in Schöneberg!

Und wieder, wie damals!

Ja, damals, das waren noch Zeiten damals, 1930, da sangen die Menschen noch! Auf welchen reichen Schatz an Traditionen, Liedern und Klängen konnte der Regisseur Josef von Sternberg, damals, 1930, noch zurückgreifen! Welch reiche Schauspielkunst stand damals einem Emil Jannings noch zu Gebote! Erst war er der steife Pennäler-Quäler, der seine Schüler mit Shakespeare schurigelte und anspuckte, aber wie sehr lockerte sich seine Seele auf unter dem Anhauch des Gesanges! Hinter der Maske des starrren Professors kam eine weiche, verletzliche, liebende Seele zum Vorschein!

Und wie sehr veränderte Emil Jannings sich dann, als er getäuscht worden, wie sehr bewahrheitete sich der Schlager, den Christoph Hölty 1775 dichtete und Wolfgang Amadeus Mozart 1791 in Töne setzte:

Drum übe Treu und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab
und weiche keinen Fingerbreit
von Gottes Wegen ab.

Und als er kam zu sterben, der alte Herr Professor, das Professorchen, da sucht‘ er die Stätte seines Wirkens noch einmal auf, da trat er ein ohne anzuklopfen, doch seine Schüler waren alle fort. Da legt‘ er sich nieder auf das Katheder, von dem aus er seine Schüler geschurigelt hatte, da verkrallte sich seine Faust unlösbar in das alte Gebälk. So fand der Pedell ihn wenige Stunden danach. Er hörte schon nicht mehr.

Ja, wie nahe von hier ward diese Sängerin doch geboren! Hier, in Schöneberg geboren? Ja, hier in der Sedanstraße 65, der heutigen Leberstraße, etwa 300 Meter vom Ort dieses Fotos aus gemessen, ward sie geboren!

Ja, damals konnten sie noch singen, man verstand jedes Wort, jeden Ton, jeden Konsonanten! „… Ich bin von Kopf bis Fuß…“ — ja, wie sie das singend spricht und sprechend singt, so kann das heute keine deutsche Sängerin mehr. Ja, das ist die Kunst der Diseuse, die auf bestechend deutliche Art jedes Wort, jeden Ton aus der Taufe hebt! Ja, damals lernten die Buben und Mädchen richtig klares Deutsch!

„Also war alles besser damals?“

Nein, nein, nicht alles war besser als heute, im Berlin der späten 20er Jahre. Wir wollen hier die Weimarer Republik nicht verklären, aber sie war doch wesentlich besser als das, was ab 1933 bis 1945 folgte. Und vieles war in der Tat besser als heute, mindestens dies: Die Buben und Mädchen lernten damals – im Jahr 1930 – noch richtig klares Deutsch. Sie lernten noch singen, tanzen, turnen, Gedichte rezitieren, Schlager und Volkslieder singen!

Während das heutige offizielle Europa weitgehend in einem echolosen, gedächtnistoten Kulturraum existiert und seine Jugend in einem gränzenlosen Präsentismus zum Glauben an Google, zum Glauben an den Euro, zum Glauben an den European Song Contest (ESC), an die gränzenlose Weisheit der EZB und an Quantitative Easing (QE) erzieht, standen den europäischen Ländern 1930 noch einige Jahrhunderte Gesang, einige Jahrhunderte Sprachgeschichte zu Gebote.

Und in dem ganzen Film, den Josef von Sternberg 1929/1930 in den UFA-Studios drehte, singt es und klingt es wie in einem Märchenwald der deutschen Lieder. Uralte, heute verschollene, heute vergeßne Lieder und Klänge tönten aus der digital restaurierten Tonspur an unser Ohr.

Wir hörten Franz Schubert heraus:

Ich hört’ ein Bächlein rauschen
Wohl aus dem Felsenquell,
Hinab zum Thale rauschen
So frisch und wunderhell.

Und zum Fenster des Gymnasiums herein klang der glockenhelle zweistimmige Mädchenchor herein:

Klopp an de Kammerdör,
Fat an de Klink!
Vader meent, Moder meent,
Dat deit de Wind.

Was klingt da heraus, was klingt da herauf aus dem Film, den der Produzent Erich Pommer 1930 in den UFA-Studios drehen ließ?
Alte, längst vergeßne Tage! Alte Sprachen! Alte Kunst!

