Freiheit oder Despotie?

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Apr 152010
 

Wir hatten in diesem Blog mehrfach das Buch Ester der jüdisch-christlichen Bibel und die „Perser“ des Aischylos für unsere Betrachtungen über unterschiedliche Staatsmodelle im Osten und Westen herangezogen.

Ein insgesamt gut recherchierter, faktenkundiger Artikel von Gunther Latsch erscheint soeben in Spiegel online über das alte Perserreich. Ich meine: Der Verfasser erkennt zu recht, dass die damals, im 5. Jahrhundert geprägten Stereotypen unser Reden über den Gegensatz Orient-Okzident bis heute prägen. So leisten etwa heute noch, im 21. Jahrhundert nach Christus, die türkischen Schulkinder täglich einen Treue-Eid auf den mythologisch überhöhten toten Staatsgründer Atatürk. Jedes türkische Kind muss sich dieser ununterbrochenen Kette der Letztverantwortung einfügen. Das ist das uralte monarchische Staatsdenken, das sich direkt bis auf die orientalischen Großreiche – darunter das Reich der Achämeniden –  des 1. Jahrtausends vor Christus zurückführen lässt. Der mythisch überhöhte Gründer-König des Staates trägt die letzte Verantwortung für das Gedeihen der ganzen Gemeinschaft. Deswegen muss er um jeden Preis geschützt werden. Und deshalb durfte er nicht in vorderster Front mitkämpfen. Denn der Tod des Despoten gefährdete den Fortbestand des gesamten Staates. Durch die feierliche Verpflichtung auf den toten Staatsgründer wird diese Verantwortungsgemeinschaft weitergegeben.

Auch westliche Staaten haben in einem Rückgriff auf jahrtausendealte Despotie-Modelle diesen persönlichen Treue-Eid immer wieder eingeführt und verlangt. So galt der Treue-Eid ab 1933 bis 1945 auch in Deutschland, in der Sowjetunion wurden ebenfalls bis 1954 wieder und wieder persönliche, quasi-religiös bekräftigte Eide auf die Person des Staatenlenkers gefordert. Italien verlangte ebenfalls etwa 20 Jahre lang, bis 1944, den persönlichen Treueid. Eine Nachwirkung des uralten despotischen Staatsdenkens, gegen das sich damals – im späten 5. Jh. v. Chr. – Athen und seine Verbündeten zur Wehr setzten!

Allerdings kann ich dem Verfasser Gunther Latsch  nicht folgen, wenn er den Griechen des 6.-5. Jh. v. Chr. ein verächtliches Herabschauen auf die Perser unterstellt („verhasst verlacht verkannt“). Die Griechen haben lediglich die Andersartigkeit  ihrer winzigen Stadtrepubliken sehr zutreffend erkannt. Von einer Verachtung der Perser waren sie weit entfernt. Das Maß aller Dinge waren eben für das Staatsdenken zunächst einmal die orientalischen Großreiche, von Ägypten angefangen! Man lese doch bitte wieder einmal Herodot, angeblich den Vater der „abendländischen Geschichtsschreibung“. Was sehen wir da? Etwa drei Viertel seines Werkes „Historien“ behandeln östliche, also „orientalische“, despotisch geführte Großreiche! Der Ausnahmecharakter, das Besondere am griechischen, später am abendländischen Freiheitsbegriff, tritt bereits bei Herodot und Aischylos deutlichst vor Augen. Die zentrale, herausgehobene Stellung des Königs, des Pharaos, des Großkönigs, die sakrale Würde des Despoten, das ist ein Merkmal, das den Griechen wieder und wieder ins Auge sticht. Warum? Weil sie es selber nicht mehr aufweisen. Die griechischen Städte sind viel kleiner, und viele von ihnen haben das „Königtum“ abgeschafft und ersetzt durch wählbare Beamte, durch „Ältestenräte“ und dergleichen mehr. Sie haben den göttlich überhöhten Alleinherrscher, den „Despoten“  beseitigt und durch „Ratsversammlungen“ oder wählbare „Stadtobere“ ersetzt! Eine kulturrevolutionäre Tat allerersten Ranges, ohne die unsere „Vereinigten Staaten von Amerika“ und auch unsere „Bundesrepublik Deutschland“ nicht denkbar wären.

Die Abschaffung des despotischen Alleinherrschers war die Gründungstat, die die Republik ermöglichte. Sie erst ermöglichte jenes hohe Maß an Freiheit, das heute gerne in Festtagsreden beschworen wird. Unsere persönliche Freiheit, die Grundrechte, die im Laufe der Jahrtausende entwickelten Menschenrechte verdanken sich letztlich dem Aufstand gegen das despotische Staatsmodell der antiken Großreiche.

Leider droht dieses Wissen vom überragenden Rang der Freiheit auch in Europa immer wieder verlorenzugehen, wie die totalitären europäischen Großreiche des 20. Jahrhunderts belegen.  Sowjetrussland (ab 1917), Italien (1921-1944) und Deutschland (1933-1945) halte ich für drei besonders verheerende Rückgriffe auf despotische Staatlichkeit.  Despotische Staaten wie die drei genannten bringen zwar ein scheinbar höheres Maß an Versorgungsgewissheit. Dem steht als Preis jedoch ein hohes Maß an Unfreiheit, Entwicklungsverhinderung und häufig grausame Willkür gegenüber.

