Liest man unsere Boulevardpresse von taz bis BZ, so stellt sich als ein gesichertes Ergebnis heraus: Es gibt keine faulen Menschen, es gibt keine Faulheit! Es gibt keinen Fleiß, es gibt keine fleißigen Menschen! Immer sind die Verhältnisse an allem schuld: Die Kulturen der Herkunftsländer. Die Kultur oder Unkultur des Ziellandes. Die Großfamilien, die Kleinfamilien. Die Alleinerziehenden. Der Reichtum. Die Armut. Die zerbrechenden Familien. Die zusammengluckenden Familien. Die Sippen. Die Vereinzelung. Für das Scheitern finden sich immer tausend Gründe.
Rotterdam, Neukölln, Paris, London – überall haben die Stadtväter und Stadtmütter alle Hände voll zu tun, um passende Strukturen für das wachsende und wuselnde niedere Volk zu schaffen, das sich in den berüchtigten Gettos zusammenballt.
Keiner der Stadtväter oder Stadtmütter wagt es auch nur zu sagen: Lernt! Arbeitet! Tut was! Ganz zu schweigen von lateinischen Formulierungen wie etwa: Stude et labora! Lerne und arbeite!
Merkwürdig: Niemand, wirklich fast niemand spricht die einzelnen Menschen direkt an, wie es etwa die antike Tugendlehre tat. Wie es ein Nachfolgerstaat des griechischen Kleinasien, nämlich der heutige türkische Staat mit großem Erfolg in seinen Grundschulen tut.
Der Begriff Tugend, an dem die Dichter und Philosophen einige hundert Jahre – von Homer bis Seneca – herumwerkelten, beruhte auf einem persönlichen Leistungsbegriff: Jede und jeder sollte das Beste aus sich machen. Das war ein Imperativ, der wirklich jedem Jungen (leider nicht den Mädchen) eingeschärft wurde, von Homers Achill angefangen. In Homers Ilias heißt es im sechsten Gesang, Vers 208:
„Versuche stets das Beste aus dir zu machen, stell dich dem Wettbewerb!“
Die ständige Arbeit an den eigenen Anlagen, an den eigenen Fähigkeiten wurde durch eine Batterie an Bildungseinrichtungen eingeschärft: Fitnessplatz (damals Gymnasion genannt), Pädagogen-Sklaven, öffentliche Rezitationen, Volksversammlungen, gemeinsame Feste und Feiern.
Und heute? Wir haben unvergleichbar mehr materiellen Reichtum angehäuft als die alten Griechen und Römer. Ein Schulkind in der ersten Klasse in Neukölln ist reicher, hat mehr Sachen, hat mehr Essen als ein Kind eines normalen Stadtbürgers im Athen des 5. Jahrhunderts. Und trotzdem verlassen die Hälfte dieser Kinder die Schule, ohne sich hinreichend präzise in Deutsch, Türkisch oder Arabisch ausdrücken zu können, während es im alten Athen eine beständig lernende, diskutierende Stadtbürgerschaft gab, die lange Passagen der Dichter auswendig konnte, eine gemeinsame Sprache sprach, Begriffe schuf, um sich miteinander über die gelingende Demokratie auszutauschen.
Grund für unsere Malaise: Der Begriff individuellen Leistens, individueller Anstrengung ist aus dem politischen Diskurs fast völlig verschwunden. Die Politik züchtet durch ihre Kümmerer-Grundhaltung eine erwartungsfrohe Schar an Hilfeempfängern heran. Diese Schar ruft lauter und lauter: „Mach du mal, Staat!“
Für alles werden die Strukturen in Haftung genommen. Dabei kann ein Gemeinwesen ohne individuelle, persönliche Anstrengung nicht gelingen.
Dieses Denken hat uns in die Sackgasse geführt. Die Politik sieht sich als „bezahlender Dienstleister“ der Bürger. Die Bürger rufen diese Leistungen ab, sie liefern die Ideen, sie lassen den Staat machen und bezahlen. Der Staat ist der Anspruchsgegner, die Bürger haben ein Recht darauf, dass der Staat ihre guten Ideen finanziert und dass er für die guten Ideen bezahlte Stellen schafft.
Ich meine: Koordination, Bündelung, alles schön und gut. Aber das Ganze kann nur funktionieren, wenn der Staat den Kindern und Eltern wieder und wieder, mit großer Strenge, klar macht: „Du, du einzelner Bürger, bist im wesentlichen für dein Leben verantwortlich. Du musst selbst dafür sorgen, dass dein Leben gelingt. Für Faulheit gibt es keine Entschuldigung. Lerne und arbeite!“
Ich vermisse diese Botschaften schmerzlich im politischen Tagesgespräch.
Lest hier im Tagesspiegel einen interessanten Überblick über die wacker mit Windmühlen kämpfenden Großstädte Europas:
Kampf den Ghettos
Umweltsenatorin Anja Hajduk: Die besten Ideen für einen Stadtteil kommen häufig von Menschen, die selbst in dem Quartier leben. Mit Engagement und Begeisterung setzen sie sich für Verbesserungen ein. Unter dieser Prämisse soll die Verwaltung künftig bei Projekten und Maßnahmen als niedrigschwelliger und generationsübergreifender Dienstleister fungieren, der Verbände vor Ort wie Kirchen, Sportvereine und Wohnungsunternehmen in alle Planungs- und Entwicklungsschritte einbindet. Oft wird nur durch vernünftige Absprache untereinander, also Koordination und Vernetzung, Effizienz erzielt, die in haushaltspolitisch schwierigen Zeiten mitunter auch noch volks- und betriebswirtschaftliche Vorteile beschert. Die Koalition will mit Rise der sozialen Spaltung der Stadt entgegentreten und versuchen, dass sich an bestimmten Punkten der Elbmetropole keine Armut verfestigt. Die Praxis sieht trotzdem vielerorts anders aus.
Sorry, the comment form is closed at this time.