 Posted by at 12:43

Sie werden lachen: Es war Schlesisch – wie bei Dieter Hildebrandt

 Deutschstunde, Vergangenheitsbewältigung, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für Sie werden lachen: Es war Schlesisch – wie bei Dieter Hildebrandt
Dez 262015
 

„Ich kann ja kaum salber de Fingerla biegn“ – wie angekündigt, brachte ich zu Weihnachten unterm Tannenbaum das volkstümliche Wiegenlied zwei Mal als gelesenen Wortlaut zu Gehör und schickte die Quizfrage hinterdrein: Welche Sprache ist das? Beide Male erkannte ein Zuhörer die richtige Antwort: „Schlesisch! Das kenne ich von Dieter Hildebrandt!“ In der Tat: Kurz vor seinem Tode hatte Hildebrandt die Mundart seiner heimatlichen Kindheit wiederentdeckt und dichtete in ihr auch spartanisch verknappte Vierzeiler, zum Beispiel über die vier Jahreszeiten. Der Herbst ist sicherlich eines der Glanzlichter der Mundartenpoesie. Man kann ihn hier nachhören:

Woher konnte der Mann so gut Schlesisch? Nun, 1927 im niederschlesischen, heute polnischen Bunzlau, dem Geburtsort von Andreas Gryphius geboren, entdeckte er sehr früh in einer Spielschar der Hitlerjugend sein schauspielerisches Talent, das er später häufig zum lebhaftesten Missfallen der regierenden Parteien, insbesondere der CDU/CSU einsetzte. Die frühere Mitgliedschaft Hildebrandts in der NSDAP sorgte später für Meinungsstreit, verhinderte aber nicht den breitesten Erfolg Hildebrandts beim Massenpublikum. Ähnlich dem im selben Jahr im heute polnischen Danzig geborenen früheren Waffen-SS-Mitglied Günter Grass, bekannte Hildebrandt sich später mehrfach offen als Sympathisant der SPD. Weder das frühere NSDAP-Mitglied Hildebrandt noch der frühere Waffen-SS-Mann Grass erlitten irgendwelche Nachteile wegen ihrer Nazi-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland – wie Hunderttausende andere auch, die sich in den Jahren 1933-1945, ohne dazu gezwungen zu sein, den nationalsozialistischen Organisationen angeschlossen hatten. Im Gegenteil, sie wurden beide trotz ihrer braunen Vergangenheit hochdekoriert, und wer wären wir Nachgeborenen denn, über sie leichtfertig den Stab zu brechen? Sie haben zweifellos bereut, gelitten und vor Entdeckung und öffentlicher Bloßstellung gezittert.

Hildebrandt lebt in unseren Erinnerungen als unbequemer, unbeugsamer, menschenfreundlicher Kabarettist und tiefernster Spaßmacher fort. Nicht zuletzt hat er auch die Erinnerung an die reiche mundartliche Sprachlandschaft wachgehalten, die bis zur Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg blühte und gedieh.

„Sie lachen!“, rief Hildebrandt ins Publikum hinein, wenn es des unbeholfenen schlesischen, heute fast ausgestorbenen Dialekts spottete. Wir sehen: Es war ihm ernst.

Mein zaghafter Versuch, die internationale Weihnachtsgeselligkeit, bei der sich in diesem Jahr mir liebe und teure Mitmenschen aus Russland, Deutschland und der Türkei um einen Tannenbaum versammelt hatten, zum gemeinsamen Singen einiger Krippenlieder, die ich aus meiner eigenen Kindheit her kannte, zu bewegen, endete ebenfalls mit einem Desaster. Sie lachten mich aus. Und es waren nur Wiegenlieder, etwa „Joseph, lieber Joseph mein“. Und so verschwand ein Stück meiner Kindheit im Orkus.

 Posted by at 19:54

„Ich kann ja kaum salber de Fingerla biegn“

 Advent, Deutschstunde, Donna moderna, Familie, Sprachenvielfalt, Weihnacht  Kommentare deaktiviert für „Ich kann ja kaum salber de Fingerla biegn“
Dez 242015
 

20151224_103034[1]

Der gute alte San Nicola di Bari, der seine letzte Ruh in Apulien fand, also der gute alte Nikolaus aus dem asiatischen Myra, hat mir – in schlichtes, ökologisch verantwortbares Packpapier verpackt – über die vergangenen 24 Tage 24 Gschenkla aus dankbar Hand einer fränkischen Botin zukommen lassen. Heute – als hätt‘ er’s geahnt – lässt er mir nun das letzte Gschenkla, sein Bändchen „Inmitten der Nacht“, zukommen. In aller Frühe schon lese, summe und singe ich mich darin fest, während mein eigener Sohn noch im Nebenzimmer wie ein Murmeltier schläft. Besonders gefällt mir folgende Zwiesprache zwischen einer Frau und einem Mann:

Ufm Berga, da giht dar Wind,
da wiegt de Maria ihr Kind
mit ihrer schlohengelweißen Hand,
se hatt och derzu keen Wiegenband.

