„Deutschland, Deutschland über alles“!? – Braunen und roten Terror aufarbeiten!

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Aug 262009
 

Du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin ...“ diese Ziel aus Goethes Faust fiel mir ein, als ich die Titelgeschichte des aktuellen Spiegel las. „Der Krieg der Deutschen – als ein Volk die Welt überfiel“. Die komplizierte außenpolitische Lage der Zwischenkriegszeit wird zwar durch Autor Klaus Wiegrefe annähernd korrekt angeführt – soweit ich dies beurteilen kann. Schärfsten Widerspruch lege ich aber ein, wenn alles unter dem Generalnenner „Deutschland gegen den Rest der Welt“ gelesen wird.

Meine Sicht auf die europäische Geschichte hat sich wesentlich verändert, seit ich immer wieder mit den Menschen aus den osteuropäischen Ländern – etwa Tschechien, Ungarn, Polen – und aus Russland spreche.

Es ist entscheidend zu begreifen, dass Europa  in der Zwischenkriegszeit durch ein multipolares Gegeneinander unterschiedlicher Macht- und Interessenbündnisse geprägt war. Die neuentstandenen Staaten und die in neuen Grenzen wiedererstandenen Staaten bekämpften einander. In den meisten Staaten herschten autoritäre Regime. Die Tschechoslowakei benachteiligte ein Drittel des eigenen Staatsvolkes, nämlich alle Nichtslawen, die in den Grenzen dieses neuen multiethnischen Landes lebten. Präsident Edvard Benes dachte bereits ab 1937 über einen ethnisch reinen, slawischen Staat nach, der sich seiner deutschen und ungarischen Bevölkerung entledigt hätte. Polen und Tschechoslowakei arbeiteten gegeneinander, hatten Gebietsstreitigkeiten auszufechten. Polen und Russland hatten noch viele Rechnungen offen, lagen nach dem Ersten Weltkrieg erneut im Krieg miteinander. Die europäische Landkarte war übersät mit vielen kleinen Konfliktherden. Jeder dachte, sann, agitierte und intrigierte irgendwie gegen jeden.

Im Osten lauerte die Sowjetunion. Die Berichte des roten Terrors hatten die Staaten Westeuropas erreicht. Das Grauen, das Lenins und Stalins Truppen ab 1917 im eigenen Land anrichteten, konnte man in den Zeitungen nachlesen. Der weiße und der rote Terror hatten Russland verwüstet. Mehr Menschen starben in Russland in diesem Bürgerkrieg als während des gesamten Ersten Weltkriegs. Lenins und Stalins Terror erzeugte Sympathien für den Anti-Bolschewismus in allen anderen Ländern. Davon profitierten die Nationalsozialisten ebenso wie spanische Frankisten und Militärdiktaturen, wie etwa die Pilsudski-Regierung in Polen.

Zu recht herrschte in Europa Angst vor der roten Gefahr. In der Ukraine starben Millionen am Hunger. In der Sowjetunion wurde ein gigantisches Netz an Arbeits- und Umerziehungslagern ausgebaut – das Vorbild für das spätere deutsche KZ-Lagersystem. Viele kleinere Länder waren unentschlossen, ob sie sich eher Deutschland oder den Westmächten anschließen sollten. Polen schloss noch 1934 einen Bündnispakt mit Hitlerdeutschland!

Eine Woche vor dem 1. September 1939 wurde die Sowjetunion plötzlich zum Verbündeten Deutschlands. „Als ein Volk die Welt überfiel“ – dieser Untertitel stimmt einfach nicht. Denn auch die Sowjetunion überfiel andere Völker im Jahr 1939: Lettland, Litauen, Polen, Finnland – das sind einige der Länder, die der Sowjetunion zum Opfer fielen. Zugleich lief eine gewaltsame Russifizierung der asiatischen Teilrepubliken. Der SPIEGEL erwähnt selbst die Hunderttausenden von polnischen Opfern. Er schreibt auf S. 68:

„Die Angst vor den Sowjets bestand zu Recht, wie man heute weiß. Experten schätzen die Zahl der Menschen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen 1939 dem roten Terror zum Opfer fielen, auf mehrere hunderttausend.“

Es ist erneut ein falsches Geschichtsbild, ein Geschichtsbild, das nur die eine Hälfte der Wahrheit kennt, das der SPIEGEL in seiner neuen Titelgeschichte auftischt. Was sollen die Letten, die Litauer, die Finnen, die Polen, die Griechen, die Abessinier, die Serben, die Slowenen denken, wenn sie wieder einmal lesen müssen: Deutschland hat den Rest der Welt angegriffen? Nein, nicht nur Deutschland hat verbrecherisch einen verheerenden Krieg vom Zaun gebrochen – es war auch die Sowjetunion, die dank deutscher Vorleistung ihren eigenen Einflussbereich nach und nach erweiterte und angrenzende Länder mit Krieg und vernichtendem Terror überzog. Es war auch Italien, das bereits 1935 einen Verwüstungsfeldzug in Afrika führte, das an der anderen Adriaküste Konzentrationslager einrichtete und eine gewaltsame Italianisierung betrieb und somit eine Art Startsignal für deutsche und sowjetische Großmachtgelüste gab.

Eine ausgewogene Darstellung der komplizierten außenpolitischen Lage vor dem 1. September 1939 und während  der Kriegsereignisse muss unbedingt die multipolare Welt des damaligen Europa berücksichtigen. Italien, die Sowjetunion und Deutschland, die Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien – sie alle standen gegen- und miteinander, dazu kamen die kleineren europäischen Staaten, die mehr oder minder geschickt zwischen den verschiedenen größeren Mächten lavierten.

Ein niederschmetternder Befund aus der Lektüre der SPIEGEL-Titelgeschichte bleibt: Es herrscht bei uns in Deutschland weiterhin eine absolut germanozentrische Sicht der Weltgeschichte vor. Die kleineren Länder kommen einfach als eigenständige Subjekte nicht vor. Als sei Deutschland der einzige Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte gewesen. Es fehlen Hinweise auf die zahlreichen Kollaborateure in den anderen Ländern. Es fehlt das unendlich wichtige psychologische Moment der Angst vor der kommunistischen Weltrevolution. Es fehlt ein Blick auf die komplizierte Gemengelage der widerstreitenden nationalen und politischen Interessen in Ländern wie Lettland, Ukraine, Polen und Tschechoslowakei.

Genauso wichtig wie Nazideutschland war in der Bewusstseinslage der 30er Jahre die Sowjetunion.  Man lese die Zeitungen der roten und der braunen Kampfpresse aus jener Zeit, und man wird erkennen: Die europäische Geschichte ist nicht so einfach gebaut, wie es das holzgeschnitzte Schwarz-Weiß-Bild der hartnäckigen Geschichtslegenden wahrhaben möchte.

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Auf dem Friedhof der Weltgeschichte: die Ströbele-Wimmelbilder aus der Kita Kreuzberg

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Aug 262009
 

26082009010.jpg „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu  …“ Diese Zeilen eines national gesonnenen deutschen Burschenschaftsliedes aus dem Jahr 1814 kamen mir in den Sinn, als ich heute durch die Bergmannstraße wanderte. Neben mir die ehrwürdigen Mauern des Jerusalemkirchhofes, des Dreifaltigkeitskirchhofes,- doch halt: da ward mein Sinn erfreut durch bunte, farbenprächtige Malerei. Ein richtiges Wimmelbild, wie ich es aus den riesigen Bilderbüchern kennen, mit denen unsere Kinder in den Kitas Deutsch lernen! Was oder wen sehen wir da, in Treuen fest? Liebe Kinder, bitte schaut genau hin!

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Richtig! Das ist Ernesto „Che“ Guevara – eindeutig erkennbar! Und da ist auch der Schlachte- und Siegesruf, mit dem Ernesto „Che“ erfolglos versuchte, die marxistische Revolution in einige Länder Südamerikas und Afrikas zu exportieren. Auch bei uns in der früheren BRD und der früheren DDR hatte dieser überragende Führer in den 70er und 80er Jahren eine bedeutende Anhängerschaft.

Wie Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg entstammte Ernesto Guevara dem wohlhabenden Besitzbürgertum, ehe er sein Herz für die Arbeiterklasse entdeckte.  Noch heute wird er auf Kuba von den Schulkindern verehrt: „Wir wollen sein wie ER!“, so lautet die diktierte Losung. „Wir wollen sein wie ER“, so lautete auch in den dreißiger Jahren die Losung für Hunderttausende von Buben und Mädchen in der Sowjetunion und Deutschland. Wobei dieser ER wahlweise Adolf Hitler, Karl Liebknecht, Genosse Wladimir Iljitsch oder Väterchen Stalin sein konnte. Man lese doch nur die Grundschuldiktate jener Zeit nach!

