Nuscheln, Murmeln, Schweigen: Das verstummende kulturelle Gedächtnis

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Sep 082015
 

Manchmal frage ich mich, wie wohl Goethe seine Gedichte und Dramen vorgetragen hat. Seine „Regeln für Schauspieler“ aus dem Jahr 1803 liefern Hinweise darauf! Das heute so modische, lässig-unterkühlte Murmeln und Nuscheln, z.B. das silbische M, war ihm zuwider, das Verschlucken etwa von unbetonten Vokalen, das sich heute überall in Fernsehen und Vortrag – auch bei geschulten Bühnenschaupielerinnen – ausgebreitet hat, suchte er seinen Darstellern auszutreiben. Goethe schreibt etwa unter § 7 seiner Regeln:

Bei den Wörtern, welche sich auf e m und e n endigen, muß man darauf achten, die letzte Silbe deutlich auszusprechen; denn sonst geht die Sylbe verloren, indem man das e gar nicht mehr hört.

Z.B. folgendem, nicht folgend’m
hörendem, nicht hörend’m

Ganz offenkundig schrieben Goethe und all die anderen Dichter ihre Verse zu lautem, klingendem Vortrag nieder. Das geschriebene Wort diente nur als eine Stütze, die das klar, frei und deutlich erschallende Wort trug und vorgab, wie die gedruckte Stimme in der Musik – in Goethes Worten – als Anleitung „zum richtigen, genauen und reinen Treffen jedes einzelnen Tones“ hilft.

Die heutigen deutschen Kinder lernen die klingende, singende Sprache oder vielmehr Aussprache eines Goethe, eines Paul Gerhardt, eines Thomas Mann oder Friedrich Hölderlin nicht mehr kennen und nicht mehr schätzen, da auch die Erwachsenen sie nicht mehr kennen und schätzen.  Es ist so, als würde man im Instrumentalspiel nicht mehr Bach, Mozart und Brahms in allen Noten spielen, sondern nur noch darüber hinweghuschen, diese oder jene Notengruppe nicht mehr spielen.

Mit der Kenntnis der relativ einheitlichen deutschen Sprache oder mindestens Aussprache der Dichter, Wissenschaftler und Philosophen von Immanuel Kant und J.W. Goethe bis hin zu Albert Einstein, Sigmund Freud und Thomas Mann droht nun seit Jahrzehnten in Deutschland selbst auch die Kenntnis des ehemaligen Kernbeitrages der deutschsprachigen Länder zur Weltkultur verloren zu gehen.

Nun könnte man sagen, es sei doch unerheblich, ob noch irgend jemand in Deutschland die Relativitätstheorie Albert Einsteins, die Buddenbrooks Thomas Manns, das Kapital von Karl Marx, die Traumdeutung Sigmund Freuds, die Gedichte Goethes oder die Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants im deutschen Original zu lesen vermöchte. Schließlich gebe es überall englische Übersetzungen, Deutschland und Europa würden  sowieso irgendwann nur noch Englisch reden – oder mit Blick auf die neuesten demographischen und migratorischen Entwicklungen – Arabisch oder Chinesisch.

So wie heute in Deutschland in aller Öffentlichkeit das klingende, gesprochene, gepflegte Deutsch aus der Zeit eines Immanuel Kant oder eines Goethe nach und nach vergessen und verschüttet wird, so vergaß Europa im ersten Jahrtausend nach und nach die griechische Vortragskunst.

Irgendwann hatte man einfach vergessen, wie die Epen Homers, die Tragödien eines Aischylos, Sophokles oder Euripides geklungen hatten – ein Kernbestand des kulturellen Gedächtnisses wurde weitgehend ausgelöscht, insbesondere natürlich das alte Griechisch, die Sprache Homers, Herodots, Sokrates‘, Platons und Aristoteles‘, die Sprache auch der Urschriften des Christentums. Der lateinische Westen kannte und konnte etwa ab dem 5. Jh. n. Chr. kein Griechisch mehr, selbst die großen abendländischen Theologen konnten das Neue Testament bis ins 15. Jh. hinein meist nicht mehr im griechischen Original lesen, mit all den verheerenden, teils gewalttätigen theologischen Fehldeutungen und Irrtümern, die die Nichtbefassung mit dem griechischen bzw. hebräischen Urtext auslösen sollte.

Die griechischen Originalklänge der europäischen Kulturen gingen damals verloren, das kulturelle Urbild Europas ward im Westen komplett vergessen. Lateinisches Abendland und griechisches, später arabisches, später türkisches Morgenland drifteten auseinander und sind bis heute nicht wieder zusammengewachsen.

Verlust des Originalklanges! Allerdings hat sich in der Musik bereits vor Jahrzehnten eine mächtige Gegenbewegung gesammelt: Heute strebt man bei der Aufführung eines Bach, eines Vivaldi oder eines Palestrina eine klug abwägende Wiederannäherung an den früheren Klang an. Bach soll eben nicht wie Brahms, W.A.Mozart soll nicht wie Richard Wagner klingen. Man bemüht sich mindestens einmal herauszufinden, wie es damals geklungen haben mag, um die Werke besser verstehen und aufführen zu können.

Und so meine ich, dass auch wir uns darum bemühen sollten, die Werke Goethes oder Friedrich Schillers, Lessings oder Immanuel Kants auch heute noch im Originaltext zu verstehen, vorzulesen und so erklingen zu lassen, dass auch die Verfasser von damals uns heute noch zustimmend verstehen könnten.

Ein ähnliches Bild dürfte sich übrigens im Englischen ergeben. Man vergleiche etwa die Art, wie William Butler Yeats sein Gedicht The Lake Isle of Innisfree vorträgt, mit irgendeiner aktuellen Einspielung eines heutigen Schauspielers, wie man sie ohne Mühe auf Youtube finden kann. Auch hier wird man sachlich, unterkühlt und nüchtern feststellen: Der Originalklang war ganz anders, er ist nahezu schon verloren. Komplette Register des Sprachlichen, die noch vor 50 oder 70 Jahren Allgemeinbestand waren, sind fast unwiederbringlich verschüttet – oder abgetönt.

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Frisch, ihr Fibeln, seid den Flüchtlingen zur Hand!

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Sep 072015
 

Spreeufer 20150901_112016

http://karl-landherr.de/thannhausen-landkreis/deutschkurs-für-asylbewerber/

Einen großen Erfolg feiern gerade der pensionierte Lehrer Karl Landherr aus Thannhausen und seine Mitstreiter. Sie haben erkannt, was beim dringend benötigten Deutschunterricht für die Zuwanderer und Flüchtlinge fehlt: ein verlässliches, taugliches Lehrbuch.

Dieselbe Beobachtung machte ich als Vater, der zwei Söhne durch die Berliner staatlichen Grundschulen begleitet hat: für die heutigen Grundschüler, die mit geringen oder ganz ohne Deutschkenntnisse in die Kita oder Schule kommen, gibt es kein wirklich gutes, taugliches Grundschullehrbuch Deutsch.