Maria: Ach Joseph, liebster Joseph mein,
ach hilf mer wiegen mei Knabelein!

Joseph: Wie kann ich dr denn dei Knabla wiegn!
ich kann ja kaum salber de Fingerla biegn.

Maria: Schum schei, schum schei.

Rätselhaft! Was mag das Ganze bedeuten? Warum sagt und singt Joseph das? Ist es ihm zu kalt? Hat er rauhe rissige Hände von all der männlichen Hobelei und groben Zimmermannsarbeit? Oder sind ihm die Finger durchgefroren und klamm? Oder hält er die Erstversorgung des neugeborenen Kindes für reine Frauensache? Erklärt sich Joseph hier außerstande, den erbetenen Dienst zu leisten? Und was ist das überhaupt für eine Sprache? Etwa Hochdeutsch?

Wir können es nicht wissen! Denn das Lied ist uns schriftlich aus dem fernen Jahr 1841 bezeugt, die Verfasser, die ersten Sänger sind schon längst nicht mehr unter uns. Sie haben uns dieses geheimnisvolle Lied hinterlassen. Um die Wahrheit des Liedes zu erfahren, müsste man es singen, gleich heute abend!

Anyway, be it as it may be, wie soll ich’s dir sagen, come te hi a ddisce? Ti ringrazio tanto, Marie, tu si benedette mmenze a le femmene, e benedette ié u frutte de u vendre tu!

Quellen:
„Auf dem Berge, da wehet der Wind“ – Schlesien. In: Erk-Irmer, Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen, Heft 6, Krefeld und Wesel 1841. Zitiert nach: Inmitten der Nacht. Die Weihnachtsgeschichte im Volkslied. Herausgegeben von Gottfried Wolters mit Holzschnitten von Alfred Zacharias. Möseler Verlag, Wolfenbüttel 1957, Seite 55, sowie Originaltext ibidem auf Seite 78

https://it.wikipedia.org/wiki/Dialetto_apulo-barese

 Posted by at 11:43

Schuld, die nie vergehen wird, oder: odium sui rimanebit in saecula saeculorum

 31. Oktober 1517, Antideutsche Ideologie, Das Böse, Deutschstunde, Einzigartigkeiten, Gedächtniskultur, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Schuld, die nie vergehen wird, oder: odium sui rimanebit in saecula saeculorum
Dez 122015
 

Am vergangenen Samstag wurde in der Staatsbibliothek zu Berlin für einen Tag lang ein originaler Erstdruck der berühmten 95 Thesen Martin Luthers ausgestellt. Ich eilte hin, las, staunte, sah und schreibe nun diese nachfolgenden Betrachtungen 7 Tage danach nieder. Das Foto habe ich mit Erlaubnis der Saalaufsicht vor einer Woche aufgenommen.

Luthers Thesen 20151205_145818

Das Bewusstsein ewiger, unverzeihlicher, unauslöschlicher Schuld, an dem so viele Menschen leiden, führt unweigerlich zum odium sui, zum Selbsthass, wie das Martin Luther 1517 an prominenter Stelle genannt hat. In der vierten seiner Wittenberger Thesen schreibt er:

„Manet itaque pena, donec manet odium sui (id est penitentia Vera intus), scilicet usque ad introitum regni celorum.“

„Die Strafe bleibt also, solange der Selbsthass bleibt (d.h. die wahre Buße im Innern), nämlich bis zum Eintritt des Himmelreiches.“

Ewige Strafe, ewige Pein, ewige Schuld wird in deutschen Landen weitergereicht von Vätern auf Söhne, auf Enkel, auf Urenkel – usque ad introitum regni celorum.

Dieser Selbsthass ist in deutschen Landen bis zum heutigen Tage ein guter, ein geförderter Zustand. „In mir ist nichts Gutes.“ Da man nicht an die verzeihende, versöhnende Kraft des Wortes glaubt, vergräbt man sich in einen Kerker aus Schuldbewusstsein, Schwermut und Selbsthass.

Ein Beleg für den typisch deutschen Selbsthass? Hier kommt er, stellvertretend für viele:

„Und dann gibt es noch die unauslöschliche Großschuld, die Deutschland von 1914 bis 1945 auf sich geladen hat. Die Schuld an zwei Kriegen, die Schuld an Millionen Toten auf Schlachtfeldern und in Konzentrationslagern. Das ist eine Schuld, die nicht vergehen wird, an der es nichts zu rütteln gibt, von der die Zeit nichts abschleift.“

So schreibt es Christoph Schwennicke, Chefredakteur der Zeitschrift Cicero, am 3. März 2015.