Warum rühmen wir „Che“ als Muster der Treue? Nun, er war nach seiner Bekehrung zum Marxismus zeit seines Lebens ein glühender Anhänger Lenins und Stalins. Wie seine verehrten Vorbilder war er nach der erfolgreichen Revolution auf Kuba im Jahr 1960 an der Errichtung von Arbeitslagern und Internierungslagern beteiligt. Wie seine Vorbilder Lenin und Stalin beteiligte er sich an Massenerschießungen, steckte Dissidenten und Homosexuelle ins Lager. Wie seine Vorbilder Lenin und Stalin ließ er Volksgerichtshöfe abhalten, in denen summarisch Konterrevolutionäre, Bürgerliche und Andersdenkende verurteilt und hingerichtet wurden. An den Hinrichtungen Andersdenkender nahm er höchstpersönlich teil. Ernesto CHE Guevara  erschoss mit offen zugegebener Wonne Volksfeinde und Konterrevolutionäre. Politische Feinde abzuknallen machte ihm Spaß. Jeder, der Spanisch kann, möge dies in gut bezeugten Erinnerungen seiner Mitstreiter nachlesen. Wir lesen nunmehr einen Abschnitt aus der spanischen Wikipedia:

 Ernesto Guevara – Wikipedia, la enciclopedia libre
Guevara fundó el sistema cubano de campos de trabajo, cuando estableció el primero de ellos en Guanahacabibes, para reeducar a los directores de empresas estatales considerados culpables de violaciones a la «ética revolucionaria».[143] Jorge Castañeda, en su biografía del Che Guevara, ha señalado que, luego de la partida de Guevara de Cuba, „estos campos fueron utilizados para enviar disidentes, homosexuales y [más de dos décadas después de la muerte de Guevara] enfermos de sida“.[

Aber noch in einem anderen Sinne mag CHE als Vorbild für unerschütterliche Treue dienen: Ernesto „Che“ Guevara widersetzte sich der nach 1956 einsetzenden „Entstalinisierung“. Er hielt zeit seines Lebens am Rezept der von oben gelenkten, gewaltsamen Revolution  fest. Er glaubte unerschütterlich an die Diktatur des Proletariats und stellte sich mit Maschinengewehr, Machete und Handgranate in den Dienst der „guten Sache“.

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Diese historischen Reminszenzen schossen mir heute durch den Kopf, als ich am Wimmelbild unseres Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele vorbei wandelte. Schön auch, dass die züchtig verhüllte grüne Muslima sich freudig dem Schlachtruf „Venceremos“ anschließt! So viel Unterwerfung, so viel Selbstaufgabe, so viel Opfersinn war selten!

Bei Hans-Christian Ströbele kann man noch echten Respekt vor Autoritäten erkennen. In Treuen fest –  Marx und Ernesto CHE Guevara auf EINEM Plakat! Ach herrje! Was für eine Freude! Vom Kirchhof der Weltgeschichte, durchleuchtet von Hunderttausenden, ja Millionen von Opfern, die die marxistische Ideologie auf vier Kontinenten gekostet hat, grüßen die alten Ideale der gewaltsamen Diktatur, des Gesinnungsterrors, der freiwilligen Unterwerfung.

Besonders hervorzuheben: die unerschöpfliche, kindgerecht aufbereitete, farbenfrohe, kita-taugliche Darbietung komplizierter Zusammenhänge auf den Wahlplakaten der Grünen! Die Grünen sind und bleiben in meinen Augen die Partei der gut versorgten Söhne und Töchter aus höherem, aus gut bürgerlichem Hause. Wie es eben Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Ernesto CHE Guevara auch waren.

Schön, dass die Kinder bis ins hohe Alter hinein so ausgelassen mitspielen und mithüpfen dürfen. Die Geister von Karl Marx und Ernesto Guevara lächeln von Wolke 7 herab!

Würde denn Hans-Christian Ströbele ebenfalls Homosexuelle, Andersdenkende, bürgerliche Volksfeinde ins Internierungslager stecken oder auch hinrichten lassen wie sein gepriesenes Vorbild Ernesto CHE Guevara, dessen Schal er da trägt? Ich glaube es nicht. Es würde sich aber lohnen, eine Frage auf abgeordnetenwatch.de aufzugeben.

Jedem historisch Interessierten, jeder Kita, jedem Unterwerfungswilligen seien die fröhlichen Weltgeschichte-Friedhofsbilder der Grünen zur Besinnung und Andacht empfohlen. Empfohlen sei auch, dann das Burschenschaftslied aus dem 19. Jahrhundert anzustimmen. Nebenbei: Dieses Lied war dem Turnvater Jahn gewidmet, der nur einen CHE-Granatwurf, eine CHE-MP-Salve entfernt von diesem Friedhof  in der Hasenheide seine Turnübungen abhielt, zur Ertüchtigung der naturliebenden deutschen Jugend.

So singet denn ein Lied für die unerschütterlichen, hinter Hans-Christian Ströbele gescharten Konservativen in unserem Wahlkreis – und macht das Kreuz an der richtigen Stelle!

Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu,
daß immer noch auf Erden für euch ein Fähnlein sei.
I: Gefährten unsrer Jugend, ihr Bilder beßrer Zeit,
die uns zu Männertugend und Liebestod geweiht.:I

2.
Wollt nimmer von uns weichen, uns immer nahe sein,
treu wie die deutschen Eichen, wie Mond und Sonnenschein!
I: einst wird es wieder helle in aller Brüder Sinn,
sie kehren zu der Quelle in Lieb und Treue hin.:I

3.
Es haben wohl gerungen die Helden dieser Frist,
und nun der Sieg gelungen, übt Satan neue List.
I: Doch wie sich auch gestalten, im Leben mag die Zeit,
du sollst uns nicht veralten, o Traum der Herrlichkeit.:I

4.
Ihr Sterne seid uns Zeugen, die ruhig niederschaun,
wenn alle Brüder schweigen und falschen Götzen traun.
I: Wir woll’n das Wort nicht brechen, nicht Buben werden gleich,
woll’n predigen und sprechen vom heil’gen deutschen Reich! :I“Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu  …“


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„Staatssozialismus“ – eine historische Tretmine?

 1917, Armut, Konservativ, Rosa Luxemburg, Sozialismus, Sozialstaat, Staatlichkeit, Staatssozialismus, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für „Staatssozialismus“ – eine historische Tretmine?
Feb 212009
 

Mehr zufällig war ich gestern im Zusammenhang mit der Bismarckschen Sozialversicherung auf sein Wort „Staatssozialismus“ gestoßen. Das gestern angeführte Zitat fand ich in der vortrefflichen Gesamtdarstellung „Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933“, S. 250. Verfasser Heinrich August Winkler gelingt es in diesem meisterhaft komponierten Werk, alle gängigen Vorurteile und fromme Wahnvorstellungen, von denen unser gemeinhistorisches Bewusstsein lebt, sachte zu entstauben und eben auch die eine oder andere Tretmine sorgsam verpackt einzubauen.

Bismarck eignet sich hervorragend dazu, unsere Vorurteilsverhaftung anschaulich zu machen. Mein grob geschnitztes Bild von Bismarck war eigentlich: Eiserner Kanzler, genialer Diplomat, Machtpolitiker, schuf durch Kriege den deutschen Nationalstaat, Vertreter des Obrigkeitsstaates, alles andere als ein Demokrat, schuf sein bleibendes Verdienst mit dem System der Sozialversicherung, Unterdrücker der Sozialisten und der katholischen Zentrumspartei, wurde leider von dem törichten Kaiser Wilhelm II. ausgebootet.

Heute las ich in der Bismarck-Biographie von Lothar Gall und in Bismarcks eigenen „Gedanken und Erinnerungen“. Ergebnis: Die oben angeführten Urteile sind nicht völlig falsch, aber sie greifen zu kurz.

Gall vertritt die Ansicht, dass Bismarck aus machtpolitischem Kalkül heraus in Beratungen mit Vertretern der Industrie die Idee einer allgemeinen Versicherung unter staatlicher Obhut und staatlicher Beteiligung ersann. Ziel war, in Bismarcks Worten: „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“ Denn: „Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln, als wer darauf keine Aussicht hat“ (Gall, a.a.O. S. 605).

Bismarcks Konzept stieß auf heftigsten Widerstand bei den Linskliberalen, dem Zentrum und der Sozialdemokratie. Sie fürchteten „einen auf staatssozialistische und pseudeoplebiszitäre Elemente gestützten Neoabsolutismus“ (Gall, a.a.O. S. 606).

Und was erwiderte Bismarck auf solche Anfeindungen? Er zeigte sich erneut als der geniale Politiker, der er war – er verbat sich solche Unterstellungen nicht, sondern unterlief sie durch Zustimmung. Bismarck führte aus: „Die sozial-politische Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der Besitzlosen wäre unermeßlich.“ Erneut verwendet er den Begriff Staatssozialismus, der ihn in der Tat zu einem Ideengeber der heutigen Linken (etwa in den Personen eines Björn Böhning oder einer Halina Wawzyniak) werden lässt.

Bismarck sagt über seine Sozialversicherung:

„Ein staatssozialistischer Gedanke! Die Gesamtheit muß die Unterstützung der Besitzlosen unternehmen und sich Deckung durch Besteuerung des Auslandes und des Luxus zu verschaffen suchen.“

Das ist die Reichensteuer, das ist der Protektionismus durch Handelshemmnisse, wie sie gerade jetzt wieder als Gedanken im Schwange sind!

