Apr 072010
 

Uralte Bilder tauchen zur Osterzeit wieder auf: „Erkenne mich mein Hüter, mein Hirte nimm mich an …“ Bach, Matthäus-Passion, Choral Nr. 15! Was steckt hinter der Rede von Gottes Sohn als dem Hirten, dem Urquell aller Güter?

Seit dem 3. Jahrtausend vor Christus wird der Herrscher in Ägypten, später im ganzen Orient, als Hirte gesehen und gepriesen, als verantwortlicher Nährer und Quell aller Güter.

Biblische Psalmen übertragen dieses Bild des gütigen Hirten auf Gott: „Der Herr ist mein Hirte, er führet mich auf eine grüne Au …“ Der gute Herrscher sorgt für seine Schafe. Die altorientalischen Reiche bringen in Hofzeremonien, in Hymnen, in Bildern wieder und wieder diese Figur: Der Herr ist der Hirte.

Das fiel mir ein, als ich kürzlich wieder Aischylos‘ Perser las, insonderheit die Verse 238-242:

Aeschylus, Persians, line 232
Ἄτοσσα
καὶ τί πρὸς τούτοισιν ἄλλο; πλοῦτος ἐξαρκὴς δόμοις;

Χορός
ἀργύρου πηγή τις αὐτοῖς ἐστι, θησαυρὸς χθονός.

Ἄτοσσα
πότερα γὰρ τοξουλκὸς αἰχμὴ διὰ χεροῖν αὐτοῖς πρέπει;

Χορός
οὐδαμῶς: ἔγχη σταδαῖα καὶ φεράσπιδες σαγαί.

Ἄτοσσα
τίς δὲ ποιμάνωρ ἔπεστι κἀπιδεσπόζει στρατῷ;

Χορός
οὔτινος δοῦλοι κέκληνται φωτὸς οὐδ᾽ ὑπήκοοι.

Atossa, die Königin der Perser, fragt:

„Wer ist der Hirte-Feldherr, wer beherrscht das Heer?“

Der Bote antwortet:

„Sie heißen niemandes Knechte, gehorchen niemandem“
Kaum irgendwo so deutlich wie hier zeigt sich, was den Unterschied zwischen den despotisch geführten Reichen des Orients und den neuen städtischen Demokratien der Griechen ausmacht. Die Griechen brauchen keinen Versorger, keinen Nährer, keine Hirten und Oberherrn. Unfassbar, neuartig, erregend muss das damals für persische Ohren geklungen haben! Denn dies ist der Urkeim des republikanisch-demokratischen Staates: Verzicht auf ein überhöhtes Oberhaupt. Volle Verantwortung für das Bündnis der freien und gleichen Bürger! Das empfanden die Griechen als den eigentlichen Konflikt zwischen den Persern und ihnen selbst. Damit brachten sie ein zur damaligen Zeit völlig neues Staatsverständnis auf die Welt, das schließlich auch zu unserer Demokratie geführt hat.

Aischylos gelingt es, diesen Gegensatz einfühlend und nachempfindend in Worte zu fassen.

Noch heute zeigen sich überall diese beiden unterschiedlichen Staatsauffassungen, teils in Reinform, teils in Mischformen. Wenn etwa Arbeitslose stöhnen: „Jetzt hat mir der Staat immer noch keinen Arbeitsplatz beschafft. Mit diesem Staat bin ich fertig!“, oder wenn Opel-Beschäftigte jammern: „Du kannst uns nicht alleine lassen, Angie, rette uns!“,  dann erkennen wir mühelos Reste jener uralten Gleichsetzung des Staates, der Herrscherfigur mit dem Ernährer und Hirten, die sich in der Rede Atossas widerspiegelt. Der Staat, verkörpert im Oberhaupt, trägt in solch uraltem despotischen Denken die letzte Verantwortung für den Wohlstand, für das Glück seiner Bürger.

Im ganzen Orient halten sich bis zum heutigen Tage diese Versorgungs-Despotien, von denen das Perserreich eines, wenn auch das bedeutendste Beispiel war. Ein Blick auf den historischen Weltatlas zeigt: Überall da, wo am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. das gewaltige östliche Reich der persischen Achämeniden sich erstreckte, hat sich das Versorgungsdenken tief in die Staaten eingesenkt – und besteht bis zum heutigen Tage fort. Der ganze Länderbogen von Ägypten bis nach Pakistan steht – trotz aller Unterschiede, die es geben mag – weitgehend noch im Bann dieses uralten autoritären Staatsmodells.

Der despotische Staat übernimmt die letzte Verantwortung, und er erwartet im Gegenzug die Einordnung und Unterwerfung des Einzelnen. Sozialismus, Totalitarismus, Fundamentalismus sind moderne Fortsetzungen dieses altorientalischen, despotischen Staatsverständnisses. Der despotische Staat wird von oben her gedacht. Von oben her „regnet“ der Herrscher seine Wohltaten auf das Volk herab.

Der demokratische Staat wächst demgegenüber von unten her als Bündnis freier und gleicher Bürger auf.

Selbstverständlich finden wir dieses Versorgungsdenken auch in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder. Dass die Menschen für ihr Wohlergehen, für ihren wirtschaftlichen Erfolg selbst die Hauptverantwortung tragen sollen, dieser neue, demokratische Ansatz erscheint vielen als ungewohnte Zumutung. Es fällt ihnen schwer, den eigenen Kräften zu vertrauen. Sie erwarten das Glück vom Staat.

Der Bürgermeisterkandidat Richard von Weizsäcker drückte das 25 Jahrhunderte nach Aischylos – erst vor kurzem also, im Jahr 1981 – gegenüber dem Stadtmagazin zitty in folgenden Worten aus – die aktuelle zitty hat diese treffenden Worte zum 90. Geburtstag noch einmal abgedruckt -:

„Auf der anderen Seite finde ich in der Tat, dass nach meinem Verständnis unseres Gemeinwesens und auch unserer Verfassungsordnung der eigentliche Sinn und Auftrag im Selbertun liegt, im Bürgersinn, in der Verantwortung, in der Selbsthilfe. Eine jahrzehntelange verwaltungs- und staatsbürokratische Versorgung, und mag sie noch so gut gemeinte Motive haben, hat uns die Eigenkräfte abgewöhnt.“

Quellen:

J. S. Bach: Matthäus-Passion. Frühfassung. Klavierauszug nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe von Martin Focke. Bärenreiter, Kassel, 2006, hier: S. 55

Aeschyli septem quae supersunt tragoedias edidit Denys Page, Oxford 1975, hier: S. 10

Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Cornelsen Verlag Berlin 2001, S. 34-35

zitty Berlin. Das Hauptstadtmagazin 8.-21. April 2010, Heft 8/2010, S. 41

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