Zu Hunderten findet man Derartiges in den meinungsbildenden Reden, Schriften und Kommentaren: diese Berufung auf die deutsche Großschuld, die alles andere überragende, in alle Ewigkeiten fortdauernde, alleinige Schuldigkeit Deutschlands für die beiden Weltkriege und die Massenmorde an Zivilisten in den Jahren 1914-1945.

Alle Völker Europas, insbesondere die Deutschen selbst, bekennen sich stolz und voller Sündengewissheit zu den deutschen Verbrechen, an denen sie allein, die Deutschen, bis in alle Ewigkeiten tragen werden, – du, ich, wir Deutschen alle. Diese deutsche Ur-, Erb- und Großschuld ist gewissermaßen das alles andere überschreibende Erbgut, durch das alles andere – auch alles Gute – überlagert wird.

Mit einem wahren furor teutonicus spürten und spüren deutsche Schriftsteller, deutsche Großintellektuelle diesen verbrecherischen Grundcharakter eines ganzen Volkes wieder und wieder auf, ergötzen sich daran, weiden sich daran.

Schon das kleinste Abweichen von dieser dauernden Selbstzerknischung wird als nationalistisches Gehabe rabiat unterdrückt. Wer erinnert sich nicht daran, wie der damalige CDU-Generalsekretär Herrmann Gröhe am Abend des Wahlsieges ein Fähnchen der Bundesrepublik Deutschland schwenkte und sofort von seiner Herrin sanft, aber nachdrücklich abgestraft wurde?

In der Tat: Das Schwenken eines kleinen Fähnchens der Bundesrepublik Deutschland gilt bereits als unschicklich, als frevelhafter Verstoß gegen die guten Sitten! Und die Franzosen versinken derzeit im nationalen Fahnenmeer so sehr, dass an den Kiosken kaum mehr Trikoloren zu kaufen sind! Russen, US-Amerikaner, Türken, Polen, Dänen, Schweden, Finnen und und und lassen stolz und fröhlich ihre Fahnen flattern, ohne doch zu leugnen, dass ihre leiblichen Vorfahren auch einiges auf dem Kerbholz haben. Das symbolische Bekenntnis zum eigenen Staat, zum eigenen Staatsvolk gilt dort nicht als Sünde.

Das in Deutschland immer noch anzutreffende, im Kern reinrassig völkische Denken, wonach Völker, hier also die Deutschen, zeitenüberdauernd an allem schuldig sind und schuldig bleiben, was ihre biologischen Vorfahren und Urahnen in vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten getan haben, feiert in unseren Jahren fröhliche Urständ. „Nie mehr Deutschland, nie mehr Krieg!“ – mit dieser teutonisch-furiosen Losung sprengten junge Deutsche eine Veranstaltung des Verteidigungsministers de Maizière an der Humboldt-Universität.

Davon ganz abgesehen, dass dieses biologistisch-völkische Denken, wonach die Nachfahren die Schuld der leiblichen Vorfahren erben, kaum von allen Menschen geteilt wird, bestehen aus der Sicht historischer Forschung erhebliche Zweifel an der immer wieder von historischen Laien vorgetragenen Behauptung, Deutschland und nur Deutschland trage die Alleinschuld an den beiden Weltkriegen und an allen Genoziden in den Jahren 1914-1945. Vermutlich ist diese Behauptung sogar falsch.

Schuld, die nicht vergehen kann! Es ist, als hörte man das deutsche Gewissen pochen und klagen: „In mir (in mir, dem deutschen Volk) ist nichts Gutes, das neben der deutschen Großschuld Bestand hätte.“ Oder auch: „Meine Sünde ist grösser / denn das sie mir vergeben werden müge.“ So übersetzte Luther die Selbstbezichtigung Kains im 1. Buch Mose (4,13).

Und was wir heute mehr denn je in Deutschland erleben, ist eine fortwährende Selbstbezichtigung Deutschlands als des Kainsvolkes unter den Völkern Europas.

