„Ich bin stolz, ein Türke zu sein!“

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Nov 142012
 

Der erst 24 Jahre junge deutsch-türkische Schauspieler Burak Temir bekennt sich in der New York Times offen zu seinem Stolz auf sein Türkentum. Er trägt auch im Privatleben den Bart nach osmanischer Sitte und die osmanischen Salvar-Hosen, die traditionellen Pluderhosen. „It makes me proud to be Turkish – es lässt mich stolz darauf sein, Türke zu sein.“

Ein junger Deutsch-Türke entdeckt seinen Nationalstolz und bekennt sich stolz und selbstbewusst zu seinem Volkstum.

Das Wiedererstarken des osmanischen Nationalstolzes ist nicht nur in der Türkei selbst, sondern auch in der starken, stetig anwachsenden türkischen Gemeinde in Deutschland ein verblüffendes Phänomen.   Kein anderer Film zog so viele Deutsch-Türken in die Kinos wie Fetih 1453 – das filmische Epos über die Eroberung des damals christlich-griechischen Konstantinopel durch den erst 22 Jahre jungen Sultan Mehmet II. Etwa 10% aller Deutschtürken dürften laut Ticketverkaufszahlen das blutrünstige, weltweit erfolgreiche Heldenepos gesehen und im nationalen Stolz auf die Eroberungstaten ihrer Vorväter geschwelgt haben.

Die New York Times berichtet von Aufführungen, in denen das Publikum bei der Eroberung der schier uneinnehmbaren, 16 m hohen Wallmauern des damals griechischen Konstantinopel „Allahu akbar“ ausgerufen habe. Das ist arabisch und bedeutet „Gott ist groß“. Die Sieg über das griechische Konstantinopel wird im Jahr 2012 in aller Öffentlichkeit in den Kinosälen als Fingerzeig Gottes gefeiert, als Sieg des stolzen Islams über das schwache, dekadente abendländische Christentum.

Auch die von den Seldschuken im Jahr 1071 gewonnene Schlacht von Manzikert taucht neuerdings  wieder in türkischen Politiker-Reden und Feiern auf. Der Kemalismus, also das persönliche, religionsähnliche Einschwören aller Türken auf den großen unsterblichen Führer der modernen, laizistischen Türkei nimmt in der Türkei allmählich ab. Der Osmanismus nimmt zu wie ein zunehmender Mond! Die islamische Türkei besinnt sich auf die uralte militärische und kulturelle Stärke der alten vorderasiatischen Eroberervölker, beschwört die siegreichen Schlachten, in denen der christliche Westen besiegt, erobert und unterworfen wurde. Die unterschwellige Botschaft scheint zu sein: Setzt die Eroberungen fort. Ihr habt viel Zeit. Schaut mal her, wie lange es von 1071 bis 1453 gedauert hat! Erobert Deutschland, aber werdet keine Deutschen. Erobert Europa, aber bleibt gute Moslems. Bleibt auch nach Siegen tolerant gegenüber den unterworfenen Christen und Juden! Besinnt euch auf die uralte Tugend der Schonung des unterworfenen Gegners. Erinnert euch der humanitären Großtaten eurer Väter, die jahrhundertelang den verfolgten Juden Zuflucht und Schutz vor blutiger Verfolgung und Vertreibung durch die Christen gewährten! Denkt nicht in Jahren, denkt nicht in Jahrzehnten, denkt in Jahrhunderten! 1071 – 1453 – 2071!

Was ist der Unterschied zwischen der politischen Kultur Deutschlands bzw. der Europäischen Union und der Türkei?

Die offizielle Türkei bezieht neuerdings Kraft und Stärke auf die Besinnung auf militärische und kulturelle Großtaten, auf blutige Schlachten und prachtvolle Bauten, auf Toleranz und Großmut und Schonung des Feindes, mit denen die kulturelle Überlegenheit der Seldschuken, der Osmanen, der Türken und der muslimischen Völker  über das Abendland nachgewiesen wird.  In der Türkei kann auch nach der Reform des Paragrafen 301 des Jahres 2008 weiterhin jeder bestraft werden, der die unteilbare türkische Nation verunglimpft oder die Integrität der staatlichen Grenzen antasten will. Dies ist das einzige relevante Meinungsdelikt, das das türkische Strafrecht kennt. Eine Abspaltungsbewegung – etwa durch die 20 bis 25 Millionen Kurden – wird die Türkei niemals hinnehmen.

Deutschland hat dem fast nichts entgegenzusetzen außer der kulturellen Selbstverleugnung (wir wollen alle sein wie Pippi Langstrumpf) und der Pflege des Gedenkens an die zahlreichen Massenverbrechen, die die Deutschen von 1933-1945 begangen haben. Deutschland bosselt und baut unermüdlich weiter an seiner negativen Auschwitz-Theologie.  In Deutschland kann jeder bestraft werden, der den religiös überhöhten Holocaust, also den Inbegriff des Bösen, begangen vom Trägervolk des Bösen, also den Deutschen und nur den Deutschen, kontextualisiert, relativiert, leugnet. Dies ist das einzige politisch relevante Meinungsdelikt, das das deutsche Strafrecht kennt. Abspaltungsbewegungen – etwa „Wir Bayern wollen los von der Bundesrepublik“ – werden belächelt, aber nicht bestraft. Deutschen-Bashing, Christentums-Bashing ist in Deutschland voll OK. So wie man vor vielen Jahrhunderten im Abendland für Gotteslästerung bestraft werden konnte, kann man heute für Relativierung, Kontextualisierung oder gar – horribile dictu – Leugnung des Holocaust bestraft werden. Der Holocaust ist das factum absolutum der deutschen Geschichte.