Gegen jeden Rückfall in diese alten Modelle vom allesbesorgenden despotischen Überstaat gilt es sich zu wehren.

Persiens Großkönig Xerxes: Verhasst, verlacht, verkannt – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Wissenschaft
Anders als bei den Griechen sei „die persönliche Bewährung in vorderster Front nicht eine legitimatorische Voraussetzung des persischen Herrschertums“ gewesen. „Im Gegenteil: Der Tod eines Königs im Kampfe hätte eine gefährliche und gesetzlose Zeit heraufbeschworen, in der das Reich und die Herrschaft leicht in Unordnung hätten geraten können. Unter den Augen des aufmerksamen Königs tapfer zu kämpfen und dafür gegebenenfalls königliche Anerkennung zu finden genügte einem persischen Untertan; kein Perser hätte an dem thronenden Xerxes in Salamis Anstoß genommen.“

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Ist der Staat ein versorgender Hirte?

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Apr 072010
 

Uralte Bilder tauchen zur Osterzeit wieder auf: „Erkenne mich mein Hüter, mein Hirte nimm mich an …“ Bach, Matthäus-Passion, Choral Nr. 15! Was steckt hinter der Rede von Gottes Sohn als dem Hirten, dem Urquell aller Güter?

Seit dem 3. Jahrtausend vor Christus wird der Herrscher in Ägypten, später im ganzen Orient, als Hirte gesehen und gepriesen, als verantwortlicher Nährer und Quell aller Güter.

Biblische Psalmen übertragen dieses Bild des gütigen Hirten auf Gott: „Der Herr ist mein Hirte, er führet mich auf eine grüne Au …“ Der gute Herrscher sorgt für seine Schafe. Die altorientalischen Reiche bringen in Hofzeremonien, in Hymnen, in Bildern wieder und wieder diese Figur: Der Herr ist der Hirte.

Das fiel mir ein, als ich kürzlich wieder Aischylos‘ Perser las, insonderheit die Verse 238-242:

Aeschylus, Persians, line 232
Ἄτοσσα
καὶ τί πρὸς τούτοισιν ἄλλο; πλοῦτος ἐξαρκὴς δόμοις;

Χορός
ἀργύρου πηγή τις αὐτοῖς ἐστι, θησαυρὸς χθονός.

Ἄτοσσα
πότερα γὰρ τοξουλκὸς αἰχμὴ διὰ χεροῖν αὐτοῖς πρέπει;

Χορός
οὐδαμῶς: ἔγχη σταδαῖα καὶ φεράσπιδες σαγαί.

Ἄτοσσα
τίς δὲ ποιμάνωρ ἔπεστι κἀπιδεσπόζει στρατῷ;

Χορός
οὔτινος δοῦλοι κέκληνται φωτὸς οὐδ᾽ ὑπήκοοι.

Atossa, die Königin der Perser, fragt:

„Wer ist der Hirte-Feldherr, wer beherrscht das Heer?“

Der Bote antwortet:

„Sie heißen niemandes Knechte, gehorchen niemandem“
Kaum irgendwo so deutlich wie hier zeigt sich, was den Unterschied zwischen den despotisch geführten Reichen des Orients und den neuen städtischen Demokratien der Griechen ausmacht. Die Griechen brauchen keinen Versorger, keinen Nährer, keine Hirten und Oberherrn. Unfassbar, neuartig, erregend muss das damals für persische Ohren geklungen haben! Denn dies ist der Urkeim des republikanisch-demokratischen Staates: Verzicht auf ein überhöhtes Oberhaupt. Volle Verantwortung für das Bündnis der freien und gleichen Bürger! Das empfanden die Griechen als den eigentlichen Konflikt zwischen den Persern und ihnen selbst. Damit brachten sie ein zur damaligen Zeit völlig neues Staatsverständnis auf die Welt, das schließlich auch zu unserer Demokratie geführt hat.

Aischylos gelingt es, diesen Gegensatz einfühlend und nachempfindend in Worte zu fassen.

Noch heute zeigen sich überall diese beiden unterschiedlichen Staatsauffassungen, teils in Reinform, teils in Mischformen. Wenn etwa Arbeitslose stöhnen: „Jetzt hat mir der Staat immer noch keinen Arbeitsplatz beschafft. Mit diesem Staat bin ich fertig!“, oder wenn Opel-Beschäftigte jammern: „Du kannst uns nicht alleine lassen, Angie, rette uns!“,  dann erkennen wir mühelos Reste jener uralten Gleichsetzung des Staates, der Herrscherfigur mit dem Ernährer und Hirten, die sich in der Rede Atossas widerspiegelt. Der Staat, verkörpert im Oberhaupt, trägt in solch uraltem despotischen Denken die letzte Verantwortung für den Wohlstand, für das Glück seiner Bürger.