Not tut jetzt eine Art Rückbesinnung auf den personalen Begriff der Schuld, wie ihn beispielsweise das Strafrecht lehrt: Jeder Mensch trägt nur für eigene Vergehen, für eigene Verbrechen Schuld. Es gibt keine generationenübergreifende Sippenhaftung oder gar so etwas wie Volksschuld.

http://www.rp-online.de/politik/deutschland/kolumnen/berliner-republik/deutschland-ist-nicht-an-allem-schuld-aid-1.4916046

 Posted by at 16:04

Dienstbotengesänge

 Deutschstunde, Singen, Theater  Kommentare deaktiviert für Dienstbotengesänge
Nov 182015
 

„Wir beugen unser Haupt vor den Toten, niemals aber beugen wir uns dem Terror.“ So Bundespräsident Gauck am vergangenen Sonntag. Hier wollen wir uns einmal nicht mit den Reden, sondern mit dem Reden des Bundespräsidenten befassen, also mit seiner Art des Vortragens, Sprechens, mit seiner Wortfindung und Gedankenführung. Völlig zu recht wird ja immer wieder seine besondere rednerische Gabe, sein Geschick und seine Überzeugungskraft gerühmt. Worin gründet die besondere Rednergabe Joachim Gaucks? Was macht Joachim Gauck zu einem herausragenden Redner, was macht einen guten Redner aus?

1) Der gute Redner verfügt über eine gute Ausbildung der Stimme, der Sprechwerkzeuge. Er hegt und pflegt das Wort. Er vertraut dem Wort, und das Wort scheint ihm zu vertrauen. Sein Motto scheint zu lauten:

Lebendgem Worte bin ich gut,
das kommt heran so wohlgemut.

Wenn er redet, fällt das Verstehen leicht. Jeder einzelne Laut wird geformt, jedes Wort wird geformt, jeder Satz wird geformt und gewissermaßen in den Raum auf die Zuhörer hin gesprochen. Insbesondere bringt der gute Redner auch die Konsonanten zum Klingen. Das kann so weit gehen, dass auch die Konsonanten wie „gesungen“ wirken.

2) Der gute Redner lässt jede Silbe, insbesondere auch jede unbetonte Silbe gedeihen. Er verschluckt nichts. Der gute Redner sagt also „beugen“, nicht „beugn“, „aufgegangen“ statt „a’fggangn“, „haben“ statt „habm“, „wir loben dich“, nicht „wir lobm dich“. Ein sehr häufiger Fehler der schlecht ausgebildeten deutschen Schauspieler ist seit jeher – von Goethe in seinen „Regeln für Schauspieler“ bereits getadelt – das Verhuschen und Verschlucken der unbetonten Silben.

Als Hörbeispiel diene ein kurzer Wortwechsel aus Goethes Clavigo (1. Akt, 1. Szene):

Clavigo. Zwar ist mir’s weiter nicht bange; sein Einfluß bleibt – Grimaldi und er sind Freunde, und wir können schwatzen und uns bücken –
Carlos. Und denken und thun, was wir wollen.

Man höre sich diese oder ähnliche Sätze in einer beliebigen Aufführung auf einer heutigen deutschen Bühne an – man wird rasch erkennen: Die Schauspieler machen oft mit dem Wortlaut, was sie wollen; sie sind oft nicht imstande, dem Wort zu dienen, sondern sie denken und tun, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Die Lautung wirkt zufällig, die Konsonanten werden gekappt, die Vokale sind undeutlich, die gesamte Sprechweise wirkt kurzatmig und flachbrüstig.

Und dann versuche man einmal, eben diese Sätze zuhause für sich, oder mit einer Partnerin gemeinsam, einzuüben. Nach und nach wird das Ineinandergreifen, dieses florettartige „botta e risposta“, dieses Schlag auf Schlag eines gut vorgetragenen Dialoges hervortreten. Dann erwächst auch allmählich die Freude am Sprechen wieder.

3) Der gute Redner liest nicht nur ab, er hört die Sprache auch, er hat die Sprache gehört, er vernimmt das Singen im Hintergrund, er hat mindestens eine gewisse Zeit mit der Poesie verbracht, er trägt all die Kinderreime aus Küche und Keller, die Märchenverse, die Rätsel und Lautmalereien mit sich herum. Im guten Redner klingt immer etwas von der Dichtung nach, in ihm klingen die Lieder nach, die er gesungen hat. Seine Stimme wurde durch Poesie gekräftigt.