So wie für die Christen die Kreuzigung und Auferstehung des Juden Jesus von Nazareth, also der „Monokaust“, die Tötung eines einzelnen, historisch benannten Menschen  der Kristallisationspunkt ihrer positiv nach vorn, in die Zukunft gerichteten Identität im Glauben geworden ist, droht der jüdische „Holokaust“ – das rituell-religiöse überhöhte Ganzopfer –  zum Kristallisationspunkt der prinzipiell negativ definierten deutschen Identität  zu werden. Diese rückwärtgewandte, der Kontextualisierung enthobene Fixierung auf die Vergangenheit lähmt die Eigenkräfte, bannt die Menschen im Selbstzweifel, verhindert Wachstum und Kultur, verhindert Schaffung des Neuen und Gestaltung der Zukunft.

Quelle:
Dan Bilefsky: On Screeen and Off, A New Turkish Pride. The New York Times International Weekly, Monday, November 12, 2012, page 6

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Sep 052012
 

„Was hatten die Griechen des Altertums jenseits ihrer uns im Nachhinein fast unfassbaren Zerstrittenheit und kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Antwort: Recht wenig – außer der Verehrung der olympischen Götter, den olympischen Spielen und Homer. So schroff kann man es durchaus sagen.

„Was haben die heutigen europäischen Völker jenseits ihrer im Nachhinein oft unfassbaren kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Kulturell gesehen recht wenig – außer dem Bezug auf die drei mosaischen Religionen Judentum, Christentum und Islam und einer zivilgesellschaftlichen Tiefenprägung durch das Imperium Romanum.

Einen weiteren Beleg für meine Diagnose eines zutiefst unvollständigen europäischen Bewusstseins meine ich in der Vernachlässigung all jener Richtungen des Christentums zu erkennen, die weder dem römisch-katholischen noch dem evangelischen Flügel zuzuordnen sind. Die Kirchenspaltung, zu deren Überwindung heute namhafte deutsche Laien aufrufen (siehe FAZ S. 1), wird in Deutschland und in Westeuropa ausschließlich als die Trennung zwischen römisch-katholisch und evangelisch gesehen.

Dabei gehören der EU mit Griechenland, Zypern, Bulgarien und Rumänien vier Länder an, deren Bevölkerung sich mit über 80%, ja bis zu 97%  zum Christentum bekennt, wenngleich sie weder römisch-katholisch noch evangelisch bzw. protestantisch sind.

„Wie denn das?“ Antwort: Während die Völker des europäischen Westens das Neue Testament in lateinischer Sprache empfingen, empfingen es die Völker des Ostens in griechischer Sprache. Diese Völker gehören zum weiten Bereich des orthodoxen Christentums. Die Spaltung zwischen orthodoxem und lateinischem Christentum datiert wesentlich auf das Jahr 1054.

Die Bibel, also erstens der ältere hebräische Teil, bei den Christen Altes Testament genannt, verbunden zweitens mit dem Neuen Testament der Christen ist in der Tat neben der paganen Antike eine überaus wichtige kulturelle Klammer, welche die beiden Lungenflügel Europas zusammenhält, in ihrer Bedeutung vergleichbar den Gesängen Homers oder den Olympischen Spielen für das alte Hellas.

Das gilt unabhängig davon, ob man sich zur Person Jesu Christi bekennt oder nicht, also ob man „Christ“ ist oder nicht. Und selbstverständlich sind die biblischen Geschichten auch überreich im Koran der Muslime weitergeführt, wenngleich unter leicht veränderten Namen. So heißt unsere Maria, die hebräische Miriam, dort auf arabisch Meryam.

Hebräischer Tenach, christliches Neues Testament, neuerdings auch muslimischer Koran – ohne eine Befassung mit diesen drei Büchern wird man Europa kaum vollständig ausbuchstabieren können.

Und deshalb meine ich: das ganze Christentum sollten wir in den Blick nehmen – nicht nur den westlichen Lungenflügel.

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Das halbseitig gelähmte europäische Bewusstsein

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Sep 052012
 

Von den „beiden Lungenflügeln Europas“ sprach Karol Woytyla gerne – er meinte damit den Osten und den Westen Europas. Ein Lungenflügel allein sei nicht wirklich lebensfroh.

Dass die Diagnose „halbseitig gelähmt“ für Deutschlands historisches Gedächtnis und insbesondere auch die vorherrschende Denkweise in der Europäischen Union weiterhin zutrifft, dafür entnehme ich der heutigen Frühstücks-FAZ einen zufälligen Beleg:

Günther Nonnenmacher beleuchtet im Leitartikel auf Seite 1 die Verwerfungen und Verschiebungen der europäischen Hegemonialmächte. Zentral ist in seiner Analyse der folgende Satz: „Das politisch-militärische Hegemonialstreben Deutschlands ist im 20. Jahrhundert schrecklich gescheitert.“ Der Satz ist nicht zu beanstanden, gibt er doch die übliche, ganz auf Deutschland fixierte Sicht wider, wonach Deutschland und nur Deutschland versucht habe, dem ganzen Kontinent seinen Stempel aufzudrücken. Dem könnte man eigentlich fast zustimmen, wäre da nicht eine empfindliche Lücke festzustellen: Weder Nonnenmacher noch auch die Mehrzahl der sonstigen Kommentatoren erwähnen, dass es in Europa seit 1917 bis zum Jahr 1989 noch eine zweite, nicht minder aggressive, militärisch hochgerüstete Hegemonialmacht gab: die Sowjetunion, den Nachfolgestaat des Russischen Reiches.

Die Russische Republik bzw. die spätere Sowjetunion hat zwar seit dem Rapallo-Vertrag von 1922 bis zum August 1941 mit Deutschland meist gemeinsame Sache auf Kosten der kleineren Länder gemacht, aber doch auch stets und unausgesetzt versucht, den eigenen Machtbereich gegen die Hegemonialbestrebungen Deutschlands auszubauen. Ich schlage deswegen gern vor, von einer bipolaren Störung der europäischen Mächtebalance in den Jahren ab 1920 zu sprechen, wobei Deutschland und Russland die beiden Pole darstellen. Die kleineren Länder waren in diesen Jahren gezwungen, entweder mit der Sowjetunion oder mit Deutschland zu paktieren. Manche Länder wechselten die Seiten, einige sogar mehrfach: Inferno of choice, wie das in Polen in einem gleichnamigen Band genannt worden ist.  Einen dritten Weg jenseits der freiwilligen oder erzwungenen Unterwerfung unter eine der beiden Hegemonialmächte gab es nicht.