Sowohl in der Kita wie in der Grundschule arbeiten die Erzieher und Lehrer mit mühseligst zusammengeklaubten, zusammenfotokopierten Materialien.

Einige Jahre lang habe ich selbst ebenfalls „Deutsch für Spätaussiedler“, „Deutsch als Fremdsprache für Erwachsene“ unterrichtet – und selbst da war das Bild ein ähnliches: ich fand kein Buch, das ich guten Gewissens den Spätaussiedlern oder Ausländern als Grundlage des Deutschlernens in die Hand hätte geben können. Die Lehrwerke waren zu intellektuell, zu theoretisch, zu grammatiklastig, sie sprachen nicht zum Herzen, sie waren in der Aufmachung zu schludrig und als Bücher meist nicht stabil genug. Sie zerfledderten, zerfielen, es „blieb einem nichts in der Hand“ und nichts im Herzen.

Es fehlt heute im Deutschunterricht für Kinder und für Zuwanderer das, was generationenlang, ja jahrhundertelang als Grundlage des Unterrichts im Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben diente: die Fibel, auch „Sprachbuch“, „Sprachlehre“, „Lesebuch“, erste „Lesefibel“ genannt.

Die Fibel muss neben den Elementen der Sprachlehre auch einfache alte Geschichten, einfache Märchen, einfache alte Lieder und Sprichwörter in deutscher Sprache und bunte Bilder enthalten. Die Geschichten, Märchen, Sprichwörter und Lieder in deutscher Sprache sollten zeitüberdauernden Wert haben, sie sollten nicht rotzfreche aktuelle Songs aus der Hitparade der Didaktiker sein, sondern diejenigen Werte vermitteln, die in allen Völkern, allen Religionen, allen Kulturen anerkannt sind: Achtung und Fürsorge für die Schwachen und Alten, Liebe zwischen Eltern und Kindern, Verantwortung für die Mitmenschen, Ermutigung und Ermahnung, Schmerz und Leid, Wanderschaft und Heimkehr, Sehnsucht, Glück und Unglück, Tod und Krankheit.

Grimms Märchen, das Schatzkästlein des Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten  und andere Werke konnten früher als derartige Fibeln dienen – heute muss es doch möglich sein, eine zeitgemäße und doch haltbare deutsche Fibel zu schreiben, die zugleich einen gewissen Kanon an Sprichwörtern, Werten, Gedichten, Liedern und Geschichten bietet.

Ich habe beispielsweise bemerkt, dass an modernen Berliner Schulen fast nicht mehr gesungen wird und vor allem, dass peinlichst genau jedes Lied vermieden wird, in dem das Wort Gott vorkommt; jedes Lied, das Bezug auf Themen der Religion enthält, wird sorgsam vermieden – warum eigentlich? Warum muss im staatlichen Schulunterricht jede Bezugnahme auf Gott so klinisch und aseptisch vermieden werden, wie das heute der Fall ist? Hat nicht der in der Nähe von Betlehem geborene Berliner Politiker Raed Saleh uns einst erzählt, wie sehr ihm das Singen der Adventslieder und das Basteln von Weihnachtsschmuck gefallen haben? Er wurde doch dadurch nicht zum Christentum konvertiert, aber er lernte einen gemüthaften, gefühlten Zugang zur deutschen Sprache und Kultur – zu deutschen Menschen.

Wanderschaft und Heimkehr, Sehnsucht, Glück und Unglück, die Gleichnisreden Jesu Christi wie etwa die Erzählung vom barmherzigen Samariter, Tod und Krankheit: diese Themen sind universal, sie öffnen die Herzen, mit ihnen kann man jede beliebige Sprache erlernen.

Eine derartige Fibel für Zuwanderer sollte möglichst nicht von den akademischen Koryphäen der jeweiligen saisonalen neuesten pädagogischen Methode, sondern von erfahrenen Schulleuten wie etwa Karl Landherr gemacht werden, die selber viele Kinder unterrichtet haben. Und sie muss solide und reißfest gebunden sein, sie muss die Jahre überdauern, sie muss von Hand zu Hand gehen können.  Sie würde weggehen wie warme Semmeln. Sie wäre der Schlager auf dem deutschen Buchmarkt! Die Verlage könnten viel Geld damit verdienen.

In einem früher bekannten deutschen Gedicht hieß es:

„Frisch, Gesellen! seyd zur Hand! “

Bild: Am Spreeufer, Foto vom 01.09.2015

Zitat: Musen-Almanach für das Jahr 1800. Tübingen: Cotta 1799, S. 243, hier zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Wulf Segebrecht. S. Fischer Verlag o.O. 2005, S. 167

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Aug 272015
 

Hochablass 20150822_143128

Letztes Wochenende süffelte ich zusammen mit meinem Bruder ein Weizenbier im Vereinslokal des DJK Augsburg Hochzoll in der Zugspitzstraße. Der kurzgeschorene Rasen lag ausgedörrt in der Sonne, die Zunge klebte ebenfalls ausgedörrt am Gaumen. Es stand 1:0 beim Spiel des FCA gegen Frankfurt. Würde Frankfurt noch den Ausgleich schaffen? Es war so heiß, das Reden fiel mir schwer. Alte Erinnerungen stiegen hoch. War es nicht hier? Hier hatte ich doch damals mit der Schülermannschaft des TSV Firnhaberau ein Fußballspiel ausgetragen, hier hatte ich doch unter sengender Hitze das blechern klingende Lied „Ein Student aus Uppsallallala“ aus dem Stadionlautsprecher gehört, oder täuschte ich mich? Wir verloren, wie hoch? Das habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich „Ein Student aus Uppsala“!

Doch, das war so. Und das Lied „Ein Student aus Uppsala“ prägte sich mir unauslöschlich ein.  Gesungen hat es die Kirsti mit ihrer bezaubernden Stimme. Viele Verse daraus kann ich heute noch auswendig. Warum?

Kirsti hatte die Gabe, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz so zu singen, dass sie über Jahre und Jahrzehnte haften blieben. Kirstis Aussprache des Deutschen war vorbildlich. Kirsti hatte offenbar eine sehr gute Schulung durchlaufen.

Ebenso unvergesslich: Der „Surabaya Johnny“, das Lied von Bert Brecht und Kurt Weill, gesungen von Lotte Lenya. „Nimm doch die Pfeife aus dem Mund, du Hund!“ Hier stimmt jedes Wort, hier stimmt jeder Satz, man sieht gewissermaßen, man erlebt mit, wie Lotte Lenya diesem unverwüstlichen, unsympathischen und doch unwiderstehlichen Surabaya Jonny die Pfeife aus dem Mund schlagen möchte!

Hört man solche und andere ältere Aufnahmen von deutschsprachigen Songs, Schlagern, Liedern und Opernarien an, so stellt man immer wieder fest, dass jedes einzelne Wort noch Jahrzehnte später klar, frisch und eindeutig zu verstehen ist.

