Unité nationale? 3 Sprachen, 4 Sichtweisen!

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Jan 152015
 

Spannendes Überfliegen der heutigen Süddeutschen (München), der heutigen Monde (Paris), der heutigen New York Times über die Ereignisse der letzten Woche!

Die New York Times geht hinein in die Stadtränder, die Massenquartiere, z.B. Vaulx-en-Velin bei Lyon. Die Mehrheit dort fühlt sich nicht einbezogen, nicht angesprochen, nicht gemeint vom offiziellen Frankreich. Die Sympathien der jungen Französinnen und Franzosen, die im Artikel auf S. 4 zitiert werden, liegen teils auf Seiten der Ermordeten, teils aber auch auf Seiten der Täter.

In der Süddeutschen erkennt Joschka Fischer auf S. 2, welch tiefer Riss sich zwischen den drei größten Volkswirtschaften der Euro-Zone auftut. Er erkennt, dass der Unmut etwa der Italiener sich nicht nur gegen die „Austerity“ (also die Einhaltung der EU-Verträge) richtet, sondern zunehmend gegen das ganze Währungssystem und folglich auch gegen die gesamte EU. Fischer wiederholt das endlose Mantra der Regierenden, die bisher nirgendwo bewiesene Behauptung, kein einziges Problem, vor dem Europa stehe, sei allein und national besser zu lösen als innerhalb der EU. Warum sollen wir das glauben, Herr Fischer? Bedenken Sie: Die EU, namentlich die Eurozone steht doch insgesamt derzeit schlechter da als einzelne Staaten, die salopp gesagt ihr eigenes Ding machen wie etwa das clevere Luxemburg (der absolute Einkommens-Überflieger in der EU – wie machen die das?), die clevere Schweiz, Singapur, die stolzen USA oder das reiche Norwegen.

L’union nationale, jusqu’à quand?“ In der Monde fällt auf, wie stark das offizielle Frankreich auf der Einheit der Nation pocht, wie sehr die republikanischen Werte beschworen werden. „Wir sind doch alle Franzosen, der französische Staat schützt jeden einzelnen seiner Bürger – unabhängig von Rasse, Religion, Hautfarbe und Herkunft“, so lassen sich die Äußerungen zusammenfassen. Aber auf S. 5 erwähnt das Blatt auch, dass die Zeitschrift Charlie Hebdo seit 1992 48 Mal vor Gericht verklagt und neun Mal verurteilt worden ist, hauptsächlich wegen „Verleumdung“. Vor französischen Gerichten!  Auffallend, dass fast nirgendwo in der französischen Debatte ein Bezug auf andere EU-Länder genommen wird!

Kurz: Die drei genannten Zeitungen bieten heute wie so oft einen Beleg für das ganz unterschiedliche Meinungsbild in Frankreich, Deutschland und den USA. Diese Vielfalt ist spannend, sie lässt die Eigenarten der Nationen schroff und unverbrämt hervortreten: zunächst einmal das pathetische, typisch deutsche Bekenntnis eines Joschka Fischer zu europäischen Werten, die unrealistische, nur in Deutschland verbreitete Einschätzung, dass die Nationen eine Sache der Vergangenheit seien und dass die Zukunft den großen überstaatlichen Machtverbünden gehöre – dann das gespaltene gesellschaftliche Bewusstsein der französischen Nation, die immer wieder den Zusammenhalt beschwört – und schließlich der realistische, ernüchterte Blick der USA auf tatsächliche Verwerfungen in den heterogenen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften der heutigen Einwanderungsländer.

 

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Was kommt am Ende des Lateins – Englisch, Europäisch oder Globisch?

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Okt 022014
 

Die EZB ist am Ende ihres Lateins„, so konstatiert der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Georg Fahrenschon unumwunden am 27./28.09.2014  in der Berliner Zeitung auf S. 10. Sie habe ihr Pulver bereits weitgehend verschossen; die Untätigkeit der Regierungen der Euro-Zone habe die EZB in eine Rolle gedrängt, die ihr nie und nimmer hätte zukommen dürfen. Fahrenschon sagt:

Stück für Stück wird die EZB zu einer Art europäischer Ersatzregierung.“

„As joblessness stays high and prices fall, pressure is mounting on E.C.B.“, sagt die International New York Times gleichlautend am 1. Oktober 2014 auf S. 17. Überall richten sich die Augen auf die EZB, der Politik wird offenbar gar nichts mehr zugetraut.

Die Geldpolitik der EZB wird ein Surrogat der gescheiterten Wirtschaftspolitiken der EU, ein derartig einhelliges Resultat findet sich kaum je sonst bei politischen Streitfragen.

Die Regierungen und die EZB sind am Ende des Lateins, was tun sie? Sie erfinden Wunderprogramme in englischer Sprache: Quantitave easing und Asset backed securities. Was bedeutet das? Wer weiß es? Wer würde heute zugeben, dass er kein Englisch kann? Also schweigt man lieber und hält die Füße still. Das ist das Ende jeder echten Debatte! Das ist die Selbstenteignung der Politik.

Englisch, Globisch, Europäisch, – ist doch alles egal.