4) Die 1906 im niedersächsischen Linden geborene deutsche Philosophin Hannah Arendt sagt: „Im Deutschen gerade liegt das Volkslied aller Dichtung zugrunde, wenn auch in der eigentlich großen Dichtung so transformiert, daß es kaum noch kenntlich ist. So klingt die Stimme der Dienstbotengesänge durch viele der schönsten deutschen Gedichte.“

5) Atmen – Singen – Reden! Eine unersetzliche Übung für jede zukünftige Rednerin, einen unerschöpflichen Schatz zum Erwerb einer guten deutschen Aussprache – gerade auch im Unterricht mit Kindern und Lernenden nichtdeutscher Muttersprache – stellen die 100 oder 300 wichtigsten deutschen Volkslieder der letzten 300 Jahre dar, etwa das unsterbliche „Der Mond ist aufgegangen“. Wer mag und die Religion seiner Vorfahren nicht fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, der kann und soll ruhig auch die 100 oder 300 wichtigsten geistlichen Lieder der letzten 700 Jahre hören und singen.

Empfehlung für alle Redner, Schauspieler, Sprachlehrer und Menschen, die in der Öffentlichkeit reden müssen:
Der Mond ist aufgegangen, In: 100 deutsche Kinderlieder. Für Klavier mit Liedertexten. Bearbeitet von István Máriássy. Illustriert von Claudia Faber. K 148. Könemann Music Budapest 2000. € 5,95, S. 40-41

Zitat Hannah Arendts hier nach:
Beatrix Brockman: Scherben im Bachsand. Der Nachlass der Lyrikerin Eva Strittmatter kommt in die Akademie der Künste nach Berlin. In: Ars pro toto. Das Magazin der Kulturstiftung der Länder, 3-2015, S. 25-29, hier S. 26

Scherben im Bachsand

Empfohlen sei auch:
Egon Aderhold/Edith Wolf: Sprecherzieherisches Übungsbuch. Henschel Verlag Berlin 2013

 Posted by at 13:05

Damit Goethe gelingt: von Kindern und Laien lernen!

 Deutschstunde  Kommentare deaktiviert für Damit Goethe gelingt: von Kindern und Laien lernen!
Nov 142015
 

Schaffen die deutschen Theater Goethe noch? Zweifel bleiben! Der gestrige Theaterabend war wieder einmal niederschmetternd.

Aber ich habe außerhalb des Berufstheaters einige gute Goethe-Aufführungen erlebt: Zuletzt in diesem Jahr die Führung durch die Wörlitzer Parkanlagen durch eine kundige Gästebetreuerin aus dem Städtchen Oranienbaum: „Hier ists ietz unendlich schön..“ zitierte sie aus einem Goethe-Brief. Sie fühlte das, was Goethe schrieb, sie brachte es in leicht fasslicher, leicht sächsischer Lautung ohne Mikrophon, aber mit Gefühl uns zu Ohren. So ist es richtig, so trägt es!

Die andere sehr schöne Goethe-Aufführung erlebte ich vor einigen Jahren an der Kreuzberger Fanny-Hensel-Schule: einige Kinder trugen kleinere Gedichte und Balladen vor, darunter auch den „Erlkönig“ von Goethe. Das kleine Mädchen – nennen wir sie einfach mal Fatima, sie stammte wohl aus einer arabischen Flüchtlingsfamilie – trug das Gedicht fehlerlos, in guter Aussprache, in natürlichem Rhythmus und natürlicher Betonung, wenn auch nicht ohne Lampenfieber vor. Und so war es einfach schön, überzeugend, mitreißend. Danke, „Fatima“!

Flüchtlingskinder und Laien könnten so machen Schauspieler lehren, wie man mit Goethe umgehen kann. Goethes Sprache trägt dich, wenn du dich ihr anvertraust!

Jeder Schauspieler sollte sich an Kindern und Laien ein Beispiel nehmen. Regisseure sollten sich innerlich als Diener an Kindern, an Zuschauern, an Schauspielern, als Diener am guten Wort verstehen. Sie brauchen sich nicht so viel auszudenken. Sie sollten sich selbst und ihr großes großes Ego nicht in den Vordergrund spielen.

 Posted by at 17:59

Gebt ihr ein Stück, zerfetzt es gleich in Stücke: Goethes Clavigo am Deutschen Theater

 Deutschstunde, Goethe, Selbsthaß, Theater  Kommentare deaktiviert für Gebt ihr ein Stück, zerfetzt es gleich in Stücke: Goethes Clavigo am Deutschen Theater
Nov 142015
 

Wertvolle, nachhaltige Einsichten in die vielen Arten, wie man auf deutschen Bühnen ein beliebiges Theaterstück zerlegen, zerfetzen, zerstören kann, bot gestern das Opfer des Abends: „Clavigo nach Johann Wolfgang Goethe“. Als Spielstätte gab sich das Deutsche Theater her.