Im ganzen Orient halten sich bis zum heutigen Tage diese Versorgungs-Despotien, von denen das Perserreich eines, wenn auch das bedeutendste Beispiel war. Ein Blick auf den historischen Weltatlas zeigt: Überall da, wo am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. das gewaltige östliche Reich der persischen Achämeniden sich erstreckte, hat sich das Versorgungsdenken tief in die Staaten eingesenkt – und besteht bis zum heutigen Tage fort. Der ganze Länderbogen von Ägypten bis nach Pakistan steht – trotz aller Unterschiede, die es geben mag – weitgehend noch im Bann dieses uralten autoritären Staatsmodells.

Der despotische Staat übernimmt die letzte Verantwortung, und er erwartet im Gegenzug die Einordnung und Unterwerfung des Einzelnen. Sozialismus, Totalitarismus, Fundamentalismus sind moderne Fortsetzungen dieses altorientalischen, despotischen Staatsverständnisses. Der despotische Staat wird von oben her gedacht. Von oben her „regnet“ der Herrscher seine Wohltaten auf das Volk herab.

Der demokratische Staat wächst demgegenüber von unten her als Bündnis freier und gleicher Bürger auf.

Selbstverständlich finden wir dieses Versorgungsdenken auch in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder. Dass die Menschen für ihr Wohlergehen, für ihren wirtschaftlichen Erfolg selbst die Hauptverantwortung tragen sollen, dieser neue, demokratische Ansatz erscheint vielen als ungewohnte Zumutung. Es fällt ihnen schwer, den eigenen Kräften zu vertrauen. Sie erwarten das Glück vom Staat.

Der Bürgermeisterkandidat Richard von Weizsäcker drückte das 25 Jahrhunderte nach Aischylos – erst vor kurzem also, im Jahr 1981 – gegenüber dem Stadtmagazin zitty in folgenden Worten aus – die aktuelle zitty hat diese treffenden Worte zum 90. Geburtstag noch einmal abgedruckt -:

„Auf der anderen Seite finde ich in der Tat, dass nach meinem Verständnis unseres Gemeinwesens und auch unserer Verfassungsordnung der eigentliche Sinn und Auftrag im Selbertun liegt, im Bürgersinn, in der Verantwortung, in der Selbsthilfe. Eine jahrzehntelange verwaltungs- und staatsbürokratische Versorgung, und mag sie noch so gut gemeinte Motive haben, hat uns die Eigenkräfte abgewöhnt.“

Quellen:

J. S. Bach: Matthäus-Passion. Frühfassung. Klavierauszug nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe von Martin Focke. Bärenreiter, Kassel, 2006, hier: S. 55

Aeschyli septem quae supersunt tragoedias edidit Denys Page, Oxford 1975, hier: S. 10

Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Cornelsen Verlag Berlin 2001, S. 34-35

zitty Berlin. Das Hauptstadtmagazin 8.-21. April 2010, Heft 8/2010, S. 41

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Gehört die Türkei zu Europas Kultur?

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Mrz 022010
 

„Eis ten polin“ – von dieser griechischen Kurzformel leitet sich der moderne Name des heutigen Istanbul her – einer grandiosen Geburtsstätte dessen, was heute das ganze Europa ausmacht. Man könnte diese Stadt eigentlich metaphorisch als „eis ten Europan“ benennen, denn sie steht genau an der Grenze zwischen dem östlichen und dem westlichen Europa. Als Byzantion (Byzanz) gegründet, wurde sie im 4. Jh. n. Chr. in Konstantinopel umbenannt. Von da aus empfingen die östlichen Völker das Evangelium in griechischer Sprache – darunter alle ostslawischen Völker. Kleinasien war im 1. Jahrhundert eine der Gründungsstätten des Christentums. Die Türkei birgt den Mutterboden für die europäische Leitreligion.

Die Osmanen bevorzugten die griechische Stadtbezeichnung Konstantiye oder auch Istanbul. Auf diese und andere Zusammenhänge machte kürzlich der studierte Historiker Christan Dettmering auf dem berühmten Glashaus-Stammtisch aufmerksam.  Ohnehin sprachen große Teile der türkischen Macht- und Verwaltungselite Griechisch – ja die meisten sprachen nicht nur die damalige Weltsprache Griechisch, sondern waren selbst Griechen. Und noch bei der Gründung der modernen Türkei waren 30% der Bevölkerung Christen, ganz überwiegend Griechen und Armenier.

Ich halte die Türkei für einen Mittler- und Brückenstaat, der kulturell gesehen teilweise zum östlichen Europa gehört, wie etwa auch Griechenland, Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, zu einem Teil aber auch zur Gemeinschaft des islamischen Kulturkreises, der vom Maghreb bis nach Indonesien reicht.

Kulturell gesehen gehört also Kleinasien, die heutige Türkei, zum östlichen Teil Europas wie etwa Griechenland und Bulgarien.  Auch wenn die 1982 verhängte, noch heute geltende Verfassung von der „ewigen unteilbaren Existenz des türkischen Volkes“ ausgeht, tun wir Europäer gut daran, die Türken nicht vor den Kopf zu stoßen: Die Osmanen mischten in der europäischen Geschichte kräftig mit,  sie waren ein Teil von ihr, ja über mehrere Jahrhunderte hinweg beherrschten sie weite Teile des östlichen Europa, darunter den ganzen Balkan. Und sie stellten sich bewusst als Nachfolger des antiken Ostrom dar. Die bosnischen Muslime sind eine seit Jahrhunderten bestehende „autochthone“ islamische Gemeinde – mitten in Europa.