Dieses bereits 1920 einsetzende russisch-sowjetische Machtstreben hat den angrenzenden Ländern Finnland, Ukraine, den drei baltischen Staaten, den mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, ferner Rumänien, Bulgarien, aber auch den mittelasiatischen Ländern wie dem heutigen Georgien, Armenien, Azerbeidschan lange, oft qualvolle Jahrzehnte bis 1989 einen machtvollen Stempel aufgedrückt, dessen sie sich mit äußerster Mühe in den letzten beiden Jahrzehnten zu entledigen suchen.

So ist etwa die Westverschiebung Polens, die Vertreibung der Polen aus den neuen russisch-sowjetischen Gebieten und die Vertreibung der gesamten deutschen Bevölkerung aus den sogenannten „wiedergewonnenen polnischen Gebieten“ nur aus dem Machthunger der Sowjetunion zu erklären.

Die völlige Vernachlässigung der früheren Großmacht Russland bzw. Sowjetunion und ihrer weitverzweigten, militärisch durchgesetzten Machtoptionen, das einseitige Starren auf den „Urquell des Bösen“, nämlich Deutschland, ist eines der Haupthindernisse für eine gerechte Einschätzung der Freiheitsbestrebungen etwa der Polen, Tschechen und Ungarn.

Diese Missachtung des östlichen Lungenflügels, also des früher sowjetrussisch beherrschten Ländergürtels,  behindert auch die Lösung der Krise der Europäischen Union.

Wir alle wissen: Das politisch-militärische Hegemonialstreben Deutschlands und das der Sowjetunion sind im 20. Jahrhundert schrecklich gescheitert. Aufgabe der Europäischen Union ist es, allen erneuten Anwandlungen einer nationalistischen Aufwallung, eines aggressiven Vormachtstrebens den Boden zu entziehen.

Nur wenn man die verheerenden Auswirkungen der früheren Fremdherrschaft der Sowjetunion so sieht, wie es die ehemals sowjetisch besetzten und aus Moskau gesteuerten Länder tun, wird man erkennen, wie unverzichtbar gerade für Länder wie Polen, Lettland oder Tschechien die Europäische Union ist.  Nur die Europäische Union flößt den ehemals zwischen Deutschland und Russland zerriebenen kleineren Nationalstaaten – noch – die Gewissheit ein, dass sie endlich ihre bitter erkämpfte Freiheit und nationale Eigenständigkeit bewahren können.

 Posted by at 13:14
Jul 172012
 

Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles bei uns! Rund 115 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr würde die Einhaltung der neuen Hygienestandards an Berliner Schulen kosten, also die tägliche Reinigung der Böden und Toiletten durch den eifrig den Bürgern hinterherwischenden Berliner Senat! Ein Ding der Unmöglichkeit! Alle drängen und bedrängen die Geldkoffer des Staates, die Politik gebärdet sich im Kleinen wie im Großen fast nur noch als Streit ums Geld. Das Geld ist offenkundig die Grundlage und das entscheidende Maß der Politik, dieser Grundlage dient alles andere.

Dabei ist eigentlich genug Geld im System, es fehlt nur an den Regeln, wie heute recht zutreffend Bundestagspräsident Lammert seufzte.

Da flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten! Zur Erholung von diesen allzu europäischen Geld-Tönen schlage ich gerne die alten Bücher des Ostens, Homer, Herodot, Aischylos etwa  auf. – Heute wiederum las und rezitierte ich das berühmte Gedicht Einladung (Davet) von Nazim Hikmet. Was für andere Töne! Kraftvoll, leidenschaftlich, – dieser Mann wird noch getragen von einem echten republikanischen Ethos! Die Freiheit steht im Mittelpunkt seines Einsatzes, auf dieser ursprünglichen Einsicht in Freiheit und Gleichheit aller Menschen gründet sein Vertrauen in das gute, das gelingende Wort!

Bu memleket bizim – das ist unser Land.
Bu davet bizim – das ist unsere Einladung.
Bu hasret bizim – das ist unsere Sehnsucht.

In den Zeilen Hikmets wird für mich erfahrbar, wie kostbar die Freiheit – selbstverständlich auch die politische Freiheit – ist. Gelingende Politik stiftet Gemeinschaft im Wort: unser Land.

Gelingende Politik schließt andere Menschen, andere Völker ein statt aus: unsere Einladung.

Wie schwer ist es, sich im Gezänk über Geld dieses Wertes bewusst zu bleiben!

Gelingende Politik strebt erlebten Wünschen nach: unsere Sehnsucht.

Gelingende Politik, gelingendes Zusammenleben beruht darauf, dass alle sich dieser Zugehörigkeit, diesem Streben nach Freiheit und Brüderlichkeit verpflichtet wissen.

Hört selbst:

 Nâzım Hikmet:

DAVET
Dörtnala gelip Uzak Asya’dan
Akdeniz’e bir kısrak başı gibi uzanan
bu memleket bizim.

Bilekler kan içinde, dişler kenetli, ayaklar çıplak
ve ipek bir halıya benzeyen toprak,
bu cehennem, bu cennet bizim.

Kapansın el kapıları, bir daha açılmasın,
yok edin insanın insana kulluğunu,
bu davet bizim.

Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür
ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim.

Quelle:

Türkçe Okuma Kitabı. Erste türkische Lesestücke. Herausgegeben von Celal Özcan und Rita Seuß. Illustrationen von Rita Seeberg. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Auflage, München 2011 [=dtv 9482], S. 76

Ich freue mich auch auf folgende öffentliche Veranstaltung:

„Wir wollen uns an die Abmachungen halten. Das ist das Fundament, auf dem Europa nur gedeihen kann.“  So wird Bundeskanzlerin Merkel 16.06.2012 in der ARD-Tagesschau zitiert.

