Nov 142015
 

Wertvolle, nachhaltige Einsichten in die vielen Arten, wie man auf deutschen Bühnen ein beliebiges Theaterstück zerlegen, zerfetzen, zerstören kann, bot gestern das Opfer des Abends: „Clavigo nach Johann Wolfgang Goethe“. Als Spielstätte gab sich das Deutsche Theater her.

Hier die wesentlichen Regieanweisungen, mit denen es jedem Regisseur gelingen kann, jedes beliebige Stück von Aischylos über Goethe bis Heinar Kipphardt erfolgreich unkenntlich zu machen:

1) Gebt ihr ein Stück, gebt es gleich in Stücken! Kein Handlungsstrang soll erkennbar sein. Alles wird aufgelöst. Es geschieht sehr viel, aber es gibt keine fortlaufende Handlung mehr.

2) Solch ein Ragout, es muss euch glücken: Man begnügt sich nicht mehr mit einem Stück. Nein, mindestens drei Theaterstücke Goethes werden hineingequirlt, daneben noch Briefe, Kommentare, eine kleine Gardinenpredigt von Jean Ziegler darf auch nicht fehlen.

3) Lasst sie schreien, stöhnen, nuscheln – doch lasst sie niemals sprechen. Sie, die Schauspieler, können nicht mehr bühnentauglich sprechen. Oder sie dürfen nicht mehr bühnengerecht sprechen. Es gab an dem Abend keinen einzigen Satz, der mit sinnvoller Betonung gesprochen worden wäre. Schönheit des gesprochenen, des dichterischen Wortes erwarteten wir ja schon nicht mehr. Aber Sinn. Die jüngeren Schauspieler bekommen in Deutschland offenbar keinerlei Sprechausbildung mehr. Ihre Stimmen tragen nicht. Deshalb müssen sie auch fast ohne Pause durch ein Mikrophon verstärkt werden. Alles wurde gepresst, geschrieen, verzerrt, vieles wurde durch den Computer gejagt. Arme Schauspieler!

4) Sprechtheater ohne Sprechen! Goethes Text wurde ohne Gefühl für Sprache, ohne jeden Respekt vor dem Wort, ohne Achtung vor dem Zuschauer angeboten. Es wird stattdessen ein gigantischer technischer und medialer Aufwand getrieben. Die Schauspieler werden zum Bestandteil einer übergroßen, überteuerten Maschinerie gemacht.

5) Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten. Clavigo, Beaumarchais, Buenco wurden durch Frauen gespielt. Ist ja nicht uncool. Aber warum? Sollte nachgewiesen werden, dass Genderrollen sozial konstruiert werden? Der Nachweis wäre misslungen. Das ganze Stück funktioniert so nicht.

6) Auf offener Bühne wurde gegen Ende ein versuchter Selbstmord vorgeführt. Ein/E Schauspieler/In zog sich eine Plastiktüte über ihr/sein/-en Kopf, doch brachte er/sie sich dann doch nicht um. Und es waren Kinder und Jugendliche im Saal!

7) Insgesamt wohnten wir einem suizidalen Umgang mit Sprache, einem suizidalen Umgang mit Texten, einem suizidalen Umgang mit Kunst bei. Goethe wird es vielleicht überleben. Vielleicht auch nicht. Es gibt Schlimmeres als einen solchen Theaterabend. Die Ereignisse in Paris brachten uns dies entsetzlich nahe. Es regnete, als wir das Theater verließen. Durchnässt wie ein Pudel kam ich zuhause an.

 Posted by at 16:46

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