Und die Nachfolger der Osmanen, das sind die Jungtürken. Sie haben einen an europäischen Staatsmodellen ausgerichteten Überbau geschaffen. Ihr Vorbild waren die damaligen, autoritär geführten Nationalstaaten des westlichen Europa, also etwa Frankreich oder auch Deutschland.

Vor jeder Überheblichkeit gegenüber „Ostrom“, also Istambul oder auch Moskau, sollten wir Spätlinge uns hüten. Vielleicht hilft dabei ein Besuch der folgenden Ausstellung:

Byzanz – Die Supermacht, die Europa vor den Arabern rettete – Kultur – Berliner Morgenpost
Byzanz, so der überwältigende Tenor, war eine Großmacht mit einer Zivilisation, der das abendländische Mittelalter das Wasser nicht reichen konnte. Ein Staat, der, rechnet man nur von der definitiven Reichsteilung nach dem Tod von Theodosius dem Großen 395 bis zum ersten Fall 1204, länger Bestand hatte, als die Neuzeit währt. Vor allem aber hätte das Abendland ohne den oströmischen Schutzschirm kaum die Chance gehabt, einmal zur Geburtstätte von Renaissance, Aufklärung und Weltherrschaft zu werden.

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Jan 252010
 

Liest man unsere Boulevardpresse von taz bis BZ, so stellt sich als ein gesichertes Ergebnis heraus: Es gibt keine faulen Menschen, es gibt keine Faulheit! Es gibt keinen Fleiß, es gibt keine fleißigen Menschen! Immer sind die Verhältnisse an allem schuld: Die Kulturen der Herkunftsländer. Die Kultur oder Unkultur des Ziellandes. Die Großfamilien, die Kleinfamilien. Die Alleinerziehenden. Der Reichtum. Die Armut. Die zerbrechenden Familien. Die zusammengluckenden Familien.  Die Sippen. Die Vereinzelung. Für das Scheitern finden sich immer tausend Gründe.

Rotterdam, Neukölln, Paris, London – überall haben die Stadtväter und Stadtmütter alle Hände voll zu tun, um passende Strukturen für das wachsende und wuselnde niedere Volk zu schaffen, das sich in den berüchtigten Gettos zusammenballt.

Keiner der Stadtväter oder Stadtmütter wagt es auch nur zu sagen: Lernt! Arbeitet! Tut was! Ganz zu schweigen von lateinischen Formulierungen wie etwa: Stude et labora! Lerne und arbeite!

Merkwürdig: Niemand, wirklich fast niemand spricht die einzelnen Menschen direkt an, wie es etwa die antike Tugendlehre tat. Wie es ein Nachfolgerstaat des griechischen Kleinasien, nämlich der heutige türkische Staat mit großem Erfolg in seinen Grundschulen tut.

Der Begriff Tugend, an dem die Dichter und Philosophen einige hundert Jahre – von Homer bis Seneca – herumwerkelten, beruhte auf einem persönlichen Leistungsbegriff: Jede und jeder sollte das Beste aus sich machen. Das war ein Imperativ, der wirklich jedem Jungen (leider nicht den Mädchen) eingeschärft wurde, von Homers Achill angefangen. In Homers Ilias heißt es im sechsten Gesang, Vers 208:

„Versuche stets das Beste aus dir zu machen, stell dich dem Wettbewerb!“

Die ständige Arbeit an den eigenen Anlagen, an den eigenen Fähigkeiten wurde durch eine Batterie an Bildungseinrichtungen eingeschärft: Fitnessplatz (damals Gymnasion genannt), Pädagogen-Sklaven, öffentliche Rezitationen, Volksversammlungen, gemeinsame Feste und Feiern.

Und heute? Wir haben unvergleichbar mehr materiellen Reichtum angehäuft als die alten Griechen und Römer. Ein Schulkind in der ersten Klasse in Neukölln ist reicher, hat mehr Sachen, hat mehr Essen als ein Kind eines normalen Stadtbürgers im Athen des 5. Jahrhunderts. Und trotzdem verlassen die Hälfte dieser Kinder die Schule, ohne sich hinreichend präzise in Deutsch, Türkisch oder Arabisch ausdrücken zu können, während es im alten Athen eine beständig lernende, diskutierende Stadtbürgerschaft gab, die lange Passagen der Dichter auswendig konnte, eine gemeinsame Sprache sprach, Begriffe schuf, um sich miteinander über die gelingende Demokratie auszutauschen.

Grund für unsere Malaise: Der Begriff individuellen Leistens, individueller Anstrengung ist aus dem politischen Diskurs fast völlig verschwunden. Die Politik züchtet durch ihre Kümmerer-Grundhaltung eine erwartungsfrohe Schar an Hilfeempfängern heran. Diese Schar ruft lauter und lauter: „Mach du mal, Staat!“

Für alles werden die Strukturen in Haftung genommen. Dabei kann ein Gemeinwesen ohne individuelle, persönliche Anstrengung nicht gelingen.