Abmachungen einhalten, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit des Wortes – ist dies das Fundament, auf dem Europa neu gedeihen kann? An diesem Abend wollen wir ein politisches Gedicht über die Freiheit von Nazim Hikmet und eines von Friedrich Hölderlin kennen und lieben lernen.

Zum Mitmachen, Mitsprechen  und Mitwachsen für alle. Anschließend politische Diskussion.

Treffpunkt:  Donnerstag, 19. Juli 2012, 20.00 Uhr, Park am Gleisdreieck, Kreuzberg-West.

Neuer Kiosk am Park-Eingang (von der Hornstraße her)

In Deutsch und Türkisch

Bild: Wurzelscheibe eines Baumes vom Märchenpfad in Bischofswiesen, Berchtesgadener Land

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O leuchtende Kraft des freien Wortes!

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Apr 022012
 

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O leuchtende Kraft des freien, fröhlichen Wortes! Diese strahlende Macht des freien Wortes offenbart sich darin, dass man es jäh aufblitzend der Angst zum Trotz laut, kräftig und vernehmbar erschallen lässt.

So, mit derart steigernd-steigender, nicht wortlautgetreuer Begeisterung übersetze ich mir und Euch allen einen Spruch aus dem 67. Kapitel des ersten Teils des Romans Leben und Schicksal von Wassili Grossman, den ich in diesen Tagen immer wieder mit großer Dankbarkeit zur Hand nehme.

Diesen Spruch mache ich mir vollkommen zu eigen. Ich kaue ihn wie der Häftling seinen Brotkanten kaut, der im Kauen süß wird. Dieser Kanten Brot, dieses kantige Wort hilft mir über Widrigkeiten und Gefährdungen hinweg. Er stellt in der Tat eine Art Glaubensbekenntnis für mich dar.

Ich glaube in der Tat an die überragende, befreiende Macht des in Freiheit gesprochenen Wortes.

Europa wird nicht durch das Schwert zusammenkommen, wie es Wassili Grossman am eigenen Leib erleben musste. Europa wird auch nicht durch das Geld zusammenkommen, wie törichte Menschen es jetzt wieder landauf landab verkünden. Die Unterwerfung der nachfolgenden Generationen unter die zentralen Steuerungsmechanismen der Währung ähnelt einer Selbstaufgabe der Freiheit.

Die Unterjochung unter die herrischen Imperative des Geldes ist ein gefährlicher Irrweg, vor dem es Europa zu bewahren gilt. Übermäßige Staatsverschuldung, mangelnde Strukturreformen, vor allem aber ein Mangel des freien Wortes sind zusammen mit dem Glauben an die absolute Macht des mit gleichsam religiöser Inbrunst angebeteten Geldes die Ursachen für den drohenden Verlust der Handlungsfreiheit.

Die öffentliche Diskussion über den ESM ist dieser Tage in meinen Augen ein niederschmetterndes Dokument des mangelnden Zutrauens in die Freiheit des Menschen.

Das Schwert hat zu Wassili Grossmans Zeiten die europäischen Völker nicht geeint. Das Geld, die Unterwerfung der Politik unter das Geld, die Absolutsetzung der Währung droht heute Europa zu spalten.

Ich sage: Nur im freien, befreienden Wort werden die europäischen Völker zusammenfinden. Am freien Wort fehlt es in Europa, fehlt es in Deutschland. Dies werde ich gar nicht oft genug wiederholen können.

Hier könnt ihr die Fundstelle meines Goldschatzes im Wortlaut nachlesen:

Василий Гроссман. Жизнь и судьба
О, ясная сила свободного, веселого слова! Она в том и проявляется, что вопреки страху его вдруг произносят.

Bild: Hammer und Sichel kommen wieder. Ein aktuelles Wand- und Warnbild, aufgenommen gestern in Berlin-Kreuzberg, Obentrautstraße

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Nov 202011
 

Großer, bewegender Abend am Freitag mit den Sängerinnen Angelina Billington, Irina Potapenko, der Pianistin Lala Isakowa und dem Geiger J.H. Beim Moderieren fällt mir auf, dass wir als gute Europäer mit den Liedern die gesamte Landschaft Europas ausspazieren: Lateinisch, Englisch, Italienisch, Deutsch, Russisch – damit haben wir von West nach Ost alles durchmessen.

Ein Glas vortrefflicher Syrah, kredenzt von Carsten und Kati, mundet vortrefflich!

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Sep 242011
 

Entspringt die gegenwärtige Finanzkrise einem falschen Wachstumsglauben?  Manche reden so. Da unsere Volkswirtschaften zur Wahrung des Wohlstandes auf Wachstum angelegt seien, müssten sie sich zunehmend verschulden, um bei sinkender Beschäftigung den Wohlstand für alle zu sichern. Ich widerspreche.

„Falscher Wachstumsglaube“ oder „falsches Staatsverständnis?“

Die gesamte europäische Schuldenkrise ist meiner tiefen Überzeugung nach aus einem falschen, im Grunde uneuropäischen Staatsverständnis entsprungen. Die Staaten und mit ihnen die Europäische Union ließen sich in die Haftung für das wirtschaftliche Wohlergehen der Bürger, der Unternehmen und der Banken nehmen, statt die Bürger, die Unternehmen und die Banken zu ermuntern, ihr eigenes Wohlergehen zu besorgen.

Die europäischen Staaten haben auf verderbliche Weise über ihre Verhältnisse gelebt, weil sie dem Staat einerseits zu viele Haftungspflichten übertrugen und andererseits die Aufsichtspflichten des Staates vernachlässigten.