Wie bewertet Gall Bismarcks Leistung beim Aufbau des Sozialstaates? Niederschmetternd! Er deutet sie nicht als bleibendes Verdienst oder systematisches Aufbauwerk, sondern als einen politischen Verzweiflungskampf, der das Wesen der Politik dauerhaft entstellt habe. Letztlich habe Bismarcks Kampf um die eigene Machtposition dazu geführt, dass man sich nur noch am Machbaren orientiere und Perspektivlosigkeit zum Prinzip erhoben habe (Gall, a.a.O. S. 607). Das herrliche Wort Perspektivlosigkeit – ich glaube, etwa ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat es eine steile Karriere hingelegt, die bis zum heutigen Tage anhält! Es gibt heute kaum ein schlimmeres Urteil als eben dies: Perspektivlosigkeit.

In solchen Kommentaren schlägt das Politikverständnis des Historikers Gall deutlich durch. Politik hätte demnach sich nicht am Machbaren zu orientieren, sondern den großen Wurf durchzuführen. Es ginge laut Gall dann bei guter Politik darum, Verhältnisse, Strukturen und Verhaltensweisen bewusst zu gestalten.

Und hier gewinnen seine Ausführung beklemmende Aktualität. Denn das sind heute noch die Pole, zwischen denen sich Politik bewegt: Politik entweder als Kunst des Machbaren – oder als kühner Ausgriff, als bewusst angelegte Reform.

Wenn man Bismarck studiert, wird man erkennen: Die bewusst angelegten, raumgreifenden  Reformen sind sehr, sehr selten, die meisten gut gemeinten Reformen versanden oder bleiben auf halbem Wege stecken. Oder sie werden irgendwann zu einer Erblast.

Vergleicht man aber Bismarck mit dem durchaus geistesverwandten russischen Ministerpräsidenten Stolypin, so wird man sagen müssen: Der erste deutsche Kanzler hat – im Gegensatz zu vielen anderen Reformern – einen Teil seiner Neuerungen durchaus zu einem bleibenden Reformwerk gestaltet. Dass seine Motive eigennützig waren, letzlich auch der eigenen Machtsicherung dienten, verschlägt nichts daran, dass die Sozialversicheurng Elend und Leiden minderte, Bindekräfte zwischen Staat und Bürgern entfaltete und gewaltsame Revolutionen wie etwa in Russland verhinderte.

Dass wir heute noch quer durch alle Parteien am Erbe des Bismarckschen Obrigkeitsstaates leiden, ist nicht Bismarck anzulasten – sondern uns! Man muss dies durchschauen. Wenn es etwa heißt: „Wir dürfen keine systemische Bank in den Konkurs treiben“, „Wir dürfen Opel nicht pleite gehen lassen“, dann zeigt sich genau jenes paternalistisch-obrigkeitliche Denken eines Bismarck wieder, das ich für schwer vereinbar mit einer freiheitlichen Demokratie im Sinne unseres Grundgesetzes halte.

In den Reformdebatten unserer Zeit – etwa seit den Leipziger Reformbeschlüssen der CDU von 2005 – wird dieser Zusammenhang zwischen Machterhaltung und Reform meist gegeneinander ausgespielt. Es heißt grob vereinfacht: „Wir müssen unsere Reformvorstellungen dem Machterhalt opfern. Das große Ding können wir nicht drehen. Der Zeitpunkt ist vorüber.“

Ich halte dies für einen Irrtum. Machterhalt und Reform sollten einander gegenseitig bekräftigen. Dass dies möglich ist, hat Bismarck meines Erachtens glänzend vorgeführt. Ich teile deshalb die ernüchternd-entzaubernde Ansicht Lothar Galls, wonach Bismarck lauter verzweifelte Rückzugsgefechte gekämpft habe, nicht. Solche Tretminen, die das Denkmal Bismarck beschädigen, sind keine.

Schade, dass die großen Politiker wie etwa Bismarck oder Stolypin so vernachlässigt werden und statt dessen sehr viel mehr Fleiß auf politische Propheten wie Rosa Luxemburg, Dichter wie Karl Marx, Diktatoren oder politische Verbrecher wie Stalin und Hitler verwendet wird! Schade, dass unsere Politiker quer durch die Parteien offenkundig meinen, sie stünden vor komplett neuen Herausforderungen und Problemen! Rückbesinnung tut not!

Folgende Bücher empfehle ich heute nachdrücklich als Gegengift gegen diese Extremismus-Besessenheit und diese Geschichts-Vergessenheit:

Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Ullstein Verlag,  Frankfurt am Main, 1980

Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Ungekürzte Ausgabe. Herbig Verlag, München, o.J.

Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933.  Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2002

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Feb 162009
 

Immer wieder konnten wir in diesem Blog von der religiösen Weihestimmung berichten, mit der die kommunistische Glaubensgemeinschaft ihre Gründerväter und Heiligen-Mütter umgibt. Ich habe dies selbst mehrfach erlebt, besonders eindrücklich beim Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau, wo ich die Sünde beging, eine Frage zu flüstern statt andachtsvoll zu schweigen. Ich spreche nicht von „quasi-religiös“, sondern von „religiös“ im Sinne einer echten Ersatzreligion. An ihrer Sprache, an ihren Bildern kann man die Religion erkennen! Wollt ihr Beispiele?

Vera Lengsfeld berichtet in ihrem Buch „Mein Weg zur Freiheit“, mit welchen Worten Heinz Kamnitzer, der Präsident des PEN-Zentrums der DDR, ihre Absicht verurteilte, bei einer Gedenkveranstaltung ein Spruchband mit einem Zitat Rosa Luxemburgs zu entrollen. Kamnitzer schrieb im Neuen Deutschland über die geplante Teilnahme der Friedensgruppen an der Luxemburg-Demo 1988:

„Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.“

Beachtlich ist hier: Kamnitzer setzt die kommunistische Glaubensgemeinschaft der DDR mit einer Kirche gleich, die ihre Würdenträger und kultisch verehrte Toten hat. Ferner: Wie in der katholischen Kirche, so gab es auch im Kommunismus der DDR eine Sünde in Gedanken. Denn verwerflich und strafbar war bereits die geplante Sünde der „versuchten Zusammenrottung“ – zur Ausführung kam es ja nicht, da die Obrigkeit bereits vor der Störung des Gedenkmarsches eingriff.

Zweites Beispiel: Den Titel ihres Buches über Rosa Luxemburg schmückt Frigga Haug, Gründungsmitglied der deutschen Partei DIE LINKE, mit dem Bild La crucifixion (Die Kreuzigung) von Pablo Picasso. Das Bild zeigt eine Golgatha-Szene, ein Kruzifix. Angesichts der Schrecken unseres Jahrhunderts wird Jesus erneut gekreuzigt in einer Umgebung, die stark an Guernica von Picasso erinnert.

Während Kamnitzer Rosa Luxemburg mit einem Kardinal oder Bischof gleichsetzte, wird  die ermordete Rosa Luxemburg durch Frigga Haug gleichsam in einen Rang mit dem ermordeten Jesus Christus gerückt.

Rosa Luxemburg selbst sah sich ebenfalls in der Nachfolge Jesu Christi. In ihren Schriften zieht sich eine Art unterirdischer Verweisungszusammenhang auf das jüdisch-christliche Erbe wie Zettel und Faden durch. An vielen Stellen verwendet sie Bilder der christlichen Mystik, des christlichen Ritus. Über die ihr bekannten Massenmorde Lenins schreibt sie beispielsweise:

„Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.“

Was für eine Sprache! Die Revolution wird als eine Art Taufe gesehen, eine Taufe, die allerdings nicht mit Wasser, sondern mit Blut erfolgt. Blut, das fließen muss, daran lässt Luxemburg keinen Zweifel. Blut zur Erlösung der Welt von den Sünden des Bösen. Und das Böse – das ist der imperialistische Kapitalismus.

In der moralischen Verdammung des imperialistischen Kapitalismus, in der Anprangerung seiner sittlichen Verderbtheit, des jämmerlichen Sündenfalls des deutschen Proletariats, nämlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie, scheut Luxemburg sich nicht vor einer Häufung stärkster Anklagen: „Schmach“, „Ruin“, „Gespinst von Lügen“, „ein teuflischer Witz“, „Sittenverfall“ … man könnte Seiten füllen mit den kraftvollen, geradezu mit alttestamentarischer Wucht geschleuderten Wehe-Rufen der Prophetin Rosa Luxemburg über die tiefe Not der sündigen Welt.

Sich selbst sah Luxemburg weder als Bischöfin noch als Kardinälin – sondern als leidende Gottesmagd, als eine Art politischer Christus – wobei der Gott hier nicht der Gott des Judentums, sondern die Weltgeschichte ist.

Sie nennt ihre Verfolgung ausdrücklich den „Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen“  – und fast in einer Vorwegnahme ihrer Hinrichtung schreibt sie, wie sich das vierfache „Kreuziget ihn“ gegen sie selbst richtet – als Forderung der Kapitalisten, dann der Kleinbürger, und dann – wir zitieren wörtlich aus Rosa Luxemburgs Werken:

dann der „Scheidemänner, die wie Judas Ischariot die Arbeiter an die Bourgeoisie verkauft haben und um die Silberlinge ihrer politischen Herrschaft zittern“; und schließlich:

„Kreuziget ihn! wiederholen noch wie ein Echo getäuschte, betrogene, missbrauchte Schichten der Arbeiterschaft und Soldaten, die nicht wissen, dass sie gegen ihr eigenes Fleisch und Blut wüten, wenn sie gegen den Spartakusbund wüten .“

Immer wieder wird hervorgehoben, dass Rosa Luxemburg Jüdin war – um so verblüffender ist es zu sehen, wie stark ihr gesamtes Denken und Fühlen von im engeren Sinne christlichen Motiven durchdrungen ist, bis hin zu einer ausdrücklichen Selbststilisierung als weiblicher Messias in der Nachfolge Jesu Christi.