Aber: In den drei größten Volkswirtschaften der Euro-Zone wird Deutsch, Französisch und Italienisch gesprochen. Die politischen Debatten finden hier auf Italienisch, Französisch und Deutsch statt. Und sie laufen seit Jahren kreuz und quer gegeneinander. Es ist doch unerträglich, dass über Wohl und Wehe eines riesigen Wirtschaftsraumes entschieden wird, ohne dass die maßgeblichen Politiker und die Bürger imstande wären, die Grundlagen ihrer Entscheidungen angemessen bei den anderen Partnern darzustellen. Ebensowenig VERSTEHEN die Politiker und die Bürger das, was jenseits der eigenen Landesgrenzen geschrieben und gesagt wird. Vor allem aber sind die Dokumente in einem für die Politiker und die Parlamentarier  nicht verständlichen Englisch, einem krausen Finanz-Globisch abgefasst, das bewusst geheimnisvoll und unverständlich daherkommt.

Folge: Die EU versucht nunmehr, alles im Bankwesen über einen Leisten zu schlagen. Sie ebnet die Unterschiede ein. Das deutsche Bankensystem – untergliedert in Sparkassen, Privat- und Genossenschaftsbanken – wird diese Gleichschaltung durch die EU vermutlich nicht überleben. Es werden die großen Geschäftsbanken  („too big to fail“) übrigbleiben, die nach und nach die kleineren Häuser übernehmen. Die kleinen Genossenschaftsbanken, die Kreissparkassen usw. werden vor dieser Gleichmacherei mit all den Stresstests wohl nicht bestehen können.

Wollen wir das? Wollen wir diese Uniformierung, diese Gleichmacherei der 28 Länder, von oben her verfügt durch die zentrale Gesetzgebungsbehörde, die Europäische Kommission?

Die Warnungen Georg Fahrenschons sollten nicht in den Wind geschlagen werden.

Interview zur Zinspolitik der EZB: Sparkassenchef warnt vor Enteignung der Bankkunden | Wirtschaft – Berliner Zeitung.

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Widerspiegelungen: Sonne der Schlummerlosen

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Aug 202014
 
2014-08-10 23.22.44












Otto Gildemeister schrieb einmal:

Sonne der Schlummerlosen, bleicher Stern!
Wie Tränen zittern, schimmerst du von fern;
Du zeigst die Nacht, doch scheuchst sie nicht zurück,
Wie ähnlich bist du dem entschwundnen Glück,
Dem Licht vergangner Tage, das fortan nur leuchten,
Aber nimmer wärmen kann!
Die Trauer wacht, wie es durchs Dunkel wallt,
Deutlich doch fern, hell, aber o wie kalt!

Einen ganz ähnlichen Text verfasste auch einmal George Gordon Byron:

Sun of the sleepless! melancholy star!
Whose tearful beam glows tremulously far,
That show’st the darkness thou canst not dispel,
How like art thou to joy remember’d well!

So gleams the past, the light of other days,
Which shines, but warms not with its powerless rays;
A night-beam Sorrow watcheth to behold,
Distinct but distant — clear — but, oh how cold!

Was ist Original, was ist Übersetzung?
Wer weiß das immer zu sagen.
Wir neigen dazu, dem Original größere Überzeugung,
größere Echtheit zuzuschreiben.
Das kann jeder in sich selbst nachprüfen.
Nehmen wir doch nur zwei Gedichte,
die dasselbe besagen.
Man mag beide Texte vor sich hinmurmeln.
In ihrer Art sind sie zweifellos
vollkommen schöne Kunstwerke,
die „aus sich selber scheinen“.
Und doch ist einer der Texte
die Übersetzung des anderen.
Der eine spiegelt sozusagen
das erborgte Licht des anderen wider,
wie der Mond das erborgte Licht
der Sonne widerspiegelt.

Vieles spricht dafür, dass wir Texte
in der eigenen Muttersprache als
„Original“ empfinden, Texte in Fremdsprachen
als nicht ganz so echt.
Nur in der Muttersprache erreichen uns
die Worte ganz tief,
ganz tief drinnen.
Subjektiv gilt:
Für den deutschen Leser schrieb
Gildemeister auf Deutsch
ein echtes originales Gedicht,
Byron schrieb
eine englische Übersetzung.
Für den englischen Leser
ist es umgekehrt.

Wer hat recht?
Hier schrieb – objektiv gesehen – Byron
das Original genial in Englisch,
Gildemeister übersetzte nachschaffend,
kon-genial ins Deutsche.

 

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Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen

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Aug 182014
 

2014-08-10 23.22.44

 

 

 

 

 

 

 

 

Vielfache Hinführung zu den Herrlichkeiten der deutschen Kultur, zur Schönheit der deutschen Sprache verdanke ich der russischen, aus Moskau stammenden Altistin Irina Potapenko, die mittlerweile hier bei uns in Berlin-Kreuzberg lebt, singt und schafft. Ob nun die Einsamkeits-Gedichte Eichendorffs, die Mondscheinbilder Caspar David Friedrichs, die „Erbarme-dich“-Arie Johann Sebastian Bachs, all das, was bei uns smarten, smartphonegetriebenen Deutschen in Vergessenheit geraten ist, bringt sie mir immer wieder überzeugt und überzeugend zu Gehör und zu Gesicht. Freuen wir uns darüber.