Die Norwegerin Kirsti Sparboe, die Wienerin Lotte Lenya, der niederländische Kinderstar Heintje  … die Reihe lässt sich fortsetzen:   die Italienerin Milva, der Tscheche Karel Gott, der Österreicher Peter Alexander – sie alle verfügten noch über das, was heute bei deutschsprachigen Schauspielern und Sängern fast nicht mehr zu finden ist, weder im Pop noch im Rap, weder in der Unterhaltungsmusik noch auf der Sprechbühne noch in der sogenannten E-Musik: eine bestechend klare, fest sitzende, das Verständnis der Worte und Wörter sichernde Aussprache des Deutschen – oder auch des Englischen.

Diese hohe Kultur des Sprechens und Singens droht heute mindestens in Deutschland nach meinen Eindrücken verlorenzugehen, und zwar durch die Bank bei Sängern, Schauspielern, Chören, bei Profis und bei Laien, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fast gleichermaßen.

Der European Song Contest liefert Jahr um Jahr besonders schlagende Belege dafür. Viele Texte (in diesem Fall in Englisch) sind gerade bei deutschen Teilnehmerinnen nur halb verständlich, es wird genuschelt, gemümmelt, gedrückt und gesäuselt, was das Zeug hält. Technische, computertechnische, ja pyrotechnische Effekte beherrschen die Szene, die Show überwiegt, das gesungene Wort verschwimmt und verschwindet. Und viele besonders erfolgreiche  Sänger könnten eindeutig auf offener Bühne gar nicht mehr ohne technisches Backup oder Playback singen.

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass von Kindesbeinen an nicht mehr so viel gemeinsam gesungen wird? Vielleicht daran, dass es keine gemeinsamen Texte, keinen gemeinsamen Kanon an Liedern, Märchen und Geschichten mehr gibt?

Wie auch immer. Abfinden sollte man sich damit nicht!  Ich denke, gerade wenn wir jetzt 800.000 Menschen, 800.000 neue Mitbürger ohne jede Kenntnisse der Landessprache Deutsch in einem einzigen Jahr in Deutschland integrieren wollen, was ja löblich ist, was ich gutheiße, müssen wir unbedingt unsere Muttersprache Deutsch mehr achten und pflegen. Und wir sollten bei uns, bei unserem Sprechen damit anfangen.

Kirsti, Milva, Lotte, Heintje, Peter, Karel … sie alle können uns lehren, dass gutes, klingendes, verständliches, beseeltes Deutsch möglich und nötig ist, wenn wir es wollen. So wahnsinnig schwer ist es auch wieder nicht! Und es macht Spaß!

Das Motto der Arbeit ergibt sich zwanglos beim Betrachten eines beliebigen Bildes, hier zum Beispiel: der Hochablass in der Brecht-Stadt Augsburg, aufgenommen in Hochzoll am 22. August 2015.
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund!
Sei doch kein knurrender Hund!
Höre das Rauschen des tosenden Lechs,
wie er hinabstürzt über den Hochablass!
Kiesel um Kiesel nimmt er mit sich.
Wer kann dem tosenden Fluß widerstehen?
Wer könnte, wer wollte sich diesem Fluß entgegenstemmen?
Ich nicht! Du nicht! Schwimme mit mir!
Aber noch einmal sage ich’s dir:
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Sei doch kein knurrender Hund.

Eine schöne Handreichung zur eigenen Arbeit an guter Aussprache möchte ich abschließend noch empfehlen:

Klaus Heizmann: So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Schott Verlag Mainz, 2. Aufl. 2011

 

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Kann man sich am Klang der Sprache wie am Klang der Musik erfreuen?

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Aug 212015
 

Könnte man die Freude an der Musik vielleicht auch mit der Sprache empfinden? Oft frage ich mich das. Wenn ich schöne Musik hören will, dann gehe ich einfach in ein Konzert oder spiele selbst mein Instrument oder singe, allein oder mit anderen.

Wenn ich aber schöne Sprache hören will, kann ich dann einfach so ins Theater oder ins Kino gehen, kann ich dann einfach das Radio oder den Fernseher aufdrehen? Jeder oder doch fast jeder versteht und schätzt die Schönheit einer Beethovenschen Symphonie, fast jede oder doch sehr viele erkennen und schätzen die Schönheit einer Zeichnung von Botticelli oder eines Bildes von Rembrandt.

Aber gibt es in Deutschland noch genug Schauspieler oder überhaupt Menschen, die die Schönheit eines Gorkischen oder Goetheschen Gedichtes, die Schönheit und Macht eines Schillerschen oder Shakespeareschen Monologes zu Gehör bringen können? Nein, ich glaube dies nicht. Ganz wenige können dies heute noch!

Die Kunst des guten Sprechens geht in Deutschland deutlich zurück, vielleicht unter der Vorherrschaft des Films, bei dem von den Schauspielern keine gute, reine und schöne Sprech- und Vortragskunst mehr verlangt wird. Man nehme irgendeinen ARD-„Tatort“, irgendeine Folge etwa von „Alarm für Cobra 11“ (Serien, die ich ansonsten sehr schätze), irgendeine Klassikerinszenierung auf einer deutschen Bühne,  und man wird die Wahrheit dieser Aussage nicht bestreiten können.

Es zählen für die Schauspieler heute gutes Aussehen, physische Präsenz, Charisma im So-Sein und Da-Sein, überzeugende Verkörperung der Rolle im Auftreten – und auch mediale Prominenz – mehr als alles andere. Diese Kriterien bestimmen Marktwert und Bühnenerfolg der Schauspieler.

Das gute, wohlklingende, deutliche, schöne gesprochene Wort ist in Deutschland vom Aussterben bedroht, nach meinen leidvollen Erfahrungen auch im Fernsehen, auch im Kino, ja sogar auch im Theater!

Es fehlt an Sprecherziehung, es fehlt in Deutschland am Wissen um die Wichtigkeit der sorgfältigen, geschulten, bewegenden, der klingenden Rede. In den Grundschulen, ja überhaupt in den Schulen herrscht heute ein heilloses Durcheinander in der Aussprache des Deutschen, mit der Folge, dass sehr viele Schüler die Grundstufe der Schule oder sogar die Schule überhaupt ohne grundlegende Sprechkenntnisse verlassen. Das war früher eindeutig anders.

Mit bedeutender, mehrmonatiger  Verspätung – bedingt durch den Streik der Zusteller – erreichten mich gestern zwei weitere bestellte Exemplare eines Buches, aus dem ich gern immer wieder Anregungen schöpfe und das ich gern in mehr deutschen Lehrerzimmern und deutschen Probebühnen sähe:

Egon Aderhold / Edith Wolf: Sprecherzieherisches Übungsbuch. 16. Auflage, Henschel Verlag, Berlin 2013

Diesem Buch entnehme ich auf S. 105 mit Dankbarkeit folgendes Gedicht „Beherzigung“, das sich sehr gut zum Einüben eines guten Vortrages eignet:

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.