Sie laufen folglich Gefahr, den allgewaltigen Versorgungsstaat zu schaffen.
„Der Euro ist die Grundlage der Europäischen Union, ohne den Euro bricht Europa auseinander.“ So kann man es sinngemäß oder wörtlich auch aus dem Munde namhafter Politiker hören. Ich halte diese Aussage für falsch und für gefährlich. Der Euro ist nie und nimmer die Grundlage der Europäischen Union, noch weniger die Grundlage Europas. Weder Europa noch die Europäische Union sind auf dem Euro oder auf dem europäischen Wirtschaftsraum begründet. Wer so redet, hat die eigentliche Klammer Europas und auch der Europäischen Union nicht hinreichend bedacht.

Warum?

Nicht der Euro, nicht die Wirtschaft sind der Sinn und Zweck der Europäischen Union. Die unterscheidenden Merkmale Europas und auch der heutigen Europäischen Union sind meines Erachtens  die folgenden:

1) Ein stark entfalteter Freiheitsbegriff, nachzuweisen in Griechenland ab etwa dem 6. Jahrhundert v. Christus:

Wir sind selber der Staat, wir sind selber die Macht.“ So sprechen und denken die Bürger der griechischen Gemeinden, die dem Druck des allgewaltigen Versorgungsreiches, dem Druck der Perser standhalten und sich ihm widersetzen.

Bis zum heutigen Tag gibt es diese beiden klar entgegengesetzten idealtypischen Staatsbegriffe: Im  Osten und Süden des Mittelmeeraumes bestimmt noch weitgehend der herrschaftliche, von oben herab verfügende und lenkende Alleinherrscher mit seinen wenigen Getreuen die Geschicke der Bürger. Das antike Perserreich ist die idealtypische Ausprägung, die heute noch bestehenden Diktaturen des Ostens und Südens tragen diese Erbschaft weiter.

Im Norden und Westen des Mittelmeerraumes wollen überwiegend die kleineren Einheiten, die Bürger, die Gemeinden, die kleineren und größeren Nationen ihr Schicksal selbst bestimmmen. Jeder übergeordneten Macht wird mit zunehmender Zurückhaltung, Skepsis und auch Widersetzlichkeit begegnet. Das galt jahrhundertelang für das Römische Reich, das gilt heute für die Europäische Union.

2) Als zweites unterscheidendes Merkmal Europas kann die tiefe kulturelle Prägung durch das Christentum gelten. Alle europäischen Völker sind zwischen dem 4. und dem 11./12. Jahrhundert kollektiv zum Christentum übergetreten. Mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein haben alle europäischen Völker sich als christliche Nationen definiert. Die vorherigen paganen Religionen sind vollständig unterdrückt worden. Judentum und Islam hingegen galten durchweg als Randerscheinungen, die nicht zum Kernbestand Europas gehörten, sondern eher dessen Außengrenzen bestimmten. Judentum und Islam wurden teils verfolgt und unterdrückt, teils als Ausnahmen geduldet, teils vollständig assimiliert. Abwehr des islamischen Unterwerfungsverlangens bestimmte jahrhundertelang Europas Außengrenzen.

3) Als drittes Merkmal für Europa kann die Prägung durch das römische Recht gelten. In allen europäischen Staaten hat sich das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt, ausgehend vom kodifizierten Recht des Römischen Reiches. Die Macht setzt das Recht. Umgekehrt wird Macht durch „gesetztes“, also durch „positives“ Recht kontrolliert.  Macht übt Herrschaft aus und wird durch positives Recht gesichert. Gesetztes Recht wird durch Macht gesichert.

Ein Gegenmodell zur staatlich gesicherten Herrschaft des römisch geprägten Rechts ist zweifellos die Ausübung des Rechts durch geistliche Herrschaft, idealtypisch zu finden in der Scharia. Die islamischen oder sich aktuell  islamisierenden Staaten wenden sich gerade in diesen Monaten erneut der Scharia, nicht dem römischen Recht, als der Grundlage des neu zu definierenden Rechtsrahmens zu. Bezeichnend dafür die Aussage des libyschen Übergangsrates: „Libyen soll ein gemäßigt islamischer Staat werden, in dem die Scharia die Grundlage des Rechts wird.“

Drei Städtenamen stehen für die beschriebene, dreifach ineinander verwobene Prägung Europas:

Athen steht für Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger, aus dem letztlich auch der Gedanke des Nationalsstaates hervergegangen ist.

Jerusalem steht für den scharfen Geltungsanspruch der drei monotheistischen, orientalisch-abramitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, von denen das Christentum sich in Europa durchsetzen konnte.

Rom steht für Recht. Durch Rom wird staatliches Leben zur Spielfläche unterschiedlichster, häufig widerstreitender Ansprüche und Gegenansprüche. Kein europäischer Staat verzichtet auf diesen langfristig angelegten Rahmen der Auseinandersetzung, in dem Absolutheitsansprüche sowohl der Religionen wie auch Machtansprüche der wirtschaftlich Mächtigen ihre Einhegung finden.

Mangelnde Einhaltung von Rechtsnormen auf staatlicher Seite, also Korruption, führt zu Misswirtschaft, Klientelismus und Staatsbetrug: Betrug des Staates an den Bürgern, Betrug der Bürger am Staate.

Hochverschuldete Staaten führen, wie man in diesen Tagen auf niederschmetternde Weise in Griechenland sehen muss, nahezu zwangsläufig zur Entmündigung der Bürger. Sie führen zur Lähmung der Politik.

Athen, Jerusalem, Rom. Die alleinige Konzentration auf die Finanzverfassung wird keinen Ausweg aus der Krise des Europa-Gedankens weisen können.

Athen, Jerusalem, Rom.

Nur in Rückbesinnung auf das Erbe dieser drei symbolisch hochbeladenen Städte wird Europa, wird die Europäische Union sich als kulturell und politisch ernstzunehmende Größe behaupten können.

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Europa nach vorne denken – einschließend, nicht ausschließend!

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Apr 212010
 

Einer der wenigen Denkenden, die Europa wirklich von der Wurzel her begreifen, ist Jacques Attali.  Der aktuelle italienische Focus bringt auf den S. 137-140 ein bemerkenswertes Interview.