„Sonne der Schlummerlosen“, das Lied von Hugo Wolf auf ein Gedicht von dem Briten Lord Byron, ist einer dieser Schätze der deutschen Kultur, zu denen mir Irina Potapenko durch ihren Gesang vor einigen Jahren den Zugang eröffnete. Es fiel uns wieder ein, als wir uns vor wenigen Tagen mehrere Nächte lang mit einem Teleskop auf den Weg in die russische Feldeinsamkeit, die russische Welteinsamkeit machten, um die Schönheit des Mondes zu bewundern, der am sternklaren Himmel seine Vollmondphase durchmaß.  Er war ja in jenen Nächten wenig mehr als 360.000 km entfernt, nach astronomischen Maßstäben also nur einen Katzensprung. Schönheit des Vollmondes bewundern? Ja, Schönheit, und zugleich schrundige, fast hässlich zu nennende Kahlheit trat in der 90-fachen Vergrößerung unseres guten französischen Teleskops hervor. Etwas jäh Zerrissenes, Angefressenes, Erbarmungswürdiges schien mir von dem bleichen Gesellen, dem Mond auszugehen. Wir sahen deutlich die schnurgeraden, wie mit dem Lineal geritzten Linien, die „Mondkanäle“, die Blasen, die aufgequollenen Krater, die jahrmillionenlang von Kometen und Asteroiden zerpflügten Felder.

Am dritten Tag, als der Mond schon deutlich im Abnehmen begriffen war, trat an der im spiegelverkehrten Sichtfeld des Teleskops linken, real also der rechten Seite des Mondes eine unglaublich schroffe Eindellung, etwas Eingefressenes hervor, ein riesiger, sicherlich mehr als 30 km runder Krater, wodurch der Mond tatsächlich wie ein angebissener Apfel aussah, vergleichbar dem Logo des US-amerikanischen Smartphone-Herstellers Apple.

Mich durchfuhr der Gedanke: „Aber … das ist ja alles unglaublich schön, schrecklich, mitleiderregend, ehrfurchteinflößend!“

Und doch – es war nur der Mond. Ein einsamer Gesteinsbrocken, ein Geröllklumpen, mitleidlos gekettet seit wohl 4,5 Milliarden Jahren an unsere Erde, der er nicht entkommen kann, und dem wir nicht entkommen können und nicht entkommen wollen.

Ich setze hier eines der Fotos hinein, die ich zusammen mit Ivan, einem meiner Söhne, am Ufer des Moskau-Flusses aufnahm, entstanden am 10. August 2014 um 23:22:44 Uhr.

Hört das Lied hier:

Hugo Wolf – „Sonne der Schlummerlosen“ Byron – Fischer-Dieskau, Moore – YouTube.

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Spring, wenn du dich traust!

 Freude, Gemeinschaft im Wort, Kinder, Russisches, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Spring, wenn du dich traust!
Aug 162014
 

2014-08-13 17.06.24

Bezaubernde Augenblicke, herrliche Gespräche zwischen Jung und Alt, zwischen Russen, Ukrainern und Deutschen konnte ich wieder bei meinem letzten Aufenthalt am Fluss Moskwa in Russland erleben, der soeben zu Ende gegangen ist! Als unerschöpfliche Quelle von Kontakten und Überraschungen erweist sich wieder einmal die Tarzanka am Fluß  bei uns in Nikolina Gora. Die Kinder springen voller Wonne, voller Selbstvertrauen in den Fluss, einige klettern mit unfassbarer Behendigkeit die Stämme hoch, um das Seil mal höher, mal tiefer zu legen, je nachdem, wer gerade springt, schaukelt oder schwingt!

„Können Sie eigentlich auch springen?“, fragt mich die achtjährige Natascha. Und ihr Blick sagt: „Spring, wenn du dich traust!“  „Ja!“, erwidere ich. Aber meine Springversuche sind viel zu zaghaft, sie rufen eher Belustigung als Bewunderung hervor. Sei’s drum. Für eine Ausbildung zum echten Tarzan bin ich etwas zu alt.

Die Zukunft an der Tarzanka und an allen anderen Orten gehört  den Kindern aus Russland, Ukraine, Deutschland – aus allen europäischen Ländern, ja aus allen Ländern der Welt überhaupt. Vielleicht ist dies eine Botschaft, die ich mit nachhause bringe: Wir Erwachsenen haben kaum eine wichtigere, kaum eine schönere Aufgabe, als den Kindern ein sicheres, geborgenes Hineinwachsen in die Freiheit des Springens zu ermöglichen.

Umgekehrt versuche ich in der Datscha zu punkten beim kleinen Tima, der im Alter von 6 Jahren bereits erste Fremdsprachenkenntnisse erworben hat. Unsere Konversation läuft schon ganz gut, doch bei den Abschiedsgrüßen, die wir auf Russisch, Deutsch und Polnisch austauschen, sieht er mich plötzlich forschend, unverwandten Blicks an und stellt auf Russisch die Frage: „Können Sie eigentlich auch Englisch?!“

Ich war in der Zwickmühle. Was sollte ich antworten? Würden meine Englischkenntnisse ausreichen, um ihm das Wasser zu reichen? Ich gehe das Wagnis ein und sage: да! Und jetzt kommt der ultimative Test für mich!

Tima sagt in hellem, klarstem Englisch zu mir:  „Goodbye!“

Und stellt euch vor: Ich wusste die Antwort darauf. Ich war nicht überfordert! Das also wenigstens konnte ich.

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Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?

 Frau und Mann, Integration durch Kultur?, Katharina, Krieg und Frieden, Russisches, Sprachenvielfalt, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?
Aug 042014
 

Meine lieben Russen sagen dies, meine lieben Ukrainer sagen das. Dies oder das – wer weiß da noch, wer recht hat? Vielleicht beide, oder? Ich würde sagen: Versöhnt euch lächelnd und lachend, o ihr Russen, und o ihr Ukrainer.

War Mikola Gogol bzw. Nikolai Gogol eigentlich Russe oder Ukrainer? Eine endlos zu diskutierende Frage! Ich selber halte mich bedeckt dazu. Wer bin ich, dass ich darüber urteilen könnte? Ein bayerisches Nichts, ein schwäbischer Niemand!