 

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Abschied vom Tage, vom heut gewesenen Tage

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Mai 142015
 

„Gelassen stieg die Nacht ans Land“ – dieses Gedicht verströmt etwas unfassbar Tröstliches – es ist ein Ausbalancieren des Dunklen und Hellen in ihm zu spüren, wie es sonst vielleicht nur im Flug eines Reihers über einer trüben Teichfläche zu finden ist:

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

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„Sünde“? „Schande“? „Ewige Schuld“? Scham? Reue? Versöhnung?

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Mai 052015
 

„Bitte etwas weniger Religion!“ Flehentlich höre ich immer wieder dieses Stoßgebet der säkularen Bevölkerungsmehrheit. In der Tat, die Diskurse, die sich um den 8./9. Mai 2015 ranken, quellen geradezu über von mystischen, halb- oder vierteltheologischen Aussagen.

DAS muss man sagen and bekennen, JENES darf man nicht sagen. So ist es unter den Deutschen in öffentlicher Rede stehender Ritus geworden, die absolute Unvergleichlichkeit der deutschen Verbrechen herauszustreichen, ebenso gilt es heute weithin unter Deutschen als Tabu, die von Angehörigen anderer Nationen im 20. Jahrhundert an Deutschen begangenen Verbrechen aktiv anzusprechen.

Die zahllosen deutschen Verbrechen der Jahre 1884 (Berliner Kongo-Konferenz) bis zum 8. Mai 1945 sollen weithin sichtbar in all ihrer absoluten Einzigartigkeit strahlen und funkeln. Es ist, als hörte man es überall erschallen: Wir Deutschen sind Weltmeister des Bösen. Und wir sind Weltmeister der Schuldbekenntnisse.

Es gilt als Tabubruch, als „Todsünde“, wenn ein deutscher Historiker von sich aus konkurrierende Verbrechenslisten eröffnet, z.B. die Kolonialgräuel in Belgisch-Kongo, die Ausmerzung der Indianderkulturen in den beiden Amerikas, die Gemetzel der Russen unter den slawischen und sozialistischen Brudervölkern anspricht, ohne doch zugleich die unvergleichliche, die überragende Qualität der deutschen Verbrechen in dem großen Völkergemetzel der Jahre 1939-1945, wahlweise auch 1933-1945 hervorzuheben. „Wir Deutschen sind die absolut Schuldigsten in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.“

Wo sind eigentlich all die guten oder weniger guten alten Faschismustheorien eines Reinhard Kühnl, eines Ernst Nolte geblieben? Ist ihnen denn etwas Schlimmes passiert? Wo bleiben in der deutschen Historiographie die ökonomischen oder die strukturellen Analysen, wie sie etwa Timothy Snyder oder kürzlich etwa Adam Tooze erneut vorgelegt haben? Wer arbeitet sich noch durch die Originalquellen eines Mussolini, eines Rosenberg, eines Trotzkij, eines Lenin, Ehrenburg oder Stalin durch – und zwar in den Originalsprachen?

Wer spricht heute noch von den faschistischen Regimen Italiens, Spaniens, Griechenlands, Österreichs, Ungarns, der Slowakei, Rumäniens? Einige von ihnen, also das Italien Mussolinis, das Ungarn Horthys, die Slowakei Tisos, das Rumänien Antonescus waren doch Verbündete und Mitstreiter des Deutschen Reiches im 2. Weltkrieg. Sie nahmen bereitwillig als Partner und Spießgesellen an den verbrecherischen Unterwerfungs-, Vernichtungs- und Beutekriegen Hitlers teil. Sie saßen doch – ebenso wie der ehemalige Verbündete Finnland – noch bei der Pariser Friedenskonferenz 1946/47 als Verlierer, als schuldige Kriegsauslöser am Verhandlungstisch, sie mussten als Schuldige und Schuldner des Weltkrieges Reparationen an ihre Kriegsfeinde zahlen. Alles vergessen?

Es ist auffällig, dass nahezu die gesamte rituelle, in Deutschland um sich selbst kreisende Debatte über den 2. Weltkrieg fast komplett unter das Vorzeichen erstens des Nationalen, zweitens des moralisch Bösen, ja des absoluten Bösen geraten ist, als dessen einzige Verkörperung heutzutage weithin das Deutsche Reich in den Jahren 1933-1945 gilt: Nur die Deutschen waren böse, alle anderen waren also gut. Auch Stalin und der Stalinismus waren gut, denn sie kämpften gegen das absolute Böse.

Das Deutsche Reich der Jahre 1933-1945 und nur Deutschland gilt nunmehr und auf alle Ewigkeit in der Geschichte der Neuzeit als „Inkarnation des Bösen“ schlechthin (so der dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert zugeschriebene Ausspruch).

Nicht anders wird dies heute auch im sich eifrig rechristianisierenden Russland gesehen. Dies berichtet heute erneut Friedrich Schmidt in der FAZ auf S. 3 unter dem Titel „Unter jeder Beere eine Leiche“. Die Russen sehen sich offiziell heute als „Nation der ewigen Sieger“. Ich selbst las den Spruch noch vor wenigen Monaten breit auf Häuserwänden in den Vorstädten Moskaus: „WIR SIND EIN VOLK VON SIEGERN.“ Und der größte Sieg der Russen, das war der nach russischer Auffassung alleine und ausschließlich durch Russland erfochtene „Sieg über den Faschismus und das nationalsozialistische Deutschland als das absolute Böse“. So gibt Arsenij Roginski – völlig korrekt, wie ich meine – die offizielle Staatsdoktrin wieder.

 Posted by at 17:32
Apr 092015
 

Die Antwort auf diese Frage wird Hinz und Kunz leichtfallen! Selbstverständlich Deutschland!
Das abrufbare Schulwissen im Fach Geschichte dürfen wir zwanglos so wiedergeben:

„Das Deutsche Reich begann am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen den 2. Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg endete am 8. Mai 1945 mit der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation.“

So wird es heute wohl in den allermeisten Ländern überall in der Welt (außer in Russland) gelehrt.

Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg entfesselt; das ist in der Rückschau unumstritten; siehe hierzu etwa:

„Von den größeren Staaten Europas war keiner den USA ebenbürtig. Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, war besiegt und wurde von den Siegermächten geteilt. Großbritannien war eine Siegermacht, aber durch den Krieg materiell so geschwächt, dass es 1945 fraglich war, wie lange es sein überseeisches Kolonialreich noch würde behaupten können.“

Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, C.H.Beck, München 2014, digitale Ausgabe, Pos. 183, Fettdruck durch dieses Blog

Abweichend äußert sich hingegen der heute an der Universität Trier lehrende Neuzeithistoriker Christan Jansen. Er bezeichnet Deutschland und Italien als „die beiden Verursacher“ des Zweiten Weltkriegs:

Von den beiden Verursachern des Zweiten Weltkriegs erhielt Italien bereits im Februar 1947 – von geringen Einschränkungen abgesehen – die Souveränität zurück, die Bundesrepublik erst 1990. Allerdings empfanden die Italiener den Friedensvertrag überwiegend als >>Diktat<< und >>Schmach<<„.