Wer diese messianischen Antriebe bei Rosa Luxemburg und im Kommunismus nicht sieht, wird Luxemburg und den Kommunismus nicht begreifen. Wer die Bibel nicht kennt, wird auch Rosa Luxemburg oder Karl Marx nicht verstehen können.

Wir beschließen diese kleine abendliche Betrachtung mit einem Blick auf ein Andachtsbild, das ich gestern am Potsdamer Platz aufnahm:

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Wir sehen Rosa Luxemburg auf einem Reststück der Berliner Mauer – es ist jene Stelle, die, wie die Legende will, am 9. November 1989 erstmals durchbrochen ward. Umgeben ist Rosa (lateinsch: die Rose, Symbol der Unschuld) von einem Herzen – dem Symbol der Liebe. Ein rotes Kreuz ist über das Gesicht gezogen – so entsteht die Gekreuzigte, der weibliche Messias.  Unten dann – das Friedenssymbol, welches eine Weiterentwicklung altchristlicher Grabsymbolik darstellt, wie man sie etwa in den Katakomben Roms findet: Der Kreis mit den drei Armen stellt das Wasser des ewigen Lebens dar, wie es das verlorene Paradies umfloss. Zugleich bilden die drei Flüsse eine Vorwegnahme der göttlichen Dreifaltigkeit.

Die namenlosen Schöpfer dieses hochverdichteten Mahnmals haben etwas geschaffen, wozu sich der öffentliche Wettbewerb für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal nicht die Freiheit nehmen konnte: Sie haben eine starke Aussage zu Leben und Botschaft Rosa Luxemburgs getroffen, indem sie sie in drei Jahrtausende europäischer Religionsgeschichte, in die neueste deutsche Geschichte buchstäblich einritzten.

Hingehen lohnt. Religiöses Schweigen ist nicht mehr vorgeschrieben. Wir sind frei.

Literaturnachweis:

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag, Hamburg 2007, hier: Umschlagbild

Auch zu folgender öffentlicher Veranstaltung lohnt sich das Hingehen:

Dienstag, 17. Februar 2009, 18.30 Uhr, Café Sybille, Karl-Marx-Allee 72, Berlin-Friedrichshain.  Start der Gesprächsreihe “Politik ohne Phrasen – Vera Lengsfeld lädt ein” mit dem Titel:  ”Taugt Rosa Luxemburg als Ikone der Demokratie?” Diskussion mit Halina Wawzyniak (Linke), Prof. Manfred Wilke, Manfred Scharrer

 Posted by at 23:05
Feb 122009
 

Diese Zahlen da oben, das sind Jahreszahlen. Hans Hugo Klein nennt sie in der heutigen FAZ auf Seite 10 als die entscheidenden Jahre, in denen die Spaltung Europas besiegelt wurde – die Spaltung in einen Westen und einen Osten. Denn das Schisma zwischen römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche (1054), der verheerende Feldzug („Kreuzzug“) gegen Byzanz (1204) und die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) waren Ereignisse mit Wasserscheiden-Charakter. „Nachher“ war es anders als „Vorher“ – sowohl im Bewusstsein der Zeitgenossen wie auch für uns Heutige in der Rückschau.

Seither ist Europa eigentlich doppelgesichtig – es gibt den lateinisch geprägten Westen und den griechisch, später auch teilweise islamisch geprägten Osten. Länder wie Deutschland, Polen, Kroatien oder Ungarn gehören demnach zum „Westen“, Griechenland, Bulgarien, Serbien und Rumänien hingegen zum „Osten“.

Die Behauptung Kleins ist: Europa habe kein einigendes Band, keine gemeinsame Identität, das diese Hälften oder Glieder zusammenhalte. Deshalb sei die Europäische Union vorerst noch keine Schicksalsgemeinschaft, sondern ein zweckgeleitetes Konstrukt.  Zitat:

„Um einem Europa der Bürger näher zu kommen, bedarf es, woran zu arbeiten lange versäumt wurde: der Ausbildung einer europäischen Identität, aus welcher allein die Bereitschaft zur Einordnung in einen Staatenverbund erwachsen kann.“

Das Fehlen eines Bewusstseins von der Identität Europas – das ist ein Mangel, den ich selber ebenfalls bereits festgestellt habe (dieses Blog am 14.12.2008): „Wir wissen nicht, was uns zusammenhält – oder trennt.“  Der Einwurf Hans Hugo Kleins gehört zum besten, was ich in deutschen Zeitungen zu diesem Thema lesen konnte. Lesen, aufheben!

 Posted by at 16:40
Jan 282009
 

dictators013612341.jpg Dietmar Dath sagt dies in seinem jüngsten Interview im aktuellen Spiegel Nr. 5/26.1.09 auf S. 132: „Ein politisches Genie wie Lenin zu erfinden, hätte Marx sich nicht getraut“.

Merkwürdig: Ich stimme dieser Einschätzung Daths aus vollem Herzen zu. Lenin ist ein politisches Genie. Dazu braucht man nur einige Fotos anzuschauen, die ihn beim Agitieren zeigen. Man muss Lenin im Original zu lesen versuchen, man muss diese erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Gewitztheit in allen Schattierungen kennenlernen, um zu würdigen, welch überragendes politisches Genie er war. Lenin kann eigentlich alles: analysieren, agitieren, hetzen, schmeicheln, preisen, verdammen, er kann sich verstellen und er kann sich offenbaren  … und daneben war er imstande, Menschengruppen planvoll zu organisieren, sie mit einem gemeinsamen Vorhaben zu beflügeln. Mit einem Wort: ein Großer Führer, wie es vielleicht im ganzen 20. Jahrhundert nur zwei oder drei gab. Welcher von den Großen Führern mehr Morde zu verantworten hat? Über Generationen hin war man geneigt, Stalin oder Hitler hier die Krone zuzuerkennen.

Aber die neuesten Forschungsergebnisse, die Öffnung der sowjetischen Archive rücken Lenin – trotz einer gewissen statistischen Unterlegenheit in der Zahl der Opfer – nun doch zunehmend in die Champions League der großen Führer ein: Lenin, Stalin, Hitler – diese drei waren die genialen Meister des Wortes und der Waffe, beide erkannten aus einer zunächst hoffungslos scheinenden Minderheitenposition die Chancen, mit denen sie sich innerhalb ihrer Bewegung nach vorne kämpfen konnten. Nachdem sie gewaltsam die Macht innerhalb der Bewegung gesichert hatten, vermochten sie es, durch planvollen Mord und Terror, durch Lagersysteme und durch systematische Propaganda einen Großteil der von ihnen beherrschten Gesellschaften zu ihren Verbündeten zu machen.

Hierzu sei Herrn Dath – sofern er es nicht schon kennt – nachdrücklich das neue Buch des kanadischen Historikers Robert Gellately empfohlen:

Lenin, Stalin, and Hitler: The Age of Social Catastrophe (Alfred A. Knopf, 2007).

Genial bei Lenin ist auch: Bis heute scheinen viele nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass Lenin von Anfang seiner Karriere an auf Raub und Mord, auf skrupellose Ausschaltung seiner Gegner setzte.  Neben der Schreibfeder, neben dem gesprochenen Wort handhabte er über seine gesamte Laufbahn hin mit großem Geschick Gewehre, Bomben, Hinrichtungsbefehle, ab 1917 auch Straflager für Abweichler, Bürgerliche und missliebige Sozialisten.

Genial auch: Nach seinem Tode wurde er im Umfang des Mordens und Henkens noch durch Stalin übertroffen, so dass er im Rückblick geradezu als Unschuldslamm erscheinen mochte. Genial!

Genial auch: Er richtete es so ein, dass bis zum heutigen Tag eine pseudoreligiöse Atmosphäre um seinen Leichnam inszeniert wird. Der Verfasser dieses Blogs konnte sich selbst davon überzeugen.

Genial auch: Bis heute, weit über seinen Tod hinaus, umnebelt dieser große Führer, dieser für alle Zeiten maßstabsetzende marxistische Revolutionär die an den Marxismus Glaubenden mit Gedanken wie etwa „eine Revolution wird nicht mit Rosenwasser gemacht“ (Rosa Luxemburg), oder: „Die Umgestaltung der Welt verläuft nie in kindersicheren Bahnen“ (Dietmar Dath) .

Der Marxist Dietmar Dath plädiert im aktuellen Spiegel dafür: Wir müssen den Sozialismus gemäß den Lehren des Karl Marx noch einmal probieren. Es bedarf mehrerer Anläufe.  Bisher hat es nicht funktioniert. Aber irgendwann wird es schon klappen.

Als Beleg führt Dath die Französische Revolution an. Auch dort seien Ströme von Blut geflossen. Aber heute lebten wir „eher so, wie die bürgerlichen Revolutionäre es wollten“.