Der große ukrainisch-russische Schriftsteller schrieb seine Werke auf Russisch und zollte nichtsdestotrotz lebenslang seiner ukrainischen Herkunft dankbar lächelnd oder auch laut lachend Tribut. Und über die Missstände im russischen Riesenreich schrieb er – Bände. Der Revisor ist eine einzige lachhafte Anklageschrift gegen Duckmäusertum, Passivität, Spiegelfechterei und blinde Unterwerfung gegenüber den Autoritäten des riesigen Reiches.

Ukrainer oder Russe? S’ist unerfindlich, wie es Nathan der Weise  in Lessings Nathan dem Weisen sagt. In jedem Fall – ich erinnere mich einer sehr unterhaltsamen Puppentheater-Aufführung seiner „Schuhe der Zarin oder die Nacht vor Weihnachten“ – die wir vor einigen Jahren zur Weihnachtszeit in Moskau belachten.

Bullernde Wärme herrschte drinnen in der guten Stube im tiefverschneiten knackig-frostigen russisch-ukrainischen Winter. Deutlich hörte ich den strengen deutschen Akzent heraus, mit dem die Zarin Katharina die Große sich zum Thema Schuhe äußerte. Die FRAU und die Welt der SCHUHE – ein endloses, für Männer kaum eindeutig zu entwirrendes Drama. Hat Gogol das ganze Drama je durchschaut? Ich bezweifle dies sehr. Den ukrainischen Akzent des Schmieds hörte ich damals noch nicht heraus, meine bayrisch-schwäbischen (oder deutschen?) Ohren waren vollauf beschäftigt, der verworrenen Handlung in dem ukrainischen Dorf mehr oder minder vollständig zu folgen. Eher minder. Aber es war verteufelt, der Teufel steckte noch im kleinsten Detail.

Ich denke – niemand hindert die Russen und die Ukrainer daran, sich gemeinsam lachend über ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu freuen. Große Schriftsteller können Brücken schlagen.

 

 

 

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„Sehnsucht nach Sprachergänzung“. Zu Sophokles, Oedipus auf Kolonos, Vers 685-693

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Mai 092014
 

Vorgestern benannten wir Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als tastenden Versuch, über das Ausgesagte hinaus zu einem reinen Sagen zwischen den Sprachen zu gelangen. Ist diese Hypothese  überhaupt sinnvoll?

Benjamin behauptet genau dies und spricht in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ von der Ergänzungsbedürftigkeit des Originals. Die zu übersetzende Sprache verlange danach, durch den Akt der Übersetzung über sich hinauszuwachsen, sich anzureichern mit einer Sinnfülle, die vorher nicht da war. Ein kühnes Unterfangen! Wir werden dies morgen anhand eines vorliegenden Textes nachzuvollziehen versuchen.

Hier schon einmal unsere kleine Gewebeprobe für den Untersuchungstisch. Ein Chorlied aus der Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles, dessen Übersetzung durch Hölderlin wir vorgestern anführten:

οὐδ᾽ ἄϋπνοι
κρῆναι μινύθουσιν
Κηφισοῦ νομάδες ῥεέθρων,
ἀλλ᾽ αἰὲν ἐπ᾽ ἤματι
ὠκυτόκος πεδίων ἐπινίσσεται
ἀκηράτῳ σὺν ὄμβρῳ
στερνούχου χθονός: οὐδὲ Μουσᾶν
χοροί νιν ἀπεστύγησαν οὐδ᾽ ἁ
χρυσάνιος Ἀφροδίτα.

Sophocles. Sophocles. Vol 1: Oedipus the king. Oedipus at Colonus. Antigone. With an English translation by F. Storr. The Loeb classical library, 20. Francis Storr. London; New York. William Heinemann Ltd.; The Macmillan Company. 1912.

via Sophocles, Oedipus at Colonus, line 681.

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Strömende Sprachen

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Mai 072014
 

2014-05-01 13.09.53

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noch mindern sich die schlummerlosen Quellen,
die in Wasser des Cephissus sich teilen,
Sondern immer und täglich
kommt der schnellererzeugende über die Felder,

Mit reinen Regengüssen
Über die Brust der Erde.

Also wendete Friedrich Hölderlin einen Chor aus dem griechischen Ödipus auf Kolonos ins Deutsche. Wir hören nur hinein. Wir halten das Ohr in diesen silbrig schimmernden Sprach-Fluss, uneingedenk der Bedeutung! Ist es eine richtige Übersetzung? Ist es die beste mögliche Übersetzung?

Über Hölderlins Sophokles-Übersetzungen vermerkte der deutsche Philosoph Walter Benjamin einmal mit furchtsam-vorsichtiger Bewunderung, dass in ihnen der Sinn von Abgrund zu Abgrund stürze, bis er in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren drohe. „Aber es gibt ein Halten. Es gewährt es jedoch kein Text außer dem heiligen, in dem der Sinn aufgehört hat, die Wasserscheide für die strömende Sprache und die strömende Offenbarung zu sein. Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin. Nicht allein um seinet-, sondern allein um der Sprachen willen.“

In Hölderlins Dichtung wie auch in Benjamins Besinnungen wird etwas wie das vorbegriffliche Sprechdenken erfassbar, hörbar, erahnbar.