Christian Jansen, Italien seit 1945, Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2007, S. 24, Hervorhebung durch dieses Blog

Wiederum abweichend äußert sich der britische, zuletzt an der University of London lehrende Neuzeithistoriker Norman Davies; er weist darauf hin, dass ein wesentlicher Bestandteil des Zweiten Weltkriegs, nämlich der japanisch-chinesische Kriegsschauplatz, bereits 1931 eröffnet worden sei:

„In any number of European history books, 1939 is the year when ‚the world went again to war‘, or words to that effect. In all chronologies except those once published in the USSR, it marks the ‚outbreak of the Second World War‘. This only proves how self-centered Europeans can be. War had been on the march in the world for eight years past. The Japanese had invaded Manchuria in 1931, and had been warring in central China since 1937.“

Norman Davies, Europe. A History. Pimlico, reprinted with corrections London 1997, S. 991, Hervorhebung durch dieses Blog

Und wiederum ein neues Licht auf die Verursachungskette, die zum Zweiten Weltkrieg führte, wirft der bereits mehrfach zitierte Heinrich August Winkler; er behauptet nämlich, die Sowjetunion habe einen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs geleistet:

Im Hitler-Stalin-Pakt hatten die beiden Diktatoren die Aufteilung Mitteleuropas in ihre Einflussbereiche besiegelt. Winkler, der aus seiner Kritik der russischen Politik gegenüber der Ukraine nie einen Hehl gemacht hat, wirft Putin vor, er rechtfertige indirekt die Annektion des damaligen Ostpolens und des Baltikums als „Gebot der sowjetischen Realpolitik“ – damit aber auch „den sowjetischen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Internet-Ausgabe vom 04.04.2015

Was oder wem sollen wir historischen Laien nun glauben, gerade wir Deutschen, wir „Nachkommen der Täter“, wie es so schön immer heißt, wir hier in Deutschland! Wir wissen doch, von wo die Zerstörung der ganzen Welt ausging! Wir sind doch am Zweiten Weltkrieg mit all seinen Schrecknissen und überhaupt an dem allen schuld, das wird man doch nicht ernsthaft bestreiten können! Das eint doch auch alle anderen Länder wie etwa Griechenland und Russland, dass wir Deutschen und nur wir Deutschen alle anderen Länder ins Verderben gezogen haben. Das haben Präsident Putin und Präsident Tsipras doch erst gestern wieder hervorgehoben: „Griechenland und Russland haben mehr als alle anderen mit ihrem Blut für den Kampf gegen den Faschismus bezahlt … Unsere Völker haben brüderliche Beziehungen geschmiedet, weil sie in kritischen Zeiten einen gemeinsamen Kampf geführt haben“, so wird Tsipras heute in der FAZ auf S. 2 zitiert.

Der heroische, letztlich siegreiche Kampf gegen den deutschen Faschismus und gegen Deutschland hält seit dem 8. Mai 1945 bis zum heutigen Tage – und heute mehr denn je – die europäischen Völker zusammen. Der Antifaschismus ist mehr denn je ein starkes Band!

Oder ist es etwa nicht so? Diesen Konsens darf man doch nicht in Frage stellen! Was machen denn die Historiker da?

Wir enthalten uns des letzten Urteils! Ich meine jedoch: eine gehörige Portion Skepsis gegenüber den heutigen Antifaschisten ist angebracht, insbesondere dann, wenn man immer wieder sieht, wie schnell in den Jahren 1943-1949 ein und dieselbe Person erst jahrelang fascista war und dann über Nacht antifascista wurde. Erst unterstützten sie – bis 1943 – Mussolini und Hitler, dann unterstützten dieselben Leute Stalin, Ho Tschi Minh und Chruschtschow.

Und die Sowjetunion unterstützte ab August 1939 bis zum 21. Juni 1941 das nationalsozialistische Deutschland militärisch und wirtschaftlich. Bis zum 21.06.1941 waren das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion darüber hinaus enge militärische Bündnispartner, dafür gibt es viele Zeugnisse in Wort, Bild und Ton. Das wird leider sehr oft unterschlagen.

Und das alles zu Zeiten, als der GULAG längst bekannt war, als die grauenhaften „Säuberungen“ der Tschekisten auch im Westen öffentlich genannt wurden.

Es bleibt erstaunlich: Drei anerkannte, habilitierte, an Universitäten lehrende Professoren für Neuzeitgeschichte setzen vier einander widersprechende Meinungen zur Auslösung des Zweiten Weltkrieges in die Welt. Nur eine Sicht kann doch die richtige sein, oder? Irgendwann muss doch die Wahrheit endgültig ermittelt sein, oder täuschen wir uns?

 Posted by at 12:59
Apr 042015
 

Die gegenwärtige Passionszeit bringt eine erhöhte Häufigkeit an theologischen, pseudotheologischen und kryptotheologischen Aussagen an den unvermutetsten Stellen mit sich. Was Nietzsche seinerzeit einem Hegel, einem Schelling vorwarf, dass sie nämlich keine echten Philosophen, sondern eigentlich „noch“ Theologen oder nur „Halbpriester“ seien, – was freilich Hegel und Schelling nicht als Vorwurf verstanden hätten, – das gilt in noch stärkerem Maße mitunter von den heutigen Historikern.

Was soll man etwa von folgendem Satz halten:
Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.

Ich meine: Dies ist ein rein theologischer Glaubenssatz, der nur vor dem Hintergrund des Johannes-Evangeliums sinnvoll zu verstehen ist (Joh 1,14). So wie in Jesus Christus Gott Fleisch geworden ist, also inkarniert ward, so ward in Deutschland und nur in Deutschland das absolute Böse inkarniert, also „eingekörpert“. Das ist der Dreh- und Angelpunkt so mancher Debatte, die sich damit von jeder Wissenschaftlichkeit entfernt. In solchen Sätzen entspringt die negative antideutsche Ideologie, die Germanophobie, die gerade in diesen Tagen wieder lebhaft beschworen wird.

„Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.“ Mit diesem „Credo in unum malum“ wurde jüngst ein namhafter, bestens ausgewiesener Neuzeit-Historiker von der Universität Freiburg zitiert (SZ, 20.03.2015). Hat er es wirklich so gesagt? Dies zu glauben fällt allerdings schwer. Aber der Satz wird ihm so zugeschrieben.

Wie auch immer: Es wimmelt in den zeitgeschichtlichen und politischen Debatten von derartigen Glaubenssätzen, es werden auf Schritt und Tritt Frageverbote, Tabus und Anathemata aufgestellt, es werden Bannflüche gegen Häretiker und Zweifler erlassen und Einzigartigkeitsthesen in den Raum gestellt, wie sie zu gottgläubigen Zeiten allenfalls an den theologischen Fakultäten noch denkbar waren.