Darauf erwidere ich: Es stimmt, ein gewisser Abschnitt nach der Französischen Revolution war ebenfalls durch größte Brutalität, durch Massenhinrichtungen und ähnliches gekennzeichnet. Aber diese Zeit der systematischen Verbrechen, La Grande Terreur,  dauerte nur etwa  2 Jahre, danach kehrten wieder etwas stabilere Verhältnisse ein.

Ganz anders nach den sozialistischen Revolutionen! Bei allen sozialistischen Umstürzen  bedurfte es eines weitaus brutaleren, über Jahrzehnte fortgesetzten Terror-Regimes, um die Macht zu sichern und Stabilität in die Verhaltnisse zu bringen.

Und wisst ihr was? Ich hab was dagegen. Ich hab was dagegen, dass manche – wie der gute, hochgebildete Herr Dath – uns jetzt erneut predigen wollen, der Sozialismus sei eine gute Idee, die bisher nur an der fehlerhaften Umsetzung gescheitert sei. Oder daran gescheitert, dass die Zeit noch nicht reif war. Man müsse DDR und Sozialismus trennen, es könne einen Sozialismus ohne Tscheka, KGB und Stasi geben. Ich erinnere daran: Es hat einige Dutzend Versuche gegeben. Wir brauchen keine weiteren Versuche mehr.

Von diesem entscheidenden Unterschied abgesehen, vertrete ich erneut den Standpunkt, dass die Amerikanische Revolution von 1776, also die Abschaffung der Monarchie und die konsensuell herbeigeführte Einsetzung einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie für uns in Europa das entscheidende Modell abgeben sollte – nicht die Französische Revolution, die im Jahr 1789 kein klar republikanisches Programm hatte. Wenn doch nur ein paar Leute auch in Europa das großartige Buch Barack Obamas über die amerikanische Verfassung, „The Audacity of Hope“ läsen!

Leider herrscht bei den Gläubigen des Marxismus immer noch ein ziemlich beschränkter West-Europa-Zentrismus vor. Was in den vergangenen 200 Jahren in Russland, was in den USA, was in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn geschah, entzieht sich der Kenntnis der meisten Gläubigen. Vielleicht ist dies der Grund: Sie wollen es offenbar nicht wissen, sie reden nicht mit den Überlebenden, sie reisen nicht dorthin, sie kennen die Sprachen nicht.

Ich empfehle die Werke des genialen Führers Wladimir Iljitsch Lenin und des unverwüstlichen Dichters Karl Marx, die Forschungen der Historiker Robert Gellately und Stéphane Courtois und das neueste Spiegel-Interview mit Dietmar Dath der Aufmerksamkeit aller Gläubigen und Ungläubigen.

Danach sollte man sich noch einmal die Frage vorlegen: Was kann Marx heute noch bedeuten? Was heißt linke Politik heute?

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Rosa und Vera. Oder: Freiheit, die sie meinen

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Jan 142009
 

„Papa, was ist Freiheit?“

Geben Sie mal Ihrem sechsjährigen Kind eine Antwort auf diese Frage!

Durch Diktatur später irgendwann einmal zur Freiheit, durch Terror irgendwann einmal zum Glück, so ungefähr fassten wir vor zwei Tagen die Überlegungen Rosa Luxemburgs zum Terror der russischen Bolschewisten zusammen. Sie bejahte in ihren Schriften Morde und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der von ihr und einigen wenigen Erwählten erkannten welthistorischen Ziele. Ihr Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie, zu Meinungspluralismus – das alles, wofür sie von einigen bis zum heutigen Tage verehrt wird – das alles stößt sich aufs heftigste mit ihrer Parteinahme für den gewaltsam durchgesetzten Kurs der Bolschewiki, die sofort nach der Machtübernahme alle durch die Mehrheiten gewählten Organe schachmatt setzten.

Denn das deutsche Proletariat hatte versagt, das deutsche Proletariat hatte einfach nicht genug Karl Marx und Rosa Luxemburg gelesen, um sich zu seinem welthistorischen Auftrag durchzuringen, der Weltrevolution zum Durchbruch zu verhelfen. Auch das russische Proletariat – soweit vorhanden – hatte sich in seiner Mehrheit verstockt und uneinsichtig gezeigt. Vor allem das Lumpenproletariat (also Kleinkriminelle, Huren, Schieber, Tagelöhner) bereitete den großen Führern der Arbeiterschaft, allen voran Lenin, große Sorgen, so große Sorgen, dass Lenin schon mal vorsorglich den Befehl zur unverzüglichen leibhaftigen Eliminierung dieses – wie auch anderen – volksfeindlichen Gesindels gab …

Doch zurück zur Frage – was ist Freiheit? Wir bewunderten vor zwei Tagen den Mut Rosa Luxemburgs. Sie sagte über Kaiser Wilhelm II: „Der Mann hat keine Ahnung von den Tatsachen.“ Dafür wurde sie ins Gefängnis gesteckt. Das war Majestätsbeleidigung. Da ist keine Freiheit. Das war – das Kaiserreich, der Obrigkeitstaat. In so einem Land herrscht keine Freiheit. So würde ich meinem Sohn antworten.

Und heute? Wenn jemand sagen würde: „In ihren Interviews des Sommers 2006 offenbart die Bundeskanzlerin eine Sicht der Dinge, die man getrost als Realitätsverlust bezeichnen kann“, wäre das auch Majestätsbeleidigung? Wenn jemand behauptete: „Der Bundespräsident, der glaubte, dass die Beugung der Verfassung kein zu hoher Preis für die Ermöglichung notwendiger Veränderungen sei, steht vor einem Scherbenhaufen“, würde so einer heute auch ins Gefängnis gesteckt? Bei uns – nicht. Schau her, lieber Sohn, in unserer Bundesrepublik darfst du auch den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin heftig angreifen – es wird dir nichts geschehen. Das ist eine freiheitliche Ordnung. Du kannst eigentlich alles sagen, ohne dass du ins Gefängnis gesteckt wirst. In so einem Staat dürfen wir leben. Nicht alle haben dieses Glück gehabt.

Wir haben uns diese Beispiele nicht aus den Fingern gesogen. Die zitierten Sätze entstammen dem Buch Neustart! von Vera Lengsfeld. Ein bemerkenswertes Buch, dessen Überlegungen vielleicht unpopulär, aber eben deswegen um so beherzigenswerter sind! Die Autorin unternimmt den Versuch, eine Gesamtschau auf Deutschland zu werfen. Ein Land in der Selbstblockade. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Vor allem kritisiert sie, neben den höchsten Vertretern des Staates, den Souverän der Bundesrepublik Deutschland, nämlich uns alle – das Volk. Nicht zufällig setzt sie Freiheit an die Spitze ihrer Werteskala. Nicht Gerechtigkeit. Lengsfelds Hauptthese: Gegenwärtig streben wir zu sehr nach einer nebelhaften „Verteilungsgerechtigkeit“ – jeder möchte etwas vom Freßkorb der öffentlichen Hand erhalten. Man könnte an die Milliardenpakete denken, die gerade jetzt wieder gepackt werden, damit jeder etwas abbekommt. Doch damit wird Kreativität und Selbstverantwortung erstickt – so Lengsfeld in aller Unerbittlichkeit. Wir müssen die Fesseln des gütigen Wohlfahrtsstaates lockern, damit Initiative und Eigenständigkeit freie Bahn bekommen.

Ich meine: Diese Behauptung hat etwas Bestechendes. In ihren Diagnosen zeigt Vera Lengsfeld eine erstaunliche Übereinstimmung mit dem von uns schon mehrfach gelobten Hans Herbert von Arnim. Beide kritisieren die eingespielte Klüngelwirtschaft der Parteien, die Selbstbedienungsmentalität der mächtigen Lobbyisten, die mangelnde Beteiligung der Bürger an staatlichen Prozessen. Und sie machen beide sehr konkrete Vorschläge, was sich ändern sollte. Spannend! Aber werden so unbequeme Mahner auch gehört? Schaffen sie es in die Parlamente? Das ist die große Frage!

Hier noch die Quellenangabe für unsere beiden Zitate mit der doppelten Majestätsbeleidigung:

Vera Lengsfeld: Neustart! Was sich in Politik und Gesellschaft ändern muss. Freiheit und Fairness statt Gleichheit und Gerechtigkeit. F. A. Herbig Verlag, München 2006, hier S.  9-10

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„… verwerflich wie eine Gotteslästerung“: Rosa Luxemburg und Vera Lengsfeld

 1917, Krieg und Frieden, Rosa Luxemburg, Sozialismus  Kommentare deaktiviert für „… verwerflich wie eine Gotteslästerung“: Rosa Luxemburg und Vera Lengsfeld
Jan 112009
 

11012009002.jpg Heute fand wieder der Gedenkmarsch zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts statt. Zwar ging ich nicht hin, sondern ergötzte mich lieber durch Schlittenfahren auf dem Teufelsberg. Aber ich beging den Gedenktag doch im stillen für mich, indem ich in den Schriften Rosa Luxemburgs und Vera Lengsfelds las. Ist das verwerflich wie eine Gotteslästerung, zwei so unterschiedliche Autorinnen hintereinander zu lesen?