 

Quellen:
Friedrich Hölderlin: Chor aus dem Oedipus auf Kolonos. In: ders., Werke und Briefe. Herausgegeben von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Zweiter Band. Der Tod des Empedokles. Aufsätze, Übersetzungen, Briefe. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 791

Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1980 [=suhrkamp taschenbuch 345], S. 50-62, hier S. 62

Bild:
Ein kleiner Teich im Thüringer Wald (der Knöpfelsteich?), am Anstieg zum Rennsteig hoch von der Wartburg aus. Aufnahme des Wanderers vom 01.05.2014

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Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie, oder: Was uns an Europa bindet

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Sep 262013
 

Reiterhof 2013-05-11 08.22.10

Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie.
Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie,
Kto cię stracił. Dziś piękność twą w całej ozdobie
Widzę i opisuję, bo tęsknię po tobie…

Was hält den Kontinent Europa zusammen? „Die Europäische Union – selbstverständlich!“, werden mir viele zurufen. „Der Euro – unsere geliebte Währung ist die entscheidende Klammer Europas!“, „Die Erinnerung an die unnennbaren Verbrechen, die die Deutschen überall in Europa begangen haben, nie mehr dürfen die Deutschen so viele Verbrechen begehen, wie sie sie von 1914 bis 1945 überall in Europa begangen haben!“, schallt es aus allen anderen 27 Ländern der EU uns Deutschen entgegen.

So sind auch die sieben Kreise der europäischen Erinnerung aufzufassen, die Claus Leggewie – ähnlich den Höllenkreisen des Danteschen Inferno – an den Anfang seines Buches über die europäische Erinnerung stellt. Und im Zentrum steht der Holocaust – er ist das Factum absolutum der europäischen Identität, an dem jeder Zweifel, jede Relativierung mittlerweile gesetzlich verboten und untersagt ist. Vergleichbar dem summum bonum der mittelalterlichen Theologie, hat sich mittlerweile unumstößlich eine negative Geschichtstheologie in Europa etabliert, an deren Wurzel die deutschen Verbrechen stehen.

Polens Außenminister Radosław Sikorski scheint allerdings laut neuestem ZEIT-Interview nicht ganz mit dieser allgemein akzeptierten Absolutsetzung des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden  einverstanden zu sein: er fordert von uns Deutschen, wir sollten uns nicht immer nur für den Holocaust schämen, sondern ebenso sehr (oder fast so sehr?) dafür, wie unsere Väter und Großväter sich in Polen aufgeführt haben. Sikorski sagt, nachdem er die Erinnerung von uns Deutschen an Holocaust und Stalingrad gewürdigt hat, wörtlich: „Aber Sie [= Sie Deutsche] geben sich wenig Mühe zu erfahren, wie Ihre Väter oder Großväter sich bei uns aufgeführt haben.“

Kurz: Nicht nur der Holocaust, sondern auch die Zerstörung Polens, die Ermordung von vielen Millionen Polen soll konstitutiv für das deutsche und europäische Geschichtsbewusstsein werden. Geschichtstheologisch hat Sikorski sicher recht: die Ermordung von etwa drei Millionen nichtjüdischen Polen ist sicherlich genauso schlimm wie die Ermordung der etwa 3 Millionen polnischen Juden.

Sofern dies keine Relativierung oder schlimmer noch strafbare Verharmlosung („Kontextualisierung“)  des Holocaust darstellt, worüber man aber bei den deutschen Richtern nie sicher sein kann, hat Sikorski vor europäischen Gerichten nichts zu befürchten. Entscheidend ist: Leggewie und Sikorski begründen das einigende Band ausschließlich negativ: „Europa soll zusammenwachsen, damit es nie wieder so schlimm wird, wie die Deutschen es einmal getrieben haben.“

Die EU, namentlich der Euro,  ist also im Grunde ein metaphysisches Projekt zur Abschaffung des in Deutschland verkörperten Bösen in der europäischen Geschichte. Es ist, als würde landauf, landab verkündet: Solange der Euro hält und solange die von den Deutschen begangenen Verbrechen, insbesondere der von den Deutschen begangene Holocaust nicht als absolutes Böses der Weltgeschichte angezweifelt wird, sondern durch eifriges Gedenken und eifriges Feiern wachgehalten wird, geht es Europa gut.

Wie hängt beides zusammen? Nun, der Holocaust spielt mittlerweile eine ähnlich absolut gesetzte dogmatische Rolle in der Vergangenheitstheologie, wie sie der Euro in der dogmatisch überhöhten Gegenwartspolitik spielt. Die leidenschaftliche Verteidigung des Euro, klar zu besichtigen im letzten Bundestagswahlkampf,  ist nur als eine Art pseudoreligiöse Erregung, eine Art dumpfe Massenhysterie zu begreifen, an deren Wurzel der Wunsch nach Selbsterlösung „von allem Bösen“ zu stehen scheint.  So wie die Erinnerung an die unauslöschliche Schuld der Deutschen der absolute Gründungsmythos der heutigen europäischen Geschichtsmythen ist, so ist der Euro der absolute Zukunftsmythos der Europäischen Union, an dem ebenfalls Zweifel nicht erlaubt sind.

Spannend! Die Deutschen sollen also im Grunde durch den Euro von ihren unnennbaren Verbrechen befreit werden. Das ist die Tiefenpsychologie der Euro-Debatte, rationale Erwägungen dringen in diesen quasireligiös verhärteten Kern nicht mehr ein. Das Interview mit Radosław Sikorski bringt auf genialische Weise die Verschränkung der beiden zentralen Grundmotive der heutigen politischen Theologie auf den Nenner: a) Die Deutschen sollen sich endlich in vollem Umfang  ihrer Schuld an ihren unnennbaren Verbrechen stellen. b) Sie sollen mehr Solidarität mit Europa zeigen und mehr für die Rettung des Euros tun. Damit können sie „das Vertrauen in die Unzerstörbarkeit der Europäischen Union wiederherstellen.“

Ist dies alles so eindeutig? Gibt es denn wirklich nichts Positives, das Europa zusammenhält? Überzeitliche Werte? Was würde Marcel Reich-Ranicki dazu sagen, der Goethe und Schiller aus dem Kopf nacherzählte?