Der deutsche Historikerstreit der Jahre 1986/1987 etwa, der ja um den Begriff der Einzigartigkeit kreiste, war im Grunde eine Art kryptotheologischer Debattierklub, bei dem umfassende Quellenaufarbeitung, vorurteilslose Beiziehung aller verfügbaren historischen Zeugnisse in den 10 oder 12 wichtigsten europäischen Sprachen (darunter auch Italienisch, darunter auch Russisch) fast keine Rolle spielten. Eine wissenschaftliche Bankrotterklärung. Ein Verzicht des historischen Begreifens auf jede Historisierung, ein Verzicht auf Motivationsforschung! Und dafür, für diese Selbstaufgabe der Wissenschaft, kann man bis in unsere Tage wahrlich zahllose Beispiele anbringen.

Wie steht es nun mit der logischen bzw. theo-logischen Kategorie der Einzigartigkeit? Das Eine, das Einzige, gibt es das? Falls ja, welche Aussagen kann man über das Eine sinnvollerweise machen? Ein uraltes philosophisches Problem, das Platon in seinem „Parmenides“ in vortrefflicher, später nicht mehr oder allenfalls bei Hegel erreichter Komplexität durchdenkt und in letztlich nicht auflösbare begriffliche Aporien hineinführt.

Der nicht logische, sondern theo-logische Ausweg aus diesen Aporien, den die berühmten drei monotheistischen Religionen suchten, lautete in etwa: „Es gibt nur eine einzige einzigartige Wesenheit – wir nennen diese singuläre Wesenheit Gott.“ Es gibt nur einen Gott. Ein Gott! Und wenn es nur Einen Gott gibt, so gibt es in der Zeitgeschichte nur Einen Teufel – eben Nazi-Deutschland. So einfach ist das. Sancta Simplicitas! Man kann es aus lauter Verzweiflung nur noch ins Lateinische übersetzen, um sich den versteckten theologischen Hintergrund der aktuellen zeitgeschichtlichen Debatten verständlich zu machen: „Germania nationalis-socialista vere incarnatio diaboli erat.“

Deutschland als Inkarnation des Bösen! Das ist natürlich keine Theologie, keine Historie, es ist keine Wissenschaft, sondern … es ist ein unbeweisbarer und auch unwiderlegbarer Glaube an das absolute Böse, das in Deutschland Fleisch geworden sein und unter uns gewohnt haben soll.

Quelle:
Johannes Wilms: Krieger, Sieger und Besiegte. Elmau, die Tagung: Historiker untersuchen Europas gefährdeten Frieden [=Tagungsbericht zur Elmauer Tagung „A peace to end all peace“]. Süddeutsche Zeitung, 20. März 2015, S. 12

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„Die Kunst immer zu borgen und nie zu bezahlen“

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Mrz 012015
 

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Einen vollkommen ernüchterten und gleichwohl hinreißenden Blick auf das römische Altertum warf der große deutsche Prosaschriftsteller Theodor Mommsen. Von der stillen Bewunderung, dem erhabenen Ah und Oh der Glyptotheken und der früheren Rom-Pilger war er meilenweit entfernt. Mit Blick auf das heutige Problem der überbordenden öffentlichen Verschuldung mag insbesondere folgendes feine, geradezu kupferstichartig ins Papier schraffierte Porträt des allmächtig-ohnmächtigen Diktators C. Julius Caesar (100-44 v. Chr.) eine Vorstellung von Mommsens meisterhaftem deutschem Stil bieten – wir zitieren das Prosa-Kabinettstück aus Bd. 3 der Römischen Geschichte:

„Auch er“, schreibt Mommsen und meint damit Caesar, „hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die Hefen gekostet, hatte recitirt und declamirt, auf dem Faulbett Litteratur getrieben und Verse gemacht, Liebeshändel jeder Gattung abgespielt und sich einweihen lassen in alle Rasir-, Frisir- und Manschettenmysterien der damaligen Toilettenweisheit, so wie in die noch weit geheimnißvollere Kunst immer zu borgen und nie zu bezahlen. Aber der biegsame Stahl dieser Natur widerstand selbst diesem zerfahrenen und windigen Treiben; Caesar blieb sowohl die körperliche Frische ungeschwächt wie die Spannkraft des Geistes und des Herzens.“

Man lese sich den Abschnitt ruhig einmal halblaut murmelnd vor! Das klingt und singt! Dieses Deutsch hat Biss, es tanzt, es lächelt, es hat Rhythmus und Stil, es erkennt Größe und Jämmerlichkeit in wenigen Sekunden als Nachbarn an. Man wird erkennen, dass Mommsen hier sein geistvolles Spiel mit historischer Größe treibt; seine wissenschaftliche Prosa ist mehr als nur objektivierende Wiedergabe des Geschehenen, sie ist auch und in einem damit Kunst; hier bekennt sich Geschichtswissenschaft dazu, dass sie niemals gegenständliche Wahrheit ein für allemal wird festhalten können, sondern in der Form der Darstellung, die dem Inhalt keineswegs nur äußerlich ist, eine Art Kupferstich dessen, „was gewesen ist“, oder vielmehr dessen, „wie es gewesen sein könnte“, liefert.

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig 1856, hier S. 428

Bild:
Ein klassisches Fahrrad, abgestellt auf der Großbeerenbrücke, aufgenommen heute um 13 Uhr im Kreuzberger Sprühregen

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Trouvaille des Tages auf dem Titel der Rechtschreibbibel

 Deutschstunde, Helmut Kohl  Kommentare deaktiviert für Trouvaille des Tages auf dem Titel der Rechtschreibbibel
Jan 152015
 

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Rechtschreibfehler bei der Sprach-Instanz: Der Duden als Naschlagewerk – Welt – Tagesspiegel.

Der Duden als Naschlagewerk? Herrliche Trouvaille, die uns der Tagesspiegel auftischt! Darüber sich lustig zu machen, ist jedoch unweise und kurzsichtig. Wenn man nämlich etwa seinen deutschen Luther im Original aus den Quellen liest, wird man erkennen, dass alle unsere heute gedruckten deutschen Texte gegenüber damals eine unvergleichlich größere Einheitlichkeit bieten als alles, was damals auch nur ein einzelner Deutschschreibender – etwa Martin Luther oder Albrecht Dürer – zu Papier gab.

Es fehlte schlechterdings jahrhundertelang eine in allen deutschen Gebieten anerkannte Rechtschreibnorm. Noch Goethe rang fast täglich im Verein mit dem damals führenden Wörterbuch, dem „Adelung“, mit seinen Sekretären und Verlegern um die jeweils beste, möglichst einheitliche Schreibung.

Nebenbei: Eine köstliche Nascherei bot damals im Jahr 1996 die 21. Auflage des Rechtschreibdudens; mancher hatte sich redlich abgemüht, die Feinheiten der „neuen Rechtschreibung“, der berühmten „Rechtschreibreform“ zu erlernen – eines elitären Unterfangens wohlbestallter Akademiker, das der ehemalige Bundespräsident Herzog „überflüssig wie einen Kropf“ nannte.