Dieses Denken hat uns in die Sackgasse geführt.  Die Politik sieht sich als „bezahlender Dienstleister“ der Bürger. Die Bürger rufen diese Leistungen ab, sie liefern die Ideen, sie lassen den Staat machen und bezahlen. Der Staat ist der Anspruchsgegner, die Bürger haben ein Recht darauf, dass der Staat ihre guten Ideen finanziert und dass er für die guten Ideen bezahlte Stellen schafft.

Ich meine: Koordination, Bündelung, alles schön und gut. Aber das Ganze kann nur funktionieren, wenn der Staat den Kindern und Eltern wieder und wieder, mit großer Strenge, klar macht: „Du, du einzelner Bürger, bist im wesentlichen für dein Leben verantwortlich. Du musst selbst dafür sorgen, dass dein Leben gelingt. Für Faulheit gibt es keine Entschuldigung. Lerne und arbeite!“

Ich vermisse diese Botschaften schmerzlich im politischen Tagesgespräch.

Lest hier im Tagesspiegel einen interessanten Überblick über die wacker mit Windmühlen kämpfenden Großstädte Europas:

Kampf den Ghettos
Umweltsenatorin Anja Hajduk: „Die besten Ideen für einen Stadtteil kommen häufig von Menschen, die selbst in dem Quartier leben. Mit Engagement und Begeisterung setzen sie sich für Verbesserungen ein.“ Unter dieser Prämisse soll die Verwaltung künftig bei Projekten und Maßnahmen als niedrigschwelliger und generationsübergreifender Dienstleister fungieren, der Verbände vor Ort wie Kirchen, Sportvereine und Wohnungsunternehmen in alle Planungs- und Entwicklungsschritte einbindet. Oft wird nur durch vernünftige Absprache untereinander, also Koordination und Vernetzung, Effizienz erzielt, die in haushaltspolitisch schwierigen Zeiten mitunter auch noch volks- und betriebswirtschaftliche Vorteile beschert. Die Koalition will mit „Rise“ der sozialen Spaltung der Stadt entgegentreten und versuchen, dass sich an bestimmten Punkten der Elbmetropole keine Armut verfestigt. Die Praxis sieht trotzdem vielerorts anders aus.

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Freiheit instandsetzen

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Mrz 212009
 

„Frei, also höchst verletzbar . . . „ Ich empfehle das neue Buch Christian Meiers allen Gegenwartverdrossenen, allen Kleinmütigen und Verzagten. Man schlage es an beliebiger Stelle auf – und man wird sich festlesen, man wird vielleicht erst nach zwei oder drei Abschnitten auf den ersten griechischen Namen, auf die erste Jahreszahl stoßen und erstaunt den Kopf schütteln: „Ach so, eigentlich geht es um das alte Griechenland – ich dachte, es ginge um uns!“

Meier ist einer der ganz wenigen lebenden deutschen Prosaschriftsteller, die sich an antiken Vorbildern geschult haben: ich höre die harte Fügung eines Thukydides, eines Tacitus heraus – aber ebenso auch die Kunst der gegliederten Periode. Wie er, nach längerem Gedankenflug niedersetzend, das Gehörte und Gedachte in zwei oder drei Wörtern zusammenfasst – das nötigt mir höchste Bewundrung ab. Man höre doch bitte oder lese sich laut vor etwa die folgenden Sätze:

„Wie die mykenische Welt zum Einsturz kam, läßt sich nicht mehr ausmachen. Manches spricht dafür, daß auch sie – wie unter anderm das mächtige Reich der Hethiter – dem Sturm der sogenannten Seevölker erlag, der um 1200 v. Chr. über die Welt des östlichen Mittelmeers dahinfegte. Doch könnten Epidemien, Naturkatastrophen oder innere Konflikte zuvor schon die mykenischen Reiche erschüttert oder geschwächt haben. Vermutlich hing alles an der Herrenschicht, und die war schmal. Sie mag zuletzt ins Mark getroffen gewesen sein. Jedenfalls brach jene Welt so völlig zusammen, da ein Wiederaufbau schließlich nicht mehr in Frage kam. Große Teile des hochentwickelten Handwerks hörten auf, sogar die Schrift ging verloren, derer sich die Palastverwaltungen bedient hatten; man brauchte sie nicht mehr. Wo einst prächtige Burgen sich über das Land erhoben; wo Armeen von Streitwagen, Flotten und ein ausgeklügelter Küstenschutz Herrschaft und Sicherheit nach außen garantiert hatte; wo ein System von Straßen gebaut und unterhalten und Handel mit Hilfe von Niederlassungen in Kleinasien und Unteritalien gepflegt worden war, fraßen sich Zerstörung, Armut und Ungewißheit ein. Gefahren lähmten das Alltagsleben, die Wünsche wurden bescheiden. Der Ägäisraum lag brach.“