Eine kleine Urlaubsbegebenheit fällt mir dazu ein: Wir selbst haben bei unserem jüngsten Besuch in Polen auf einem Reiterhof in der früher deutschen, seit 1945 polnischen Neumark die ersten Verse des Pan Tadeusz in deutscher und polnischer Sprache in den Abendhimmel hinaus rezitiert, allerdings nicht aus dem Kopf, sondern nur von einem mitgebrachten Blatt Papier, das ich tief unten am Boden in meiner Radtasche mitführte:

Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie.
Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie,
Kto cię stracił. Dziś piękność twą w całej ozdobie
Widzę i opisuję, bo tęsknię po tobie.

Der heimkehrende Dichter besingt hier die verlorene Heimat, deren er erst im Verlust gewahr wurde!

Hier sind andere Worte zu hören: Heimat, Wiederkehr, Mutterland, Schönheit, Sehnsucht, Muttersprache. Die zählen mehr als Mord, Totschlag, Verbrechen. Für mich sind solche Erfahrungen mit verschiedenen europäischen Sprachen, mit Menschen in Polen und Deutschland, aber auch mit der Natur, etwa mit Pferden unendlich wichtig.

Marcel Reich-Ranicki, der mitten im geschundenen Polen aus dem Kopf Schiller und Goethe nacherzählt, ich selbst, der auf einer Radtour in einem polnischen Reiterhof vor einigen Zuhörern den Pan Tadeusz in polnischer und deutscher Sprache zu Gehör bringen durfte … das sind für mich Kristallisationskerne des Zusammenhaltes in Europa. Jawohl, diese Gemeinschaft im Wort halte ich für sogar wichtiger als den Euro, wichtiger als das ritualisierte Bekenntnis zu den unnennbaren deutschen Verbrechen, der Aufdeckung, Analyse, Durcharbeitung, kultischen Verehrung und Pflege der Erinnerung an die deutschen Verbrechen.

Ich bin überzeugt: Die fast schon wahnsinnig zu nennende, unter dem Bann des Geldes stehende  Euro- und Politikgläubigkeit der EU-Politiker, das fast schon wahnsinnige Starren auf deutsche Schuld und nur auf deutsche Euro-Schuldigkeit kann nie und nimmer den Kontinent zusammenhalten.

Mein Bekenntnis lautet: Europa kann ohne die Pflege der reichen, üppigen  Gedächtnislandschaft, ohne die Pflege des Schönen und Guten, ohne die Pflege der Sprachen und das Zusammenfinden der Herzen  nicht zusammenwachsen. Für sie heute beispielhaft mögen heute stehen die Namen Goethe, Mickiewicz und Marcel Reich-Ranicki.

Quellen:
„Wir wollen keinen kalten Krieg!“. Interview mit Polens Außenminister Radosław Sikorski. DIE ZEIT, 26.09.2013, S. 12
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 14
http://pl.wikisource.org/wiki/Pan_Tadeusz/Ksi%C4%99ga_pierwsza:_Gospodarstwo

Foto: Der polnische Reiterhof, wo sich das oben beschriebene Ereignis zutrug

 

 Posted by at 21:33

„Wir haben den Appetit auf die Europäische Union verloren“

 Entkernung, Europäische Union, Europas Lungenflügel, Herodot, Religionen, Russisches, Sprachenvielfalt, Türkisches  Kommentare deaktiviert für „Wir haben den Appetit auf die Europäische Union verloren“
Jul 242013
 

2013-07-23 12.51.57

Selbstverständlich lasse ich auch die politischen Themen in all den Gesprächen mit den Türken durchaus zu. Warum auch nicht? Das Leben in der Türkei besteht nicht nur aus den Themen Moschee, Kinder, Küche und Kultur! In dem Land, das einen Herodot hervorgebracht hat, liegt doch nichts näher, als die unterschiedlichsten Meinungen und Geschichten auf sich wirken zu lassen, ohne blindlings den Gerüchten und dem Hörensagen zu vertrauen.

„Lesen Sie denn auch die westliche Presse? Was halten Sie denn von dem, was in unseren Zeitungen über Ihr Land berichtet wird?,“ fragten wir gestern einen türkischen Volkswirt und Historiker, mit dem wir ein längeres Gespräch führten. Seine Antwort: Ja, er lese die englischen, französischen und russischen  Zeitungen selbstverständlich. Das meiste sei aber –  aus der türkischen Binnensicht gesehen – verzerrt, vereinfacht und teilweise auch grob irreführend, was von der europäischen Presse über die aktuellen Entwicklungen berichtet werde. Es wimmle geradezu von Schreckgespenstern, aufgebauschten Sensationshaschereien. Die Normalität des türkischen Alltags jenseits der Politik werde überhaupt nicht abgebildet. Es fehle den meisten Journalisten, die über die Türkei schrieben,  an vertieften Sprach- und Landeskenntnissen.

Und wie sieht die türkische Bevölkerung den EU-Beitritt?