Roman Herzog: ein echter Populist der Mitte im besten Sinne, der kein Blatt vor den Mund nimmt und sich kein X für ein U vormachen lässt, damals wie heute – auch wenn es nicht bloß die deutsche Rechtschreibung, sondern den weit gravierenderen, sich zusehends verschärfenden Normenkonflikt  zwischen dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und dem durch ein fast unübersehbar kompliziertes Vertragswerk gesetzten Recht der Europäischen Union betrifft!

Wie überrascht sind manche, dass selbst die vertragsschließenden Parteien der EU-Verträge namentlich im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion immer wieder gegen die selbstverkündeten Regeln verstießen und weiterhin verstoßen – ein „Schandstück“, wie es recht undiplomatisch der Altkanzler Kohl (CDU) zu Protokoll gab.

Wie überrascht waren manche zu erkennen, dass selbst der Rechtschreibduden immer wieder gegen die selbstverkündeten Regeln verstieß und verstößt!

Seit jeher weist ja die deutsche Rechtschreibung – sowohl alt wie neu –  allerlei glitschige Klippen und Fallstricke auf. Unvergesslich bleibt mir da beispielsweise die genannte 21., 1996 erschienene Auflage des Mannheimer Rechtschreibdudens. Sie brachte neben den unvermeidlichen Flüchtigkeitsfehlern gleich mehrere dicke Zeichensetzungsfehler auf dem Umschlag des Buches (wie oben abgebildet).

Der Fehler bestand darin, dass mehrere Male freistehende Zeilen des Titels – also Überschriften – mit einem Punkt abgeschlossen wurden. Ja, wie denn das: Abschluss einer freistehenden, vom übrigen Text abgehobenen  Zeile mit einem Punkt? Dies gilt seit 1900 als falsch, obwohl es bis etwa 1900 gang und gäbe war. Auch die amtliche Neuregelung blieb bei diesem Prinzip; siehe § 68 der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung in der letzten Fassung von 2010: „Nach freistehenden Zeilen setzt man keinen Punkt.“

Lies das corpus delicti selbst:

Die deutsche Rechtschreibung

Das Standwerk zu allen Fragen der
Rechtschreibung

Auf der Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln.

Mehr als 115 000 Stichwörter […]

Schau genau hin! Siehst du den Fehler? Der Punkt hinter „Rechtschreibregeln“ ist strenggenommen fehl am Platze. Sei’s drum. Wir wollen nicht päpstlicher als der Papst sein. Die tüchtigen Frauen und Männer in der DUDEN-Redaktion sind sicher Manns genug, dieses kleine Interpunktions-Malheur, das auf dem Titel der 21. Auflage des Rechtschreibdudens von 1996 prangt, in ihr Kuriositätenkabinett aufzunehmen! Seien wir nachsichtig! Wer weiß, vielleicht steckt auch dieses Blog voll unbemerkter Rechtschreibfehler? Es wäre keine Schande und auch kein Schandstück!

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Martin Luther ’n‘ more

 31. Oktober 1517, Deutschstunde  Kommentare deaktiviert für Martin Luther ’n‘ more
Okt 282014
 

 

„So woltestu deinem Knecht geben ein gehorsam hertz / das er dein Volk richten müge / vnd verstehen / was gut und böse ist / denn wer vermag dis dein mechtig Volk zurichten?“

Ja, wer schreibt denn ein solches Deutsch? Würde derjenige, der ein solches Deutsch schrieb, auch nur einen Grundschulabschluss in heutiger Zeit erlangen? Die Frage muss offenbleiben. Dieses Deutsch schrieb Martin Luther.

Gute, erfrischende Einsichten verdanke ich dem letzten Besuch in Wittenberg. Das Luther-Haus strahlte und prangte  aus sich heraus mit wirklich bewegenden Einblicken. Hier nur zwei davon:

1) Die jetzige Ausstellung bietet weit mehr als Luther. Sie stellt Luther ins Beziehungsgefüge, weist etwa Katharina von Bora, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen einen nahezu gleichrangigen Platz zu. Die Reformation entsprang eben nicht aus dem Wirken eines einzigen Mannes; auch Luthers theologische Zweifel und religiöse Einsichten waren keineswegs revolutionär; Anselm von Canterbury, Jan Hus  oder Meister Eckhart, um nur einige zu nennen, waren als Theologen weit radikaler als Luther … aber sie waren doch eher Einzelne! Aber Luther schuf durch seine unvergleichliche, ungestüme Kraft und Leidenschaft den Gesamtklang, er wurde aber auch hineingetrieben in Verwerfungszonen, aus denen er nicht entkommen konnte, um ihn herum verdichteten sich historische Konstellationen so sehr, dass daraus in der Tat eine zentrale Wasserscheide der deutschen und europäischen Geschichte werden konnte – der Ideengeschichte, der politischen Geschichte, der Sprachgeschichte.

Und so wurde Martin Luther zu einem der wirkmächtigsten Theologen, die die römisch-katholische Kirche je hervorgebracht, nein: hervorgetrieben oder herausgetrieben hat.

2) Die neue Ausstellung im Lutherhaus stutzt die früheren hochtrabenden Ansprüche, Luther habe die moderne deutsche Sprache geschaffen, auf das richtige Maß zurück: „Luther förderte die Herausbildung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache.“ So steht es jetzt erklärend zu lesen im Lutherhaus, und genau so ist es richtig, so kann es jeder Germanist unterschreiben. Zweifellos war Luther ein herausragender Kenner und Meister des Deutschen, ein bedeutender Dichter, ein leidenschaftlicher Sänger und Musiker, ein bedeutender, vielleicht der bedeutendste Übersetzer deutscher Sprache, aber er war keineswegs der Schöpfer der heutigen deutschen Sprache, und er war nicht der einzige und nicht der erste, der sich um eine vollständige Übersetzung der Bibel ins Deutsche, ganz zu schweigen in eine europäische Volkssprache mühte.

Zwei volle Stunden verbachte ich am vergangenen Samstag im Lutherhaus zu Wittenberg. Man kann die neue Ausstellung im Lutherhaus in der jetzigen Gestalt gar nicht genug rühmen, sie bietet das beste auf, was heute im Bereich der Ausstellungsmacherei zu finden ist.  Im Refektorium schlug ich auf dem bereitstehenden Flügel folgerichtig und zielgerichtet die ersten Takte von „Nun danket alle Gott“ an, nachdem ich mich ausführlich dem Studium der 10 Gebote in der Darstellung von Lukas Cranach gewidmet hatte.

Zwei Stunden bräuchte ich, um alles nachzuerzählen, was ich dort sah, hörte, erlebte. Da ich aber heute nicht genug Zeit habe, mache ich hier einen vorläufigen Punkt, maßen ja schon der Dr Martin Luther sagt:

Steh bald auf,
machs maul auf
hoer bald auf.