Focus intervista Attali sull’Europa – Focus.it – Video e Filmati

Europa, wie wir es heute verstehen, entsteht zunächst nicht durch das Christentum, sondern  durch die Hochzeit zwischen dem antiken Griechenland und dem alten Israel.  Aus dieser Begegnung sind viele andere Entwicklungen hervorgegangen, unter anderem das Christentum und der Islam. Attali sagt: „Zu glauben, dass Europa durch das Christentum definiert sei, ist ein Irrtum. Die wahren Väter Europas sind das antike Griechenland und das Judentum, aus deren Wechselwirkung vieles geboren worden ist, darunter das Christentum und der Islam.“

Dieser Auffassung schließe ich mich an. Wer Homer, Aischylos, Herodot, Platon nicht kennt, wird sich nicht kundig zur Frage äußern können: Was macht Europa aus? Warum gehört Rumänien in die EU? Wer Levitikus und die anderen, die 5 Bücher Mosis, wer die Propheten der hebräischen Bibel wie Jeremias oder Jesaias für Humbug erklärt oder nichts dazu sagen will, wird zu Karl Marx und Atatürk, aber auch zum Mieterschutz für ehemalige Kreuzberger Sozialmieter im Fanny-Hensel-Kiez verstummen.

Attalis Meinung hat erhebliche Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Islam insgesamt, mit der Türkei insbesondere. „Der europäische Traum wird sich nur durch die Modernisierung des Islam verwirklichen lassen, der seinerseits nur dann überleben wird, wenn er die Botschaft der Moderne, die aus Europa stammt, aufzunehmen vermag.“

Das sind kühne, mutige Sätze. Attali denkt an die Zukunft. Er wünscht sich ein einiges, starkes Europa, ein Europa, das sich als „Nation“ begreift. Nur als Nation Europa wird Europa gegenüber den alten und neuen Ländern USA, Russland, China und Indien bestehen können. Damit greift Attali 50 Jahre in die Zukunft hinein. Er überspringt das Klein-Klein des EU-Alltags. Er überwölbt die Wirtschaftsgemeinschaft mit einigen starken, glanzvollen Tragwerken. Diese Tragwerke sind geistiger Art.

Zurück zur Türkei! Das Gebiet der heutigen Türkei ist Kernland für die Entstehung Europas gewesen. „Griechen“ und „Juden“,  „Heiden“ und „Christen“, Osten und Westen sind hier, im alten Asia minor, in Lydien, Kappadokien, Phrygien, Bithynien, Armenien zusammengetroffen. Einige Jahrhunderte später trafen die Türken ein, übernahmen, griffen auf, siedelten, trugen hinzu.

Auch der im 7. Jahrhundert n. Chr. entstehende Islam hat diese Begegnung zwischen Osten und Westen, zwischen Juden, Christen, zwischen Griechen und Heiden in seine Geburtsurkunde hineingeschrieben. Koran sagt etwa: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Sure 2,115).

Etwa 1100 Jahre später sagt Goethe:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Denkende, in tiefen Brunnen schöpfende Menschen wie Attali oder Goethe, aber auch ins Wesentliche schauende Politikerinnen wie etwa Aygül Özkan legen den Blick auf die gemeinsame Grundlagenarchitektur dessen frei, was wir das geistig-geistliche Tragwerk Europas nennen können.

Diese Tragwerk bietet Platz für alle, die sich ihm anvertrauen.

 Posted by at 10:56

Wach auf und streck dich, Europa!

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Mrz 022010
 

Europe’s Errors – TIME
I am not exaggerating when I say Europe’s obsession with restructuring its internal arrangements is akin to rearranging the deck chairs of a sinking Titanic.

Im Flieger von Berlin nach Düsseldorf las ich genüsslich die aktuelle TIME, March 8, 2010, etwa über die Vorzüge des Barfußlaufens, S. 40, oder über die Vorzüge des häuslichen Unterrichts, S. 37. Letzteres, also Schulverweigerung, führt allerdings in Deutschland zu Stigmatisierung, Geldbußen und Sorgerechtsentzug. Die Auflage von TIME: 5,8 Millionen Exemplare. Was hier steht, hat Wirkung!

Im Sinkflug befindet sich der Kontinent Europa. Insonderheit die EU. Ein Haufen von selbstverliebten zankenden Schrebergärtnern, die nichts gebacken kriegen. Dies behauptet Kishore Mahbubani auf S. 20. Lesenswerte Gardinenpredigt! Europa verfehlt seine Stärken, es ist blind gegenüber den globalen Herausforderungen. Europa steht sich selbst im Weg, weil die EU im wesentlichen allzu oft als bloße Umverteilung von Ressourcen hin- und hergerissen wird.

Ich wage nicht, Herrn Mahbubani zu widersprechen – zumal er ausdrücklich seine Sicht als „Außensicht“ ausweist.Der Kontinent Europa ist noch nicht zu sich selbst gelangt – und die EU leistet zu wenig dafür, dass dies so werde. Selbstbezüglichkeit herrscht vor.

Ein kleiner Beleg aus meiner europäischen Innensicht: Wenn deutsche Christen von „Ökumene“ sprechen, weisen sie stolz darauf hin, dass Protestanten und Katholiken einander nicht mehr die Schädel einschlagen.  Die europäische Kirchenspaltung sei deshalb praktisch (wenn auch nicht dogmatisch) überwunden.

Was ist dran? Hier wage ich – immerhin! – zu widersprechen. Ein winziger Beleg: Die Katholiken und die Protestanten in Deutschland haben es immer noch nicht geschafft, die entscheidende, die viel tiefer liegende Kirchenspaltung ins Auge zu fassen, zu benennen, geschweige denn sie zu überwinden. Ich meine das Schisma von 1054, als West- und Ostkirche sich trennten. Seither ist Europa kulturell tief gespalten, und zwar bis zum heutigen Tag. Kleinasien, also die heutige Türkei, Bulgarien, Russland, Teile von Ukraine, Griechenland – diese und andere Länder zählen seit damals zum Osten. Sie sind für uns – das andere Europa (von uns aus gesehen). Wir sind für sie – auch für die Türkei: das andere Europa (von ihnen aus gesehen).

