Otto Gildemeister schrieb einmal:
Sonne der Schlummerlosen, bleicher Stern!
Wie Tränen zittern, schimmerst du von fern;
Du zeigst die Nacht, doch scheuchst sie nicht zurück,
Wie ähnlich bist du dem entschwundnen Glück,
Dem Licht vergangner Tage, das fortan nur leuchten,
Aber nimmer wärmen kann!
Die Trauer wacht, wie es durchs Dunkel wallt,
Deutlich doch fern, hell, aber o wie kalt!
Einen ganz ähnlichen Text verfasste auch einmal George Gordon Byron:
Sun of the sleepless! melancholy star!
Whose tearful beam glows tremulously far,
That show’st the darkness thou canst not dispel,
How like art thou to joy remember’d well!
So gleams the past, the light of other days,
Which shines, but warms not with its powerless rays;
A night-beam Sorrow watcheth to behold,
Distinct but distant — clear — but, oh how cold!
Was ist Original, was ist Übersetzung?
Wer weiß das immer zu sagen.
Wir neigen dazu, dem Original größere Überzeugung,
größere Echtheit zuzuschreiben.
Das kann jeder in sich selbst nachprüfen.
Nehmen wir doch nur zwei Gedichte,
die dasselbe besagen.
Man mag beide Texte vor sich hinmurmeln.
In ihrer Art sind sie zweifellos
vollkommen schöne Kunstwerke,
die „aus sich selber scheinen“.
Und doch ist einer der Texte
die Übersetzung des anderen.
Der eine spiegelt sozusagen
das erborgte Licht des anderen wider,
wie der Mond das erborgte Licht
der Sonne widerspiegelt.
Vieles spricht dafür, dass wir Texte
in der eigenen Muttersprache als
„Original“ empfinden, Texte in Fremdsprachen
als nicht ganz so echt.
Nur in der Muttersprache erreichen uns
die Worte ganz tief,
ganz tief drinnen.
Subjektiv gilt:
Für den deutschen Leser schrieb
Gildemeister auf Deutsch
ein echtes originales Gedicht,
Byron schrieb
eine englische Übersetzung.
Für den englischen Leser
ist es umgekehrt.
Wer hat recht?
Hier schrieb – objektiv gesehen – Byron
das Original genial in Englisch,
Gildemeister übersetzte nachschaffend,
kon-genial ins Deutsche.
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