Kaum ein Buch scheint mir stärker in unsere Zeit hineingeschrieben zu sein als eben dieses, aus dem hier zitiert worden ist. Wie der Autor stets von neuem Anlauf nimmt, Bekanntes zusammentragend, neu ordnend, wie er den Scheinwerfer geschickt vom Anfang her rollend immer wieder über unsere Gegenwart huschen lässt, wie er uns dadurch weit besser einen Spiegel vorhält, als wenn er uns die Leviten mit starrem Blick aufs Jetzt läse: das alles ist meisterlich, das ist ergreifend, das stärkt! Trotz der Fragezeichen, trotz der deutlichen Skepsis, die Meier in Interviews zur heutigen politischen Lage äußert – ich für mein Teil fasse ihn als großen Ermuntrer und Bestärker auf. Deshalb setzen wir einen ganz anderen Ton an das Ende dieser Betrachtung: den Freiheits-Ton, der heute in Europens Blässe nur noch als dünnes Rinnsal zu vernehmen ist:

 „Von heute aus ist schwer einzuschätzen, was es bedeutet, ohne höhere Instanzen, ohne Scheuklappen, nicht nur jeder an seiner Stelle, sondern alle zusammen selbst für das Ganze verantwortlich zu sein, frei, also höchst verletzbar, also ringsum ihre Fühler ausstreckend, immer neue Fragen aufwerfend, um sich und die Welt gedanken- und kunstvoll stets neu auszuprobieren. Denn darin bestand doch das Problem für sie: Sie mußten ihre Freiheit instandsetzen, um unter komplexer werdenden Bedingungen allen Herausforderungen zu genügen.“

Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? Siedler Verlag, München 2009, hier : S. 64 und S. 57-58

Das Foto zeigt einen Blick auf die Stadt Berlin, aufgenommen heute vom Gipfel des Teufelsberges aus

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„To kratos dolophonei“ – dies ist eine Reisewarnung für Europa!

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Dez 102008
 

Piräus, Patras, Larissa, Trikala, Korinth, Rhodos – dies alles sind Städtenamen, bei denen mein Herz höher schlägt. Es sind Namen, die für die Geburt Europas stehen. In einem einzigartigen Zusammenklang von Mythos, Geschichte, Philosophie und Religion entstand im antiken Kleinasien und Griechenland das meiste von dem, was wir heute als Kern der Idee Europa betrachten.

Und heute – zerreißt es mir das Herz! Im Tagesspiegel steht:

Rebellion der Ratlosen
Das deutsche Auswärtige Amt hat bereits eine Reisewarnung für Griechenland herausgegeben. Denn nicht nur in Athen gibt es Unruhen. Piräus, Patras, Larissa, Trikala, Korinth, Chania, Rhodos – die Liste der Städte, in denen jugendliche Randalierer alles zerstören, was ihnen in den Weg kommt, wird täglich länger.

Ich kenne das moderne Griechenland nicht gut genug, um einen Kommentar zur Lage dort abzugeben. Aber eines kann man folgern: Wenn tausende Jugendliche plündernd durch die Straßen ziehen, handelt es sich nicht um gewöhnliche Kriminelle. Es muss sich darin eine ungeheure Wut ausdrücken, ein völliges Auseinanderfallen von Staat und junger Generation. Diese jungen Menschen schreien es mit Leibeskäften heraus:  „Dies ist nicht unser Staat, dies ist nicht unsere Ordnung!“ To kratos dolophonei – lese ich auf einem Banner, das aus der griechischen Botschaft in Berlin hängt. „Die Macht tötet heimtückisch.“

Wohl aber kenne ich ein wenig die Bewusstseinslage in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Eine im ZDF bekanntgegebene Umfrage vor einer Woche brachte ans Licht, was ich leider schon dumpf ahnte: Die Mehrheit der Deutschen sowohl im „Osten“ wie im „Westen“ findet, es sei ihnen vor der Wiedervereinigung besser gegangen. Wie würden die deutschen Jugendlichen handeln, wenn sie eines fernen Tages ebenfalls der Meinung sein sollten: „Dies ist nicht unser Staat, dies ist nicht unsere Ordnung!“? Wenn eine echte Krise hereinbräche, nicht bloß so ein kleinmütiges Hickhack um Pendlerpauschalen? Wenn Perspektivlosigkeit und Verdruss über Missstände sich zu einer hochexplosiven Mischung verbänden?

Die Vorgänge in Griechenland dürfen uns nicht kalt lassen. Sie sind ein erschütterndes Beispiel dafür, wie ein europäisches Kernland die Zustimmung der jungen Bürger zur Demokratie verspielen kann. Dies ist eine Warnung an alle anderen EU-Länder, wohin die Reise gehen kann, wenn die Grundwerte des modernen Verfassungsstaates, die Grundwerte der Europäischen Union nicht jederzeit, an jedem Ort weiter gepflegt, eingeübt und verteidigt werden.

Wir müssen sehr viel tun, damit nicht eines fernen Tages andere Länder der Europäischen Union Reiseewarnungen herausgeben müssen: „Fahren Sie nicht nach Deutschland, fahren Sie nicht nach Polen, fahren Sie nicht nach Ungarn.“ To kratos dolophonei!

Eine Demokratie, die nicht auf im Herzen gefühlter Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung beruht, hat keinen Bestand. A house divided cannot stand.