Suchen wir doch das Gemeinsame, statt immer nur das Trennende zu sehen! An diesen Frauen bewundere ich gleichermaßen ihre Unbeugsamkeit, ihren Mut. Rosa Luxemburg trat im Taumel der nationalen Begeisterung gegen die Kriegskredite für das Deutsche Reich ein. Sie widersetzte sich der wilhelminischen Obrigkeit. Sie war eine der wenigen Stimmen, die sich gegen den verheerenden, selbstzerfleischenden Krieg der alten Mächte erhoben, den wir heute als Ersten Weltkrieg bezeichnen. Sie beschuldigte den Kaiser Wilhelm öffentlich der Unwissenheit:  „Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen.“ Sie wurde allein schon wegen dieser Äußerung ins Gefängnis gesteckt. Und in dieser antimilitaristischen und antimonarchistischen Haltung findet Rosa Luxemburg meine volle Bewunderung und Sympathie. Solchen Mut bringen nur wenige auf.

Nach dem Rodeln las ich noch einmal Luxemburgs postum veröffentlichten Aufsatz über die Russische Revolution – und dann Vera Lengsfelds Bericht über ihre Verhaftung bei der Luxemburg-Demo im Jahr 1988. Vera Lengsfeld wurde ins Gefängnis gesteckt, weil sie sich nicht scheute, gegen die Obrigkeit Position zu beziehen. Sie plante, auf der Luxemburg-Gedenkversammlung ein Transparent mit dem Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“ zu entrollen. Doch dazu kam es nicht. Sie wurde verhaftet. „Versuchte Zusammenrottung und Rowdytum“ – so lautet die Anklage in dem gegen sie geführten Prozess. Wir können das heute bequem im Wohnzimmer nachlesen. Die drei Kapitel „Luxemburg-Demo“, „Verhaftung“ und „Verhandlungen“ halte ich für das eigentliche Kernstück in Lengsfelds autobiographischen Erinnerungen „Von nun an ging’s bergauf …“ Diese Zeit im Stasi-Knast scheint für sie die entscheidende Wende gewesen zu sein, denn vorher ist immer noch ihr Bemühen erkennbar, gemeinsam mit anderen Oppositionellen die DDR „von innen her zu verbessern“. Die Abschiebung in die Bundesrepublik lehnte sie selbst im Gefängnis noch ab: sie wollte ihre Staatsbürgerschaft behalten, fühlte sich gegenüber dem Staat in der Verantwortung, in dem sie lebte. Erst in der Isolation der Haft wurde ihr mit Lug und Trug, mit den eingespielten Machenschaften des Staatsapparates heimgeleuchtet, dass es in der DDR für sie keinen gangbaren Weg  mehr gab.

Gestern fragten wir uns in diesem Blog, ob Rosa Luxemburg in den Terror der Bolschewiki in Russland eingeweiht war. Die erneute Lektüre ihres Aufsatzes „Zur russischen Revolution“ ergibt einen eindeutigen Befund: Sie, die in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie im russisch besetzten Teil Polens aufgewachsen war, nahm lebhaftesten Anteil an allen Phasen der Revolutionen im Februar und Oktober und war offenkundig bestens informiert darüber, dass die Bolschewiki zur Durchsetzung ihrer Ziele ein hohes Maß an Terror gegen andere revolutionäre Strömungen und gegen die „Bourgeoisie“ einsetzten. Den gesamten Aufsatz durchziehen sogar Überlegungen über Sinn und Zweck des Terrors in Revolutionen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten: Die Rechtfertigung des Terrors ist ein Hauptanliegen der Schrift. Luxemburg erklärt ihn als den besonderen Umständen in Russland geschuldet – eine Bilderbuchdemokratie sei den Genossen in Russland nicht abzuverlangen, denn die deutsche Okkupation und das Versagen des deutschen Proletariats hätten die Bolschewiki in eine Lage versetzt, in der man die bloß äußerlichen Errungenschaften der bürgerlichen Scheindemokratie – etwa gleiches allgemeines Wahlrecht, und ich füge hinzu: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – hintanstellen müsse. Die Diktatur des Proletariats – so Luxemburg – ist nötig und unvermeidlich als Übergang:

Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.

Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen.

Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung, und zwar namentlich in der letzten Periode vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat auf den deutschen Gesandten. Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.

Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern.

Salopp verkürzt, scheint Luxemburg sagen zu wollen: „Das wird sich schon einrenken. Jetzt werden Ströme von Blut vergossen, aber sobald die Massen erkannt haben, dass sie nach der Revolution endlich eigenständig erkennen können, was für sie das Beste ist, wird der Terror überflüssig sein.“ Dann wird auch das Reich der Freiheit anbrechen – und für diese Zeit – geraume Zeit nach der Revolution – fordert Luxemburg dann auch jene Freiheit des Andersdenkenden ein, deretwegen sie so vielfach zitiert und missverstanden worden ist:

„Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von Stufe zu Stufe.“ Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffenlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müßte man annehmen, daß die Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins: Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!)

In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der „Gerechtigkeit“, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die „Freiheit“ zum Privilegium wird.

Ich muss den Aufsatz Rosa Luxemburgs zur vollständigen Lektüre empfehlen! Atemlos geschrieben, gleichsam rednerisch aufzählend, voller Wucht, voll offener Aggressionen gegenüber allen, die innerhalb der sozialistischen Bewegung anders als Luxemburg denken, ein belehrend-hochgelehrtes Werk, ersichtlich nur für eingeweihte Theoretiker geschrieben, gespickt mit Anspielungen, mit Zitaten,  und doch aus dem Gefängnis der kommunistischen Glaubensgemeinschaft heraus geschrieben: ein verzweifelter Versuch, zu retten, was zu retten ist! Ein Begriffsnebel, hinter dem doch eines hervortritt: das Bemühen, Freiheit und Diktatur zusammenzudenken. Ich bin überzeugt: Rosa Luxemburg wusste bestens bescheid, sie wusste vieles, was wir – die breite Masse – erst ab 1990 erfahren konnten.

Ich würde gerne einmal Vera Lengsfeld fragen, was sie von diesem Aufsatz hält. Aber vielleicht genügt es, als knappen Kommentar zu Luxemburgs Anstrengungen einen Abschnitt aus Lengsfelds Lebensbeschreibung zu setzen. Zum „Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ schreibt sie:

Dass sich die menschliche Gesellschaft um Regeln bemühte, die ein gleichberechtigtes, freies Zusammenleben ermöglichten, war in Ordnung. Dass sie ein gemeinsames Ziel haben müsse, das über allem stand und für das Opfer verlangt und als gerechtfertigt bezeichnet wurden, war mir suspekt. Ich hatte schon als Kind nicht verstanden, warum es >>heldenhaft<< gewesen sein sollte, dass sich eine junge Sowjetarbeiterin mit der sicheren Ausssicht zu ertrinken in einen reißenden Fluss warf, um einen Balken zu retten.

Dieses gemeinsame Ziel – wenn es denn eines geben soll, wer legt es fest? Die Partei? Eine Partei, viele Parteien? Das heutige Lumpenproletariat, von dem die hochgebildete Tochter der Bourgeoisie Rosa Luxemburg nur mit Verachtung spricht und für dessen Bändigung ihrer Meinung nach nicht einmal der Terror ausreicht? Die später einmal gebildeten Massen, die dank der Revolution endlich erkennen können, was sie wollen? Fragen über Fragen … auf die ich bei Luxemburg keinerlei Antworten finden kann. Bei aller Hochachtung vor der Lebensleistung und dem Mut Rosa Luxemburgs, bei allem Abscheu vor dem hinterhältigen feigen Mord an ihr: Ich selbst versage ihr jede Zustimmung, wenn sie anderen vorschreiben will, was sie zu wollen haben … da ist keine Freiheit  möglich, sondern das ist die Rechtfertigung des Terrors – als Dauerlösung.

Ich schlage mich da eindeutig auf die Seite Vera Lengsfelds. Auf die Seite der Zweifler, der Nicht-Überzeugten, der Sucher und der Vorsichtigen, derjenigen, die den Mut haben zuzugeben, dass sie keine letzten Gewissheiten haben.

Unser Foto zeigt einen Gleitschirmflieger beim beständig wiederholten Versuch, die Freiheit des Fliegens zu finden. Aufgenommen heute auf dem Teufelsberg in Berlin

Nachweise:

Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution. In: Rosa Luxemburg: Politische Schriften, Band 3, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. Main, 1968, Seite 106-141. Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen Manuskript aus dem Nachlaß. Hier zitiert nach: http://www.glasnost.de/klassiker/luxem3.html

Vera Lengsfeld: Von nun an ging’s bergauf. Mein Weg zur Freiheit.  Mit 17 Abbildungen. 2. durchgesehene Auflage, LangenMüller Verlag, München 2007, hier speziell: S. 87; S. 240 (Zitat Kramnitzer)

Das Zitat „Verwerflich wie eine Gotteslästerung“ stammt von Heinz Kramnitzer und stand im Neuen Deutschland. Es bezog sich auf die geplante Aktion Vera Lengsfelds bei der Luxemburg-Demo 1988

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Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg

 1917, Kinder, Lenin, Rosa Luxemburg, Russisches, Sozialismus, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg
Jan 102009
 

Diese Überschrift lese ich heute in einer Ausgabe des Kämpfers. Das Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk Ruhrgebiet, liegt druckfrisch vor mir. Ein Foto zeigt „unseren toten Führer Lenin als Kind“: ein heller, aufgeweckter Bub von etwa 6 Jahren blickt uns da an. Fröhlich schaut er nicht drein, sondern eher gesammelt, aber doch mit einem unleugbaren Charme ausgestattet! Wir merken gerührt: Auch die großen Männer der Weltgeschichte waren einmal Kinder wie du und ich.