Dass dies in den deutschen Kirchen und auch in der CDU Deutschlands nicht gesehen und gesagt wird, erstaunt mich immer wieder. Ich meine: Es muss deutlich gesagt und oft wiederholt werden. Ich habe größte Mühe, den Sachverhalt meinen russisch-orthodoxen Familienangehörigen gegenüber zu rechtfertigen. Ehrlich gesagt: ich unternehme keine Versuche dazu.

Eine christliche Ökumene, die so tut, als sei sie ohne die mittlerweile überall in Europa lebenden „östlichen“, orthodoxen Christen vollständig, greift ins Leere.

Dies ist nur einer der vielen Belege dafür, dass wir Europäer endlich in die Gänge kommen müssen – nicht nur politisch, sondern auch kulturell. Dazu gehört, dass die Politik und die Menschen sich in den gesamten Strom der europäischen Geschichte stellen und nicht einen Teil abspalten.

Europa must get its act together! Wake up, get to your feet, reach out!

 Posted by at 15:26
Nov 122009
 

Den Reden und Ansprachen zu 20 Jahren Mauerfall habe ich mit höchster Aufmerksamkeit gelauscht. Die Tonlage, oder die „Tonalität“, wie manche sagen, war doch recht unterschiedlich, je nachdem, aus welchem Land die Redner stammten. Spricht man mit einfachen Menschen aus dem Volk, wird man diese Beobachtung auf Schritt und Tritt bestätigt finden. Ein Russe hat nun einmal einen anderen Blickwinkel auf den Mauerfall als ein Franzose oder ein Pole. Für Franzosen stehen Ideale wie Liberté oder Solidarité im Vordergrund, für die Russen hingegen ist das Faktum der Aussöhnung zwischen den beiden Völkern, den Russen und den Deutschen, viel wichtiger: der Fall der Mauer ermöglicht endlich das, was die Russen seit jeher wünschen – nämlich eine lebendige, bewusst gepflegte Freundschaft der Länder Russland und Deutschland.  Für die Polen steht die Wiedergewinnung der nationalen Identität im Vordergrund, nachdem die als Fremdherrschaft empfundene Macht des Kommunismus gebrochen ist. Geblieben jedoch ist in Polen ein gewisses Misstrauen gegenüber der „hohen Politik“.

Wir verallgemeinern hier – aber es gibt nun einmal in allen Ländern Europas gewisse allgemeine Grundhaltungen, die auf die Mehrheit der Bevölkerung zutreffen. Zum Beispiel sind die Franzosen und die Polen und die Russen stolz auf ihr Land, die meisten Deutschen sind es nicht. Linke Deutsche sind gegen Atomkraftwerke, linke Israelis sind für Atomkraftwerke usw. usw. Die Deutschen sind eher für Umweltschutz, die Polen sind eher für Wirtschaftswachstum usw.usw. Solche Dinge sollte man wissen.

Wichtig ist es, diese allgemeinen Unterschiede wahrzunehmen. Nur so werden wir im Laufe der Jahrzehnte zu einem gemeinsamen europäischen Geschichtsbild kommen.

Das heutige Bild zeigt den hier bloggenden deutschen Unterschichtler im lockeren Geplauder mit zwei Russinnen: der Pianistin Natalia Christoph und der Sängerin Irina Potapenko. Den Hintergrund bilden Gemälde aus der Schule des Sozialistischen Realismus, derzeit zu sehen in der Galerie Jeschke van Vliet in Berlin-Mitte.

Es sind Bilder aus einer Zeit, über die wir weiterhin das Gespräch suchen müssen. Auf den Mauerfall folgen die Mauerabrissgespräche.

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Mai 152009
 

Allzu leicht fließt vielen Mahnern die Floskel „christlich-abendländische Werte“ über die Lippen. Dabei hätte der äußerst beachtliche Besuch des Papstes Benedikt in Israel und den palästinensischen Gebieten Anlass sein können, dem nachzusinnen, was der Papst selbst immer wieder hervorgehoben hat: dem gemeinsamen Ursprung der drei Weltreligionen aus der Wurzel des alten Israel. Das Judentum und die beiden aus ihm entsprungenen Nachfolgereligionen  Christentum und Islam sind morgenländische Religionen. Bereits am Ende des 4. Jahrhunderts dachten, glaubten und beteten die Christen im wesentlichen so, wie sie das heute noch tun. Das Christentum hat sich im Orient ausgebildet, in Palästina, in Kleinasien (also dem Gebiet der heutigen Türkei), recht bald auch in der westlichen Reichshälfte, in Rom. Von da aus trat es seinen beispiellosen Siegeszug durch Europa an, ja es hat eigentlich das Europa, wie wie wir es heute kennen, erst entstehen lassen. Den Reden des Papstes ist das Bewusstsein dieses Kulturtransfers von Ost nach West, vom Morgenland in das Abendland deutlich anzumerken. Wir sind alle Schuldner Asiens.

Das Spannendste, was ich derzeit über das Christentum lesen und hören kann, fließt aus der Feder von Muslimen. So etwa derjenigen Necla Keleks. In ihrem Buch „Die verlorenen Söhne“ (München 2007) beschreibt sie eindringlich, wie die Gestalt Jesu ihr in einer ausweglos scheinenden Situation half, die Trennung von ihrer Familie und ihrem Mann zu bewältigen. Sie schreibt auf S. 227: Jesus fordert die Menschen auf, an sich zu glauben, er ermutigt sie, keine Angst zu haben, er lehrt nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind anzunehmen.  „Glaubt an mich und an euch selbst, dann wird selbst das Unmögliche möglich.“ In den Betrachtungen Keleks wird für einen Augenblick das Befreiende, das Ungeheuerliche der christlichen Botschaft spürbar.