Hier die wesentlichen Regieanweisungen, mit denen es jedem Regisseur gelingen kann, jedes beliebige Stück von Aischylos über Goethe bis Heinar Kipphardt erfolgreich unkenntlich zu machen:

1) Gebt ihr ein Stück, gebt es gleich in Stücken! Kein Handlungsstrang soll erkennbar sein. Alles wird aufgelöst. Es geschieht sehr viel, aber es gibt keine fortlaufende Handlung mehr.

2) Solch ein Ragout, es muss euch glücken: Man begnügt sich nicht mehr mit einem Stück. Nein, mindestens drei Theaterstücke Goethes werden hineingequirlt, daneben noch Briefe, Kommentare, eine kleine Gardinenpredigt von Jean Ziegler darf auch nicht fehlen.

3) Lasst sie schreien, stöhnen, nuscheln – doch lasst sie niemals sprechen. Sie, die Schauspieler, können nicht mehr bühnentauglich sprechen. Oder sie dürfen nicht mehr bühnengerecht sprechen. Es gab an dem Abend keinen einzigen Satz, der mit sinnvoller Betonung gesprochen worden wäre. Schönheit des gesprochenen, des dichterischen Wortes erwarteten wir ja schon nicht mehr. Aber Sinn. Die jüngeren Schauspieler bekommen in Deutschland offenbar keinerlei Sprechausbildung mehr. Ihre Stimmen tragen nicht. Deshalb müssen sie auch fast ohne Pause durch ein Mikrophon verstärkt werden. Alles wurde gepresst, geschrieen, verzerrt, vieles wurde durch den Computer gejagt. Arme Schauspieler!

4) Sprechtheater ohne Sprechen! Goethes Text wurde ohne Gefühl für Sprache, ohne jeden Respekt vor dem Wort, ohne Achtung vor dem Zuschauer angeboten. Es wird stattdessen ein gigantischer technischer und medialer Aufwand getrieben. Die Schauspieler werden zum Bestandteil einer übergroßen, überteuerten Maschinerie gemacht.

5) Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten. Clavigo, Beaumarchais, Buenco wurden durch Frauen gespielt. Ist ja nicht uncool. Aber warum? Sollte nachgewiesen werden, dass Genderrollen sozial konstruiert werden? Der Nachweis wäre misslungen. Das ganze Stück funktioniert so nicht.

6) Auf offener Bühne wurde gegen Ende ein versuchter Selbstmord vorgeführt. Ein/E Schauspieler/In zog sich eine Plastiktüte über ihr/sein/-en Kopf, doch brachte er/sie sich dann doch nicht um. Und es waren Kinder und Jugendliche im Saal!

7) Insgesamt wohnten wir einem suizidalen Umgang mit Sprache, einem suizidalen Umgang mit Texten, einem suizidalen Umgang mit Kunst bei. Goethe wird es vielleicht überleben. Vielleicht auch nicht. Es gibt Schlimmeres als einen solchen Theaterabend. Die Ereignisse in Paris brachten uns dies entsetzlich nahe. Es regnete, als wir das Theater verließen. Durchnässt wie ein Pudel kam ich zuhause an.

 Posted by at 16:46
Okt 312015
 

Eine Riesendebatte hatte, wie mir Bürger der wunderschönen lippischen Stadt erzählten, das reizvolle Blomberg erschüttert: Sollte der Hindenburgplatz umbenannt werden? Hatte Reichspräsident Hindenburg nicht als Steigbügelhalter und Wegbereiter Hitlers gedient?

Nun, ganz so war es nicht. Hindenburg war zwar sicher kein Anhänger der parlamentarischen Demokratie; er versuchte aber auch jahrelang, den berüchtigten „österreichischen Gefreiten“, mit seinen paramilitärischen Horden, von der Regierung fernzuhalten. Hindenburg wollte eine Art autoritäre, zentralistische Staatsführung, eine echte Präsidialverfassung mit Tolerierung durch den Reichstag. Heinrich August Winkler sagt, Hindenburg und seine Umgebung strebten einen „stillen Verfassungswandel“ an. Und das scheint mir eine sehr treffende Formulierung!

Die Blomberger haben sich für die Formulierung entschieden, Hindenburg habe die NS-Machtübernahme „aktiv unterstützt“, und sie haben die Umbenennung nach ausführlicher Debatte durchgesetzt. Der frühere Hindenburgplatz heißt nun „Am Martinsturm“. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.