Der Artikel im Jungen Pionier, der Jugendbeilage des Kämpfers, rühmt Lenin, Liebknecht und Luxemburg mit folgenden Worten:

„Wladimir Iljitsch Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren drei große Führer der Arbeiterklasse. Sie setzten ihr Leben ein im Kampf um den Sozialismus. Sie kämpften für die Befreiung der Arbeiter und Bauern aller Länder.  Ihre Namen und ihre Taten sind unvergeßlich und werden nie verlöschen, solange Menschen auf Erden leben. Genosse Iljitsch schuf mit den russischen Arbeitern und Bauern die Partei der Bolschewiki, die unter seiner Führung im Kampf um den Roten Oktober, die Fahne mit Hammer und Sichel für immer auf dem Kreml zu Moskau setzte.“ 

So weit zitieren wir aus dem Kämpfer, der Zeitung der KPD vom 30. Januar 1933. Höchst verdienstvoll ist das verlegerische Unternehmen, eine ganze Reihe von Zeitungen aus dem Jahren 1933-1945 nachzudrucken. Die Reihe heißt ZEITUNGSZEUGEN. Heute fand ich die erste Sammelausgabe am Kiosk. Sie enthält je eine unveränderte Ausgabe des kommunistischen Kämpfers, der gemäßigt-konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung und des nationalsozialistischen Angriffs.

Ihr habt vielleicht bemerkt, dass ich mich kürzlich vor dem Lenin-Mausoleum und dem Kreml fotografieren ließ und dieses Foto am 31.12.2008 in dieses Blog setzte. Schaut genau hin! Die Fahne mit Hammer und Sichel weht entgegen der Vorhersage des Kämpfers nicht mehr auf dem Kreml, sondern sie wurde mittlerweile durch die neue Staatsflagge der Russischen Föderation ersetzt. Das Mausoleum mit dem einbalsamierten Leichnam Lenins wird aber weiterhin mit der gleichsam sakralen Würde für Besucher offengehalten, wie dies in den Jahren der Sowjetunion geschah.

Bei meinen Diskussionen mit deutschen Kommunisten hörte ich des öfteren ungefähr folgende Auffassung: „Der Stalinismus beging grobe Fehler. Gewisse Verbrechen in den dreißiger Jahren kann man nicht leugnen. Aber der Ansatz Lenins war gut. Leider nahm die UDSSR nach seinem Tod einen anderen Gang, als er gewollt hatte.“ Im Klartext: Lenin gut – Stalin böse. Der Stalinismus wird als Fehlentwicklung und Verirrung gesehen. Lest bitte beispielhaft hierzu den Artikel im Neuen Deutschland vom heutigen Tage. Besprochen wird darin eine neue vierbändige Gesamtdarstellung:

Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität 1918/19 bis 1946. 4 Bände. Hg. v. Klaus Kinner (mit Elke Reuter, Ruth Stoljarowa, Günter Benser, Hans Coppi, Gerald Diesener, Wladislaw Hedeler u. a.). Karl Dietz Verlag, Berlin

Wir zitieren aus der Rezension im Neuen Deutschland:

Diese Geschichtsdarstellung bricht radikal mit dem Stalinismus in der Parteigeschichtsschreibung. Damit wird endlich eine alte Aufgabe erfüllt. Es geht nicht ohne Schmerzen ab, wenn der Leser präsentiert bekommt, welche furchtbaren Wirkungen der Stalinismus auf die deutsche Arbeiterbewegung hatte, wie er diese strategisch völlig fehlorientierte, wie er viele ihre Kader verfolgte, moralisch verlumpte und ermordete. Der Abschnitt über den Hitler-Stalin-Pakt 1939 lässt die Haare sträuben.

Stalin, so erfährt heute jeder Moskau-Tourist, wurde aus dem Mausoleum entfernt und an einen weniger ehrenvollen Platz in die Kremlmauer umgebettet. Wie sieht nun die heutige russische Sicht auf Lenin aus?

Ich ziehe hierzu das mir vorliegende, vom russischen Bildungsministerium empfohlene  Lehrbuch Istoria Rossii, 5., überarbeitete und ergänzte Ausgabe, Moskwa 2008, heran. Autoren: A.A. Danilow, L.G. Kosulina, M.Ju. Brandt.

Mein Gesamteindruck: Dieses Schulbuch wendet sich entschieden von einer personalisierenden Geschichtsschreibung ab. Zwar wird die Rolle einzelner Politiker durchaus gewürdigt, doch herrscht insgesamt eine funktionale Sicht auf historische Abläufe vor. Eine der Grundfragen scheint zu sein: Welchen Weg nahm Russland, um von einem rückständigen, agrarisch geprägten Reich mit unzureichenden Entwicklungschancen für die Industrie zu einem modernen Nationalstaat zu werden? Wie verlief die Modernisierung Russlands? Zahlreiche Einzelphänomene, die aus sowjetischer Sicht bis 1990 geleugnet oder ausgespart wurden, werden von den Autoren ausdrücklich erwähnt, so etwa der Rote Terror ab 1918 auf ausdrückliche Anordnung Lenins, die massive Repression unter Stalin – und der GULAG. Vor einer einseitig moralisierenden Darstellung hüten sich die Autoren jedoch bei diesen Darstellungen ebensosehr wie vor einer dämonisierenden oder heroisierenden Schilderung des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland.  Abkehr von Personalisierung, von Heroisierung und Dämonisierung – Hinwendung zu einer funktionalen Analyse mit besonderer Berücksichtigung des Problems der gewaltsamen Modernisierung – mit diesen Formeln fasse ich meinen Gesamteindruck von diesem und anderen Büchern zusammen.

Als Beispiel sei herausgegriffen das Kapitel über den Roten Terror ab 1918, auf S. 113. Am 30. August 1918 wurde Lenin bekanntlich bei einem Attentat schwer verletzt. Die Sowjetmacht griff daraufhin verstärkt zum Mittel der systematischen Einschüchterung der Bevölkerung – zum Roten Terror. Wir zitieren wörtlich aus dem Schulbuch: „Der Terror war massiv. Allein als Reaktion auf den Anschlag auf Lenin erschoss die Petrograder Tscheka nach offiziellen Feststellungen 500 Geiseln.“

Der bereits unter Lenin einsetzende Rote Terror wird an anderer Stelle, nämlich durch die russische Wikipedia so definiert und durch entsprechende Fotos dokumentiert:

Кра́сный терро́р — массовые репрессии как против ряда деятелей аристократии, офицерства, буржуазии, интеллигенции, священников[1], деятелей оппозиционных партий, лиц сочувствовавших и причастных Белому делу, так и против мирного населения проводившиеся большевиками в ходе Гражданской войны в России. Согласно Постановлению СНК РСФСР от 5 сентября 1918 «О красном терроре», красный террор ставил перед собой задачу освобождения республики от «классовых врагов» и, согласно документу, физического уничтожения, «расстрела всех лиц, прикосновенных к белогвардейским организациям, заговорам и мятежам»

Wir fassen unsere Einzelbeobachtungen zusammen:

1. Die in Deutschland mitunter noch vertretene Meinung, erst unter Stalin sei der systematische Terror mit Massenhinrichtungen, willkürlichen Verfolgungsmaßnahmen und Straflagern zum offiziellen Mittel der kommunistischen Politik geworden, wird unter Historikern in Russland selbst nicht mehr aufrechterhalten. Richtig ist vielmehr: Bereits unter Lenin wurde Terror in der Sowjetunion systematisch eingesetzt und auch schriftlich als Parteidoktrin verkündet. Damit wird auch die Meinung, der Stalinismus sei eine Verirrung, eine tragische Fehlentwicklung gewesen, die erst nach dem Tode Lenins eingesetzt habe, kaum mehr zu rechtfertigen sein. Soweit die großen Führer der Arbeiterklasse ab 1918 in Deutschland der russischen Sprache mächtig waren und Kontakt nach Moskau hielten, werden sie diese Tatsachen schwerlich übersehen haben.

2. Von einer übertriebenen Personalisierung historischer Abläufe scheint die heutige russische Geschichtsschreibung zugunsten einer eher funktionsorientierten Interpretation geschichtlicher Abläufe abzurücken.

3. Die in der heutigen deutschen Presse mitunter erhobenen Vorwürfe, in Russland sei derzeit eine Verharmlosung oder Leugnung der Verbrechen des Stalinismus im Gange, halte ich für irreführend. Sie lassen sich mit Verweis auf die tatsächlich in Russland geführten Diskussionen widerlegen.