„Wir haben den Appetit verloren. Nach Jahren des Hingehaltenwerdens haben wir jetzt das Gefühl, nicht gewollt zu werden, wobei der Hauptgrund in unseren Augen ist, dass man ein islamisch geprägtes Land nicht in den Kreis aufnehmen will, während man bei Bulgarien und Rumänien beseipielsweise alle Augen fest zugedrückt hat, als es um die Erfüllung der Beitrittskriterien ging.“

Meine Bewertung dieser Frage aufgrund meiner reichen Eindrücke, die ich im Lande wieder einmal sammeln konnte:

In der Tat sind die Darstellungen türkischer Entwicklungen in den deutschen Medien – auch in den Qualitätszeitungen, auch in den öffentlich-rechtlichen Medien – oft  verzerrt, einseitig, ungerecht bis hin zur Böswilligkeit gegenüber der Türkei. Die Liebesgeschichte zwischen der Europäischen Union und der Türkei neigt sich auch aus diesem Grunde dem Ende entgegen, sofern es je eine war. Die Türkei orientiert sich fundamental um. Sie besinnt sich auf die eigene Stärke, die eigenen Qualitäten, zumal angesichts des schlechten Bildes, das die EU in der tiefen Krise des Währungsverbundes derzeit abgibt, ein EU-Beitritt nicht einmal mehr im materiellen Interesse der Türkei liegen dürfte. Das Bestreben der Türkei scheint sich nunmehr darauf zu richten, die eigene Volkswirtschaft weiterzuentwickeln, mehr kulturelle Vielfalt zuzulassen, das Einheitsgefühl der türkischen Nation, die sich aus den unterschiedlichsten Gruppen zusammensetzt, zu stärken, und den eigenen Einfluss und die eigene Macht im unmittelbaren Umfeld zu mehren.

Als neuer wichtiger Partner in Handel und Wirtschaft scheint Russland nunmehr geradezu prädestiniert.

Den Schaden, auch den kulturellen Schaden einer drohenden Abwendung der Türkei von der EU tragen vor allem die europäischen Länder. Das Gebiet der heutigen Türkei  ist immerhin ein Kernland der abendländischen Geistesgeschichte. Das Christentum erblühte als neue Religion in Kleinasien zuerst. Hier im Osten war jahrhundertelang das Zentrum des spätrömischen Reiches, das Griechisch, Lateinisch und Aramäisch sprach.

In zahlreichen Begegnungen zwischen Menschen von hüben und drüben kann es gelingen, den weitgehend verlorenen Wurzelgrund der europäischen Kulturen und Religionen, namentlich des Judentums, des Christentums und des Islams wieder fruchtbar zu machen.

Um so wichtiger ist es, den Türken mit derselben Achtung und Offenheit zu begegnen, die sie auch uns als Menschen unverändert entgegenbringen. Jeder halbwegs freundliche Gruß, den ich einem Türken entbiete, wird mir doppelter Freundlichkeit erwidert.

Bild: Blick in das Theater in der antiken griechischen Stadt Hieropolis Phrygica in Anatolien, nahe dem heutigen Pamukkale. Aufnahme vom gestrigen Tage.

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Jul 222013
 

2013-07-21 10.11.06

Was für eine schöne Überraschung. Mit dem Lied „Wer recht in Freuden wandern will“ auf den Lippen wanderte ich gestern von Kadıkalesi nach Turgutreis. Zwei Dinge erfreuten mich: Ich sah erstmals auf türkischen Straßen mehrere Radfahrer innerhalb weniger Minuten – und seitab der Straße lachte ein nachhaltig bewirtschafteter Öko-Bauernhof mich an. Ich trat durch das Hoftor, begrüßte den Bauern: „Euch gab es aber vor 5 Jahren noch nicht, als ich das letzte Mal hier entlang wanderte …!“, begann ich. „Ja, wir sind erst seit 1 Monat hier. Der Hof ist ganz neu! Du kannst dich ruhig umschauen!“

Ich schaute mich um: Überall sind Obstbäume gepflanzt, Gemüsebeete angelegt, Bäume, Büsche und Beete scheinen klug aufeinander abgestimmt. Nachhaltige, ressourcenschonende Landwirtschaft! Schafe weiden und blöken in einem Gatter, einige Kühe äsen im Schatten der Bäume, Hühner scharren an der Erde. Eine Art Paradies für den Wanderer, der sich bekanntlich dort nicht im Schweiße des Angesichts den Rücken krumm schuften muss!

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„Euer Hauptproblem ist wohl die Bewässerung?“, fragte ich Cem, den Besitzer des Bauernhofes nach einem Blick auf die vielen verlegten Wasserschläuche.  „Nein, im Gegenteil! Es gibt in 25 m Tiefe hier reichlich bestes Grundwasser, zumal es im Winter fast zu viel geregnet hat. Wir pumpen unser eigenes Grundwasser und leiten es über eine Bewässerungsanlage auf die Beete und Felder. Wasser ist da! Aber es gibt noch sehr sehr viel Arbeit zu leisten!“

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Bei einem Glas selbstgemachter Limonade genoss ich den herrrlichen Anblick des Öko-Paradieses, zu dem ich von Herzen Ja sagte.

Da hörte ich ein lautes „Hayir“.  Hayir heißt nein. Was war geschehen? Ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt, hatte einen Stein aufgenommen und schickte sich an, ihn auf eine Beleuchtungsanlage zu werfen. Die Mutter des Kindes saß wachsamen Auges daneben, der Stein in der wurfbereiten Hand des Mädchens gefiel ihr nicht. Sie verbot dem Kind freundlich, aber bestimmt mit einem Hayir das Werfen des Steines. Hayir heißt nein.

