Aug 262009
 

Du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin ...“ diese Ziel aus Goethes Faust fiel mir ein, als ich die Titelgeschichte des aktuellen Spiegel las. „Der Krieg der Deutschen – als ein Volk die Welt überfiel“. Die komplizierte außenpolitische Lage der Zwischenkriegszeit wird zwar durch Autor Klaus Wiegrefe annähernd korrekt angeführt – soweit ich dies beurteilen kann. Schärfsten Widerspruch lege ich aber ein, wenn alles unter dem Generalnenner „Deutschland gegen den Rest der Welt“ gelesen wird.

Meine Sicht auf die europäische Geschichte hat sich wesentlich verändert, seit ich immer wieder mit den Menschen aus den osteuropäischen Ländern – etwa Tschechien, Ungarn, Polen – und aus Russland spreche.

Es ist entscheidend zu begreifen, dass Europa  in der Zwischenkriegszeit durch ein multipolares Gegeneinander unterschiedlicher Macht- und Interessenbündnisse geprägt war. Die neuentstandenen Staaten und die in neuen Grenzen wiedererstandenen Staaten bekämpften einander. In den meisten Staaten herschten autoritäre Regime. Die Tschechoslowakei benachteiligte ein Drittel des eigenen Staatsvolkes, nämlich alle Nichtslawen, die in den Grenzen dieses neuen multiethnischen Landes lebten. Präsident Edvard Benes dachte bereits ab 1937 über einen ethnisch reinen, slawischen Staat nach, der sich seiner deutschen und ungarischen Bevölkerung entledigt hätte. Polen und Tschechoslowakei arbeiteten gegeneinander, hatten Gebietsstreitigkeiten auszufechten. Polen und Russland hatten noch viele Rechnungen offen, lagen nach dem Ersten Weltkrieg erneut im Krieg miteinander. Die europäische Landkarte war übersät mit vielen kleinen Konfliktherden. Jeder dachte, sann, agitierte und intrigierte irgendwie gegen jeden.

Im Osten lauerte die Sowjetunion. Die Berichte des roten Terrors hatten die Staaten Westeuropas erreicht. Das Grauen, das Lenins und Stalins Truppen ab 1917 im eigenen Land anrichteten, konnte man in den Zeitungen nachlesen. Der weiße und der rote Terror hatten Russland verwüstet. Mehr Menschen starben in Russland in diesem Bürgerkrieg als während des gesamten Ersten Weltkriegs. Lenins und Stalins Terror erzeugte Sympathien für den Anti-Bolschewismus in allen anderen Ländern. Davon profitierten die Nationalsozialisten ebenso wie spanische Frankisten und Militärdiktaturen, wie etwa die Pilsudski-Regierung in Polen.

Zu recht herrschte in Europa Angst vor der roten Gefahr. In der Ukraine starben Millionen am Hunger. In der Sowjetunion wurde ein gigantisches Netz an Arbeits- und Umerziehungslagern ausgebaut – das Vorbild für das spätere deutsche KZ-Lagersystem. Viele kleinere Länder waren unentschlossen, ob sie sich eher Deutschland oder den Westmächten anschließen sollten. Polen schloss noch 1934 einen Bündnispakt mit Hitlerdeutschland!

Eine Woche vor dem 1. September 1939 wurde die Sowjetunion plötzlich zum Verbündeten Deutschlands. „Als ein Volk die Welt überfiel“ – dieser Untertitel stimmt einfach nicht. Denn auch die Sowjetunion überfiel andere Völker im Jahr 1939: Lettland, Litauen, Polen, Finnland – das sind einige der Länder, die der Sowjetunion zum Opfer fielen. Zugleich lief eine gewaltsame Russifizierung der asiatischen Teilrepubliken. Der SPIEGEL erwähnt selbst die Hunderttausenden von polnischen Opfern. Er schreibt auf S. 68:

„Die Angst vor den Sowjets bestand zu Recht, wie man heute weiß. Experten schätzen die Zahl der Menschen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen 1939 dem roten Terror zum Opfer fielen, auf mehrere hunderttausend.“

Es ist erneut ein falsches Geschichtsbild, ein Geschichtsbild, das nur die eine Hälfte der Wahrheit kennt, das der SPIEGEL in seiner neuen Titelgeschichte auftischt. Was sollen die Letten, die Litauer, die Finnen, die Polen, die Griechen, die Abessinier, die Serben, die Slowenen denken, wenn sie wieder einmal lesen müssen: Deutschland hat den Rest der Welt angegriffen? Nein, nicht nur Deutschland hat verbrecherisch einen verheerenden Krieg vom Zaun gebrochen – es war auch die Sowjetunion, die dank deutscher Vorleistung ihren eigenen Einflussbereich nach und nach erweiterte und angrenzende Länder mit Krieg und vernichtendem Terror überzog. Es war auch Italien, das bereits 1935 einen Verwüstungsfeldzug in Afrika führte, das an der anderen Adriaküste Konzentrationslager einrichtete und eine gewaltsame Italianisierung betrieb und somit eine Art Startsignal für deutsche und sowjetische Großmachtgelüste gab.

Eine ausgewogene Darstellung der komplizierten außenpolitischen Lage vor dem 1. September 1939 und während  der Kriegsereignisse muss unbedingt die multipolare Welt des damaligen Europa berücksichtigen. Italien, die Sowjetunion und Deutschland, die Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien – sie alle standen gegen- und miteinander, dazu kamen die kleineren europäischen Staaten, die mehr oder minder geschickt zwischen den verschiedenen größeren Mächten lavierten.

Ein niederschmetternder Befund aus der Lektüre der SPIEGEL-Titelgeschichte bleibt: Es herrscht bei uns in Deutschland weiterhin eine absolut germanozentrische Sicht der Weltgeschichte vor. Die kleineren Länder kommen einfach als eigenständige Subjekte nicht vor. Als sei Deutschland der einzige Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte gewesen. Es fehlen Hinweise auf die zahlreichen Kollaborateure in den anderen Ländern. Es fehlt das unendlich wichtige psychologische Moment der Angst vor der kommunistischen Weltrevolution. Es fehlt ein Blick auf die komplizierte Gemengelage der widerstreitenden nationalen und politischen Interessen in Ländern wie Lettland, Ukraine, Polen und Tschechoslowakei.

Genauso wichtig wie Nazideutschland war in der Bewusstseinslage der 30er Jahre die Sowjetunion.  Man lese die Zeitungen der roten und der braunen Kampfpresse aus jener Zeit, und man wird erkennen: Die europäische Geschichte ist nicht so einfach gebaut, wie es das holzgeschnitzte Schwarz-Weiß-Bild der hartnäckigen Geschichtslegenden wahrhaben möchte.

 Posted by at 16:29

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