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Phobie … aus Angst kann Hass entstehen

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Dez 022008
 

41ref48q3xl_sl125_.jpg Im Tagesspiegel erscheint heute ein Artikel über die Ablehnung der Homosexualität. Diese Haltung wird häufig als Homophobie bezeichnet. Heißt aber Phobie nicht Angst? Heißt Homophobie also „Angst vor dem Gleichen“? Ich greife das Thema auf und antworte auf einen Leserkommentar von Leser „netter“. Er schreibt im Tagesspiegel:

„Da kommt die Lesbe“
Phobie?
Klaustrophobie, Arachnophobie usw..

Das sind doch Ängste.
Ich denke, Homophobie triffts denn dann doch nicht. Ich glaube nicht, dass diese Leute Angst vor „Homosexuellen“ haben.
Das klingt ja beinahe so, als würde jemand gleich einen hysterischen Anfall bekommen, wenn er mit einem H. im selben Zimmer ist oder so.

Zja, und dass unsere armen Migrationshintergründigen was gegen H’s. haben, das liegt ja nun an deren Kultur und dass die sich dieses Political Correctness NICHT aufpressen lassen

Auf diesen Kommentar antworte ich so:

Aus Angst vor dem Fremden kann Hass entstehen
@ netter: Diese Zusammensetzungen mit -phobie gehen auf griechisch phobos zurück. „Phobos“ heißt vieles: Fliehen, In-die-Flucht-Schlagen, Furcht, Angst. Das Fremdartige kann Flucht und Angst auslösen. Bereits in der griechisch-römischen Antike wurden Komposita mit „-phobia“ gebildet, die dann neben der „Angst vor …“ auch die „Ablehnung von…“ oder den „Haß auf …“ bedeuten, z.B. „iudaiophobia“, also die Ablehnung des Jüdisch-Christlichen durch das römische Imperium und dann der Hass auf das Jüdische (und auch das Christliche), der in gewalttätigen Verfolgungen gegen Juden (und auch Christen) seinen Ausdruck fand. Hierzu gibt es ein höchst lesenswertes Buch des Judaisten Peter Schäfer: „Judeophobia“. So auch bei Arachno-Phobie usw. Die Angst vor Spinnen (arachnoi) etwa kann in blinde Gewalttätigkeit gegen Spinnen umschlagen, also den Willen, alle Spinnen aus dem Haus zu vertreiben. Sinnlose Gewaltakte haben ihren Ursprung häufig in Angst vor Unbekanntem, das zu einem selbst gehört.

Was kann man dagegen tun? Wichtig scheint mir: Das Umgehen miteinander lernen. In einem geschützten Raum, wie ihn unser Rechtsstaat bereitstellt. Das ist schwer, aber es ist möglich.

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Aug 172008
 

Der Urlaub im türkischen Kadikalesi nahe Bodrum brachte wunderbare Begegnungen, Entspannung, Spaß, Freude mit meinen russischen Schwiegereltern, aber leider auch den furchtbaren Schatten des Kaukasuskrieges, der sich über die letzte Woche legte. Wir kennen viele Georgier, die Georgier gelten in Russland als lustiges, lebensfrohes Völkchen, über das endlose Anekdoten kursieren. Und dann das! Längere Sitzungen am Internet waren unvermeidlich. Meine Türkischkenntnisse besserten sich rapide – jede Woche ein neues Wort! Unsterbliche Dialoge entspannen sich – auf russisch und türkisch gemischt, da ich als Russe galt und am „Russentisch“ saß, wie das Gevatter Thomas Mann genannt hätte. Einen dieser Dialoge will und darf ich euch nicht vorenthalten:

Türkischer Kellner Achmed: „Mozhna?“ (Das ist russisch, zu deutsch: „Darf ich den Teller abräumen, den Sie da eben so unordentlich leergegessen haben?“) Ich: „Evet!“ (Das ist türkisch, zu deutsch: „Ja, sehr freundlich von Ihnen und nehmen Sie doch bitte auch die Gabel mit.“) So leicht ist Türkisch!

Aber insgesamt waren die Türken sehr belustigt und erfreut, dass sich jemand mit ihrer Sprache Mühe gab. Ich glaube, das hatten sie noch nicht erlebt. Mein Sohn Wanja schwamm lange Strecken, baute Muskelmasse auf, und forderte alle möglichen Jungs zum Kräftemessen heraus. Sein Spitzname: Klitschko, Liebling der Türken. Als Klitschkos Vater hatte ich ebenfalls einen Stein im Brett. Im Hotel weilten ansonsten 50% türkische Gäste, 20% Russen und 30% Litauer und Letten. Was für eine Mischung – das ist das neue Europa!

Wir gaben auch zwei Zimmerkonzerte, Wanja und ich mit meiner Frau, denn wir Männer hatten unsere Geigen mitgenommen, sie ihre Stimme sowieso. Ich wage zu behaupten, dass ich der erste Mensch war, der Bachs g-moll-Solosonate in Kadikalesi spielte, und zwar zum Rufe des Muezzin, mein Sohn spielte „Hänschen klein“, wohl auch als Erstaufführung.