Da fiel mir ein, was ich damals als Jugendlicher aus dem Buch „Eltern, Kind und Neurose“ von Horst-Eberhard Richter mitgenommen hatte: Die Kinder müssen das Nein lernen. Ohne das Nein der Eltern kann das Kind nicht wachsen. Vor der Geburt holt sich das Kind alles, was es braucht, aus dem Körper der Mutter – auch auf Kosten der Mutter.  Es lebt gewissermaßen in einem Paradies nach dem Motto. Hol dir was du brauchst.

Jede Schwangerschaft kostet die Mutter  einen Zahn, sagte man früher.

Anders spielt die Musik nach der Geburt, diesem ersten großen, überwältigenden Erlebnis jedes Menschen. Das Kind kann nicht alles haben, vor allem nicht  sofort haben. Von Anfang an muss das Kind nach der Geburt das aufschiebende, verbietende, grenzensetzende Nein lernen:  „Du darfst nicht Steine auf Lampen werfen. Du darfst nicht ins tiefe Wasser springen, wenn du nicht schwimmen kannst. Du darfst nicht lügen. Du darfst schwächeren Geschwistern nicht das Essen stehlen, du darfst nicht sitzenbleiben, wenn Ältere und Schwächere deinen Sitzplatz benötigen … “ Usw. usw., eine ganze Batterie an Verboten, Mahnungen, Zurechtweisungen!

Das feste Nein lernen. Das müssen wir Eltern den Kindern ermöglichen.

Ich war dankbar. Wieder hatte ich etwas einsehen gelernt, was allzu leicht vergessen wird: es gibt das Paradies nicht. Das Nein, die Mühe, der Fleiß, die Arbeit sind unerlässlich, um zusammenzuleben und gut zu leben.

Ich bot an, die Limonade zu bezahlen, aber Cem lehnte ab: „Du bist mein Gast. Komm wieder, bring deine Familie mit, wir sind immer da.“

„Ich sehe eine große Zukunft für euch. Cem, ihr habt ein riesiges Potenzial. Ich komme gerne wieder!“ So verabschiedete ich mich und wanderte weiter in der heißen Landstraße zwischen Turgutreis und Kadıkalesi, ein deutsches Wanderlied auf den Lippen.

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W Rzeczpospolitej Ptasiej/In der Vogelrepublik, oder: Das Leben kommt aus dem Wasser/Życie pochodzi z wody

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Mai 152013
 

2013-05-10 11.52.59

So schön ist es jetzt in der Neumark – das Warthetal, das wir vier Tage lang mit dem Rad erkundeten, ist ein überwältigend artenreicher Lebensraum für seltene Amphibien, für seltene Vögel, für Störche und Blindschleichen! Ein uraltes, kilometerbreit sich erstreckendes Urstromtal! Hier befahren wir gerade den Damm in der Nähe von Sonnenburg/Słońsk. Auf der linken Seite (siehe Foto) wird nunmehr erneut der periodischen Überschwemmung Raum gewährt, eine zeitweilig eintretende Versumpfung und Überflutung ist gewollt.

Auf der rechten Seite des Dammes erkannten wir das von vielen Menschengenerationen mühselig trockengelegte Bruch. Hier, in der Nähe des ab dem 13. Jahrhundert bezeugten alten Sonnenburg  wurde über Jahrhunderte, insbesondere unter Brandenburg-Preussens Friedrich II. systematisch Entwässerung, Landgewinnung, Urbarmachung betrieben. Der Mensch rang der Natur seinen Platz zum Arbeiten, Wohnen, Siedeln ab!

Störche sind in der „Vogelrepublik Warthemündung“ ein häufiger Anblick. Das Quaken der Frösche und auch der geliebte rauschende Regen  begleiteten uns kilometerlang! Überall Singen, überall Wasser, überall Schleichen, Flattern, Huschen! Überall regt sich’s und strebt empor! Der Tisch ist gedeckt.

Du hörst, siehst, staunst und erkennst: Das Leben kommt aus dem Wasser.

Oder wie meine schlesische Urgroßmutter gesagt hätte: Życie pochodzi z wody.

2013-05-10 09.54.35

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Sora nra matre tra – Schwester unser Mutter Erde

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Mrz 142013
 

page2-405px-Cantico_delle_Creature.djvu

Ein großes Vergnügen bereiten mir seit jeher die frühesten volkssprachlichen Texte – etwa des Althochdeutschen oder auch des Italienischen. Es ist ein tastendes Ungefähr zu spüren, ein Sich-Hineinfügen, ein Sich-Hineinlassen aus dem Bildungssprachlichen, dem Vatersprachlichen (etwa aus dem Lateinischen) in das Muttersprachliche, das Volkssprachliche, das zugleich die natürliche, die „gewachsene“ Sprache darstellt.

So hat dies staunend und doch ergreifend damals der Poverello d’Assisi, der gerade heute wieder ins Licht gerückte Francesco Giovanni di Pietro Bernardone – unser Franz –  geschafft.

„Sora nra matre tra“

lautet ein winziges Bruchstück aus seinem geistlichen Gesang. Das Manuskript zeigt wie damals üblich keinerlei Zeilenbruch und verwendet auch die Zusammenschreibungen, welches der Leser selbst auflösen muss zu

sora nostra matre terra

schwester unsere mutter erde

Auf Neuhochdeutsch:

Unsere Schwester Mutter Erde.

Das ist kaum auszuschöpfen, was das bedeutet.

File:Cantico delle Creature.djvu – Wikipedia.

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