Sie, die Blomberger – oder irgendein Blomberger – sind aber noch ein paar Schritte weitergegangen, denn sie haben das Adjektiv „deutsch“ aus dem Denkmal zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 am ehemaligen Hindenburgplatz, dem jetzigen Platz „Am Martinsturm“ weggehämmert. Nur noch mit dem Fingern lässt sich das ehemalige Adjektiv „deutsch“ ertasten. Wo jetzt nichts mehr ist, stand einmal „deutsch“. Eine echte Gedächtnisauslöschung des Deutschen. Id est vere damnatio memoriae nationis germanicae! So machten es schon die Pharaonen und die Cäsaren der Antike! Was ihnen nicht mehr in den Kram passte, wurde vom neuen Herrscher aus den Stelen und Säulen weggehackt.

Und mit dem Weghacken des Deutschen aus der deutschen Geschichte, wie es hier durch die Denkmalshacker in Blomberg oder auch anderswo vorexerziert wird, hätte Hitler postum sein finales Ziel erreicht: die Vernichtung des deutschen Volkes. Denn Hitler war der Meinung: „If one day the German nation is no longer sufficiently strong or sufficiently ready for sacrifice to stake its blood for its existence, then let it perish and be annihilated…“ (Bemerkung vom 27.11.1941). Die antideutsche Ideologie der Jetztzeit („Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“) erweist sich einmal mehr als reinrassige Testamentsvollstreckerin Hitlers.

Belege:
H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. Bonn 2002, S. 489
Zweites Zitat (Hitler) hier in Übersetzung wiedergegeben nach: Martin Amis, The Zone of Interest, Verlag Jonathan Cape, London 2014, S. 307

Foto: das Kriegsdenkmal für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im lippischen Blomberg, Aufnahme vom 24.10.2015Damnatio 20151024_092415

 Posted by at 14:00

Poco adagio, cantabile. Sempre piano

 Deutschstunde, Musik  Kommentare deaktiviert für Poco adagio, cantabile. Sempre piano
Okt 032015
 

Schwarz rot gold 20150926_143526

Bei einem der letzten Male des Festes der deutschen Einheit am 3. Oktober trat Coca Cola als mächtigster Hauptsponsor des Festes der deutschen Einheit auf. Coca Cola baute am 2. Oktober 2011 ein HAPPINESS MONUMENT, einen Glücksturm in Berlin auf der Straße des 17. Juni auf. Was bedeutet Glück? Auf der Bühne war kein einziges deutsches Wort zu hören, die gesamte Beschallung aus den wummernden Subwoofern und auch die Talks fanden nur auf Englisch statt. Ich fotografierte den Glücksturm von Coca Cola, berichtete darüber in diesem Blog am 2.10.2011. „Trinkt Coca Cola, singt und redet Englisch und ihr werdet glücklich“ – das war überdeutlich und überlebensgroß die damalige Glücksverheißung. Mich fror dabei. In mir schalt es und schimpft‘ es wie eine tschilpende Schar Rohrspatzen: „Universal happiness through Coca Cola? Not my stuff!“

Ich selbst wähle heute eine geradezu hinterlistig schlaue Art, ihn, diesen guten sonnigen Tag, zu begehen: ich spiel einfach die Stimme der ersten Geige des zweiten Satzes aus dem Streichquartett Nr. 42, op. 76 Nr. 3 des Österreichers Joseph Haydn. … Wieso hinterlistig? Nun, ich spiele nur die Variationen, nicht jedoch die Melodie des Österreichers! Gibt es noch genug hörende Ohren und hörende Herzen in Deutschland? Hört jemand die Melodie des Österreichers heraus? Niemand wird gezwungen, die österreichisch-ungarische Melodie herauszuhören, geschweige denn den Wortlaut des Liedes; jeder darf sie hineinhören. Das ist wahre Freiheit!

Haydn schreibt: poco adagio, cantabile. Dolce. Sempre piano. Ein herrlicher Dreifachsinn! Eine Ermahnung zu Takt und Sitte, zu Maß und Mitte. Man kann hineinhören: Certe melodie vanno prese adagio, also: gewisse Melodien spiele man mit Behutsamkeit, aber doch gesanglich. Singen ja, aber nicht mit wummernden Subwoofern, sondern ohne elektrische Verstärkung, ohne Tingeltangel, ohne Glanz und Gloria, ohne Tschingdarassabumm.

Yes. Unplugged! Dolce! Cantabile!

Si sente un certo disagio oggi. Eppur si canta.

 

Bild: Menschen vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund. Aufnahme aus dem Treppenhaus des Bauhauses in Dessau. 26. September 2015 beim Engelsgesang-Ausflug des Elternchores der Beethoven-Schule Berlin

 Posted by at 11:48