Kleinasien – das ist ja auch die Geburtsstätte Europas. Wir sind alle Kultur-Schuldner Asiens. Die herrliche europäische Leitkultur ist samt und sonders in Kleinasien entsprungen: Homer stammt von hier, Herodot sowieso, ionische Naturphilosophen Kleinasiens stellten die ersten Fragen nach dem Woher und Wozu. Erst später trat Athen in diese durch Asien gebahnten Denk- und Dichtwege.

Ein Ausflug führte uns nach Ephesus, das heutige Efes. Paulus, der eigentliche Schöpfer des Christentums, hatte sich hier auf den Marktplatz gestellt und den staunenden Bewohnern verkündet: „Ich bringe euch den unbekannten Gott!“ Sie glaubten ihm nicht. Aber – ich stellte mich unter den Tausenden von Touristen ebenfalls in die Überreste des antiken Bouleuterions, des Gerichts- und Versammlungstheaters, in dem Volksversammlungen, Gerichtsverhandlungen und künstlerische Darbietungen erfolgten. Was für ein Gefühl! 1200 Menschen passten hier hinein. Ich erprobe den Ruf, ein Satz fliegt mir zu – etwa von Göttin Diana? – ich spreche ihn laut aus in die sengende Hitze, und er klingt zurück von den steinernen Rängen, klar, vernehmlich, verstärkt. Er lautet:

„Wenn wir alle zusammenstehen, dann wird es gelingen!“ Das Foto zeigt mich in Ephesus, während ich eben diesen Satz ausspreche.

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Aischylus – der erste von uns anmaßend-überheblichen Europäern?

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Griechisches  Kommentare deaktiviert für Aischylus – der erste von uns anmaßend-überheblichen Europäern?
Jan 082008
 

Die folgende Behauptung des großartigen Historikers Norman Davies verblüffte mich heute kurz nach dem Frühstück:

In his Persae, Aeschylus creates a lasting sterotype whereby the civilized Persians are reduced to cringing, ostentatious, arrogant, cruel, effeminate, and lawless aliens. Henceforth, all outsiders stood to be denigrated as barbarous. No one could compare to the wise, courageous, judicious, and freedom-loving Greeks.

Davies benennt vor allem die attische Tragödie als Quell jener abendländischen Überheblichkeit gegenüber den Barbaren, die dann im Laufe der Jahrtausende zu so viel Unheil geführt habe. Ich frage: Ja, sind denn die Griechen in der Orestie des Aischylos etwa auch nur einen Deut besser? Sind sie nicht verschlagen, verblendet, angsterfüllt, hinterlistig, feige, grausam, verbrecherisch? Ich glaube, in seinem Verdikt über Aischylos irrt Davis, wie sonst eigentlich ganz selten. Sein meisterhaftes Buch über europäische Geschichte kann ich trotzdem nur mit allergrößtem Nachdruck empfehlen. Das Zitat findet sich auf S. 103.

Norman Davies: Europe. A History. 1365 Seiten, Pimlico, London 1997

Ebenso meisterhaft widerlegt im heutigen Tagesspiegel die Berliner Gräzistin Gyburg Radke die in diesem Blog bereits am 22.12.2007 angezeigten Thesen des Raoul Schrott zum „endlich gelüfteten Geheimnis“ Homers. Sowohl Davies‘ als auch Radkes Ausführungen treten mit einer zentralen These zum europäischen Geistesleben hervor: Aischylus habe seine Tragödien in schroffer Abgrenzung von der barbarischen Außenwelt geschaffen, so Davies. Demgegenüber kann Radke darauf verweisen, dass die hohe Kunst Homers gerade in der sorgfältigen Sichtung und Komposition ganz unterschiedlicher Traditionsstränge aus verschiedenen Kulturen bestanden habe. Zitat:

Schrotts Eingebung, die These der oral poetry sei falsch, weil das große Kunstwerk „Ilias“ nicht Produkt der mündlichen Überlieferung, sondern nur der Fleißarbeit eines Schriftgelehrten sein könne, verfehlt gerade das, was Homer zum größten aller Dichter macht. Nicht das Sammeln macht ihn besonders, sondern im Gegenteil seine strenge Auswahl. Dass er neu ordnet und eine neue, vollständige und individuelle Geschichte erzählt, darin liegt die Faszination Homers. Deshalb sprechen wir noch heute von ihm, nach 2800 Jahren.

So verlockend es ist, ein anschauliches Bild von seiner Lebenswirklichkeit zu gewinnen und mehr über den Kulturaustausch zwischen Griechen und dem Alten Orient zu erfahren, so bleibt dies doch lediglich der Rahmen für das, was uns Homer wirklich näherbringt. Die assyrischen Einflüsse auf die Entwicklung der griechischen Dichtung zu kennen, ist ein großer Erkenntnisfortschritt, den nicht Raoul Schrott, sondern die Forschung erbracht hat. Doch sollte uns Homer dadurch nicht exotisch und fremd werden, sondern vertrauter: als Höhepunkt der Dichtkunst, die Europa im Dialog mit anderen Kulturen hervorgebracht hat.

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