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Jan 062009
 

25122008004.jpg Was hält uns in Europa zusammen? So fragten wir in diesem Blog im vergangenen Jahr. Unsere vorläufige Antwort: Es ist nicht klar. Wir wissen es nicht so recht. Und wenn wir es wüssten, müsste es laut und deutlich gesagt werden.

Was hält politische Gemeinschaften zusammen? So fragte Aristoteles. Seine Antwort: „Freundschaft“, das Gefühl einer Zugehörigkeit zueinander. Innerhalb einer Stadtgemeinde dürfe es keine Feindschaften, aber auch keine Gleichgültigkeit  geben, sonst bräche der Zusammenhalt auseinander.

Was hält unsere deutsche Gesellschaft zusammen? So fragen heute die beiden Bürger Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble in der FAZ auf S. 8. Ich nenne sie Bürger … Moment mal, sind das nicht zwei Politiker, Minister gar? Stimmt, ihr habt recht. Aber die beiden Verfasser schließen ihren Artikel höchst wirkungsvoll mit folgender Schlussformel ab: „… wir alle als Bürgerinnen und Bürger.“ Alle sind wir Bürgerinnen und Bürger, das ist doch ganz meine Rede. Einige dieser Bürger sind daneben auch Politiker, aber Politiker und Bürger sollten sich einig sein in einem gemeinsamen Ethos. So verstehe ich zumindest die beiden Autoren.

Den ganzen Artikel durchzieht die Forderung nach einem gestärkten Miteinander. Nur dann, wenn jede und jeder das Gefühl hat, dazuzugehören und gebraucht zu werden, kann sich eine Gesellschaft auf Dauer den wichtigen Einzelfragen zuwenden. Vereine, Bürgerinitiativen, Mehrgenerationenhäuser – das alles und vieles mehr sind hochwillkommene Beispiele solch tätiger Gemeinschaft, die den Staat trägt. Der Staat kann diesen Wurzelgrund nicht ersetzen, aber er kann ihn fördern.

Wir warfen gestern einen Blick auf das untergegangene Zarenreich. Politiker wie Stolypin kämpften unentwegt für die gemeinsame Sache. Umsonst, es war wohl schon zu spät. Die gesellschaftlich führenden Gruppen und die meisten Politiker, nicht zuletzt auch Zar Nikolaus II. höchstselbst, waren offenbar nicht bereit, eigene Besitzstände aufzugeben. Der Petersburger Blutsonntag von 1905 und viele andere Abwehrreflexe setzten Fanale der Unterdrückung gegen die berechtigten Forderungen der benachteiligten Bauern und Arbeiter.

Wie schreibt doch Vera Lengsfeld in ihrem Buch Neustart auf S. 103? „Und wenn Politiker in der Öffentlichkeit gegen jede mögliche Veränderung vor allem besitzstandswahrende Abwehrreflexe kultivieren, wirken sie lähmend auf die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft.“

Ich meine: Wir brauchen Veränderung, wir brauchen dafür mehr innere Bindung an ein freiheitliches Miteinander. Ich glaube darüber hinaus: Die größten Risiken liegen nicht in der Staatsverschuldung, nicht in der Arbeitslosigkeit, nicht in der Finanzkrise. Die größten Risiken für unsere Republik und auch für die EU liegen darin, dass diese innere Bindung verloren gehen könnte.

Den höchst lesenswerten Artikel aus der heutigen FAZ werde ich mir aufheben. Man könnte ihn auch in einen Artikel für die führenden Boulevardblätter Deutschlands umschreiben, mit kurzen knackigen Sätzen und auf 200 Wörter verkürzt. Die Botschaft würde gut ankommen. Ich wünsche es ihr.

Unser Foto zeigt heute einen Blick in die Neue Oper in Moskau. Dort sahen und hörten wir am 25. Dezember eine Aufführung von Tschaikowskijs Nussknacker. Nach der Erzählung Nussknacker und Mäusekönig von E.T.A. Hoffmann. Auch solche deutsch-russischen kulturellen Gemeinschaftsleistungen halten uns in Europa zusammen.

 Posted by at 16:52
Jan 052009
 

Fernsehen und auch Radio scheinen im heutigen Russland eine viel wichtigere Rolle zu spielen als Zeitungen. Und so nutzte auch ich bei diesem Aufenthalt jede Gelegenheit, um mir einen Eindruck von den Bildern zu verschaffen, die Tag um Tag in die russischen Haushalte flimmern. Gleich am ersten Abend nach unserer Ankunft erlebte ich eine denkwürdige Diskussion mit: Imja Rossija, der Name Russland, wurde durch den staatlichen Sender Rossija ausgestrahlt. Aus ursprünglich 500 Kandidaten sollten durch Zuschauerbefragungen in einer Reihe von Sendungen die wichtigsten Persönlichkeiten der russischen Geschichte gekürt werden. Peter I., Katharina II., Lenin, Stalin, Puschkin – sie waren schon in die Runde der letzten 10 vorgedrungen. Das ganze erinnerte mich an die ZDF-Serie „Unsere Besten“. Vor einer hochkarätig besetzten Jury legte sich diesmal der Regisseur Nikita Michalkow für „seinen“ Kandidaten, den Politiker Pjotr A. Stolypin ins Zeug.  Ab 1906 war Stolypin Innenminster, wurde bald darauf Premierminister.  In Deutschland ist dieser wichtige Reformer, der 1862 geboren und 1911 von politischen Terroristen ermordet wurde, weitgehend unbekannt. Um so erstaunter war ich, mit welchem Feuer, welcher Begeisterung Michalkow seinen Mann ins Rennen schickte!

Ich fasse Michalkows Plädoyer sinngemäß zusammen: Stolypin war einer jener Politiker, die in der zaristischen Spätzeit vernommen hatten, was die Uhr geschlagen hatte. Er versuchte durch einschneidende Reformen die schlimme Lage der Bauern zu verbessern, indem er ihnen neue Anrechte auf Grund und auf billiges Kapital verschaffte. Er kämpfte für eine effizientere Verwaltung, versuchte einen vernünftig geregelten Markt für die aufstrebende Industrie zu schaffen. Stolypin setzte auf grundlegende Reformen, ohne jedoch die Zarenherrschaft insgesamt in Frage zu stellen. Das Mittel der Revolution lehnte er ab, seine Agenda verlangte dem herrschenden Zaren und dem Adel weitreichende Zugeständnisse ab, ohne den Antimonarchisten Vorschub zu leisten. Mit diesem an pragmatischen Lösungen orientierten Ansatz machte er sich in einer ideologisch überhitzten Stimmungslage Feinde auf allen Seiten! Er sah sogar voraus, dass er einem Attentat zum Opfer fallen würde. Aber unbeirrt verfolgte er seinen Kurs, den er für den richtigen hielt.

Noch mehr als die Begeisterung Michalkows erstaunte mich, mit welch gebannter Aufmerksamkeit alle Studiogäste zuhörten – darunter auch Gennadi Sjuganow, der Chef der neuen Kommunistischen Partei. Den Mienen, den buchstäblich offenstehenden Mündern aller derer, die da überrascht lauschten, konnte ich entnehmen: Michalkow traf ins Schwarze, er schilderte mit kraftvollen, eindringlichen Argumenten einen Weg, wie Russland das weitere Auseinanderbrechen der Gesellschaft und auch die beiden Revolutionen von 1917 hätte vermeiden können. Er redete sich in Feuer, seine Worte klangen leidenschaftlich, – es war für mich mit Händen greifbar, dass hier über die neuere russische Geschichte insgesamt verhandelt wurde.

Diese Sendereihe kann man sicherlich unterschiedlich bewerten – wie ja die ZDF-Reihe „Unsere Besten“ ebenfalls herbe Kritik einstecken musste. Ich fand diese eine Sendung, die ich verfolgen konnte, äußerst erhellend! Nach meiner Rückkehr entnehme ich dem Internet: Stolypin hat es – ich meine: dank dieser mitreißenden Rede – auf Platz 2 geschafft, musste nur dem altehrwürdigen sagenumwobenen Helden Alexander Newski den Vortritt lassen. Newski – so will es die Überlieferung – rettete Russland vor dem äußeren Feinde. Er siegte. Stolypin hingegen wollte Russland durch innere Reformen vor dem drohenden Staatszerfall retten. Er scheiterte.

Für mich bleibt entscheidend: Die abstimmenden Zuschauer haben als ersten Politiker aus neueren Zeiten Stolypin gewählt – das kann meines Erachtens als ein klares Zeichen dafür gewertet werden, dass Russland heute den Weg kluger innerer Reformen, den Weg eines vernünftigen Interessenausgleichs wünscht. Und der Schlüssel zu einer Aufarbeitung der gesamten neueren russischen Geschichte scheint für Teile der heutigen russischen Gesellschaft wohl in einem vertieften Studium des untergehenden Zarenreiches zu liegen. In jenen Jahrzehnten wurden ganz offensichtlich Chancen verspielt, die weitsichtige Politiker wie Stolypin zu ergreifen bereit waren. Eine reformunfähige Gesellschaft wurde nach und nach reif für die Revolution.

Unser heutiges Foto zeigt den berühmten Säulensaal des Moskauer Herrenhauses, das später zum Gewerkschaftshaus wurde. Dort besuchten wir am 28.12. das Jolka-Fest für die Moskauer Kinder.

 Posted by at 21:54