 

 

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Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen

 Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Musik, Russisches, Singen, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen
Aug 182014
 

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Vielfache Hinführung zu den Herrlichkeiten der deutschen Kultur, zur Schönheit der deutschen Sprache verdanke ich der russischen, aus Moskau stammenden Altistin Irina Potapenko, die mittlerweile hier bei uns in Berlin-Kreuzberg lebt, singt und schafft. Ob nun die Einsamkeits-Gedichte Eichendorffs, die Mondscheinbilder Caspar David Friedrichs, die „Erbarme-dich“-Arie Johann Sebastian Bachs, all das, was bei uns smarten, smartphonegetriebenen Deutschen in Vergessenheit geraten ist, bringt sie mir immer wieder überzeugt und überzeugend zu Gehör und zu Gesicht. Freuen wir uns darüber.

„Sonne der Schlummerlosen“, das Lied von Hugo Wolf auf ein Gedicht von dem Briten Lord Byron, ist einer dieser Schätze der deutschen Kultur, zu denen mir Irina Potapenko durch ihren Gesang vor einigen Jahren den Zugang eröffnete. Es fiel uns wieder ein, als wir uns vor wenigen Tagen mehrere Nächte lang mit einem Teleskop auf den Weg in die russische Feldeinsamkeit, die russische Welteinsamkeit machten, um die Schönheit des Mondes zu bewundern, der am sternklaren Himmel seine Vollmondphase durchmaß.  Er war ja in jenen Nächten wenig mehr als 360.000 km entfernt, nach astronomischen Maßstäben also nur einen Katzensprung. Schönheit des Vollmondes bewundern? Ja, Schönheit, und zugleich schrundige, fast hässlich zu nennende Kahlheit trat in der 90-fachen Vergrößerung unseres guten französischen Teleskops hervor. Etwas jäh Zerrissenes, Angefressenes, Erbarmungswürdiges schien mir von dem bleichen Gesellen, dem Mond auszugehen. Wir sahen deutlich die schnurgeraden, wie mit dem Lineal geritzten Linien, die „Mondkanäle“, die Blasen, die aufgequollenen Krater, die jahrmillionenlang von Kometen und Asteroiden zerpflügten Felder.

Am dritten Tag, als der Mond schon deutlich im Abnehmen begriffen war, trat an der im spiegelverkehrten Sichtfeld des Teleskops linken, real also der rechten Seite des Mondes eine unglaublich schroffe Eindellung, etwas Eingefressenes hervor, ein riesiger, sicherlich mehr als 30 km runder Krater, wodurch der Mond tatsächlich wie ein angebissener Apfel aussah, vergleichbar dem Logo des US-amerikanischen Smartphone-Herstellers Apple.

Mich durchfuhr der Gedanke: „Aber … das ist ja alles unglaublich schön, schrecklich, mitleiderregend, ehrfurchteinflößend!“

Und doch – es war nur der Mond. Ein einsamer Gesteinsbrocken, ein Geröllklumpen, mitleidlos gekettet seit wohl 4,5 Milliarden Jahren an unsere Erde, der er nicht entkommen kann, und dem wir nicht entkommen können und nicht entkommen wollen.

Ich setze hier eines der Fotos hinein, die ich zusammen mit Ivan, einem meiner Söhne, am Ufer des Moskau-Flusses aufnahm, entstanden am 10. August 2014 um 23:22:44 Uhr.

Hört das Lied hier:

Hugo Wolf – „Sonne der Schlummerlosen“ Byron – Fischer-Dieskau, Moore – YouTube.

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Wer oder was ist das – der „Freund und Kupferstecher“?

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Jul 232014
 

Königin Luise 2014-06-01 13.55.09 In einer kleinen Gesellschaft von Kunstfreunden warf gestern unter dem breitschattenden Geäst herrlicher alter Bäume beim Gespräch über eine Grafik-Ausstellung jemand die Frage auf:

Woher kommt eigentlich die Redensart „mein Freund und Kupferstecher“? Ich selbst hörte sie mehrfach von Lehrern in meiner Jugend, wenn ich etwas ausgefressen hatte, was nicht ganz astrein war.

Die Frage verhallte gestern ohne Antwort, eine kleine Nachforschung ergab heute folgendes: Die ironisch-tadelnde Redensart „mein Freund und Kupferstecher“, die z.B. in Fontanes „Frau Jenny Treibel“ vorkommt, dürfte darauf zurückgehen, dass der Druckgrafiker oder „Kupferstecher“ das Werk eines anderen, z.B. eines Malers oder Banknotenausgabehauses, ohne schöpferische Eigenleistung reproduzierte und auch wirtschaftlich weidlich ausnutzte. Dafür war Vertrauen oder Freundschaft bitter nötig. Oft genug mochte das Vertrauen auch enttäuscht worden sein. Das Betrugspotenzial in der Branche war groß. Der Kupferstecher war nach heutigen (nicht damaligen) Maßstäben also ein Falschmünzer des Geistes. Und der entwerfende Künstler, dem die „Erfindung“ glückt, muss trachten, dass der Kupferstecher sein „Freund“ bleibt und ihn nicht nach allen Regeln der Kunst über den Tisch zieht.

Erstaunlich, dass es z.B. im Italienischen keine verwandte Redensart gibt, jedenfalls ist mir keine bekannt. Anzi – im Gegenteil! „Sia detto per inciso“ – „Es sei hiermit im Kupferstich bzw. als Radierung gesagt“ bedeutet ja auf gut Deutsch klipp und klar: „nebenbei gesagt“.

Einer der rätselhaftesten Kupferstiche, die ich je sah, vielleicht überhaupt der rätselvollste, scheint diese Erklärung zu bestätigen! Es handelt sich um die „Allegorie der Vertreibung aus dem Paradies und das Opfer Abels“, die nach heutigem Forschungsstand aus der Werkstatt des Agostino Veneziano (ca. 1490-1540)  stammt. Selbst nach mehreren Anläufen und Gesprächen mit Kunstkennern ist es mir bisher nicht gelungen, eine stimmige Deutung dieser Darstellung zu erarbeiten. Bereits der Titel dürfte eine spätere Zuschreibung sein. Der kenntnisreiche Kommentator DK, der seinen Namen verschweigt – selbst in dieser Chiffre scheint noch ein Rätsel zu stecken – schreibt, als Erfinder dieser spannungsreichen Darstellung gelte Amico Aspertini, und er fährt fort: „Über den Kupferstecher, der das Blatt schließlich nach Amicos Entwurf ausführte, gab es lange Uneinigkeit in der Forschung […]“

Amico heißt nun aber auf Italienisch der „Freund“!

Wir dürfen schematisch feststellen: Der „Freund/Amico“ hat den kreativen Einfall, der „Kupferstecher“ führt den Einfall des Amicos, des Freundes aus! Könnte diese Tatsache, dass der Einfall des „Freundes“ vom „Kupferstecher“ übersetzt und ausgeführt wird, etwas zur Entstehung der Redensart „Freund und Kupferstecher“ beitragen? Wir wissen es nicht. Die Frage muss für heute und vielleicht auch überhaupt offen bleiben.

Quelle: Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien. Für das Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin. Ausstellungskatalog hgg. von Dagmar Korbacher mit Beiträgen von Christophe Brouard und Marco Riccòmini. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 46-47

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