Aber auch Navid Kermanis in der Neuen Zürcher Zeitung erschienene Kreuzesmeditationen vor einem Bild Guido Renis bergen etwas von der Glutfülle der morgenländischen Religionen. Sie führen direkt ins Mysterium der Botschaft Jesu hinein. Sie stellen eine bewundernswerte Rede und Gegenrede dar, eine beispielhafte Versenkung in das Andersartige der anderen morgenländischen Religion. Kermani nimmt zunächst Anstoß an der Kreuzestheologie – einen Anstoß, ein Ärgernis, welches auch in den neutestamentlichen Schriften wieder und wieder behandelt wird. Die Briefe des Paulus sind eine einzige Auseinandersetzung mit dem Anstoßerregenden der Kreuzesbotschaft. Und Joseph Ratzinger fasst den Nachhall dieses Ärgernisses, wenn er schreibt: „Der Skandal des Kreuzes ist vielen unerträglicher als einst der Donner des Sinai den Israeliten“ (Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, Freiburg 2007, S. 97). Doch Kermani geht einen Schritt weiter, er verharrt nicht in der Ablehnung dieses Ärgernisses. Wir zitieren aus der FAZ:

Guido Reni führt „das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische über. Sein Jesus hat keine Wunden. Er blickt in den Himmel, die Iris aus dem Weiß des Auges beinah verschwunden: Schau her, scheint er zu rufen. Nicht nur: Schau auf mich, sondern: Schau auf die Erde, schau auf uns. Jesus leidet nicht, wie es die christliche Ideologie will, um Gott zu entlasten, Jesus klagt an: Nicht, warum hast du mich, nein, warum hast du uns verlassen?“ Vor dem Altarbild, schrieb Kermani weiter, fand er den „Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man -, ich könnte an ein Kreuz glauben.“

Navid Kermanis Meditationen über das Kreuzigungsbild Guido Renis, Necla Keleks Betrachtungen zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, aber auch das Jesus-Buch von Joseph Ratzinger halte ich für höchst beachtliche, unbedingt lesenswerte Anstrengungen, dem Kern des christlichen Mysteriums nachzuspüren. Von ihnen, von diesen drei zeitgemäßen Unzeitgemäßen, geht befreiende Kraft aus.

Doch die Welt hat es nicht erkannt! Der Hessische Kulturpreis konnte nicht an Navid Kermani überreicht werden, weil Peter Steinacker und Karl Kardinal Lehmann es ablehnten, zusammen mit Navid Kermani den Preis entgegenzunehmen. Der Jude Salomon Korn zeigte mehr Weisheit, mehr Toleranz, mehr Einsicht in die unentwirrbar vielstimmige Gestalt der morgenländischen Religionen.

Eklat um Kulturpreis: Ein deutsches Trauerspiel – Debatten – Feuilleton – FAZ.NET
Guido Reni führe „das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische über. Sein Jesus hat keine Wunden.

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SED bekam nichts mit, als der Eiserne Vorhang riss

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Mai 022009
 

20042009011.jpg Eine der besten Reden, die ich seit langem lese, entnehme ich wörtlich der Süddeutschen Zeitung von heute:

„Mit den Grenzbefestigungen haben wir drei Möglichkeiten: Die verrotteten Anlagen zu reparieren, das kostet viel Geld. Die Sperranlagen zu erneuern, das ist noch teurer. Oder das politische System zu ändern und die Grenze abzureißen.“

So sprach Oberst Halazs Novaki – und leitet damit herrlich ironisch eine weltpolitische Wende mit ein. Bravo! Hätten wir heute doch ebensoviel Mut wie die Ungarn damals vor 20 Jahren, am 2. Mai 1989! Es war 12.27 Uhr. Ort: Hegyeshalom.

Die Welt erläutert:

Geschichte: SED bekam nichts mit, als der Eiserne Vorhang riss – Nachrichten Politik – WELT ONLINE
Knapp 90 Kilometer von Hegyeshalom entfernt sitzt Oberst István Frankó in der Soproner Kaserne mit Vertretern der Sicherheitsdirektion des Burgenlandes zusammen und informiert seine österreichischen Gäste ebenfalls über den geplanten Abbau. Den Abbau des Signalzauns begründen die Offiziere mit pragmatischen Erwägungen. Der Zaun sei stark verrostet. Da Moskau aber keinen Ersatz liefern würde, habe man drei Möglichkeiten: die Anlagen selbst zu reparieren oder neue zu bauen – beides würde aber wertvolle Devisen kosten. Die dritte Möglichkeit, und nun wird es hoch politisch: Ungarn reißt die Anlagen ab und gestaltet die Grenze nach „humanen und kultivierten Gepflogenheiten“. Man habe sich dafür entschieden.

Bild: Blick von der Monumentenbrücke in Berlin auf Gleisgelände.

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Feb 122009
 

Diese Zahlen da oben, das sind Jahreszahlen. Hans Hugo Klein nennt sie in der heutigen FAZ auf Seite 10 als die entscheidenden Jahre, in denen die Spaltung Europas besiegelt wurde – die Spaltung in einen Westen und einen Osten. Denn das Schisma zwischen römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche (1054), der verheerende Feldzug („Kreuzzug“) gegen Byzanz (1204) und die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) waren Ereignisse mit Wasserscheiden-Charakter. „Nachher“ war es anders als „Vorher“ – sowohl im Bewusstsein der Zeitgenossen wie auch für uns Heutige in der Rückschau.

Seither ist Europa eigentlich doppelgesichtig – es gibt den lateinisch geprägten Westen und den griechisch, später auch teilweise islamisch geprägten Osten. Länder wie Deutschland, Polen, Kroatien oder Ungarn gehören demnach zum „Westen“, Griechenland, Bulgarien, Serbien und Rumänien hingegen zum „Osten“.

Die Behauptung Kleins ist: Europa habe kein einigendes Band, keine gemeinsame Identität, das diese Hälften oder Glieder zusammenhalte. Deshalb sei die Europäische Union vorerst noch keine Schicksalsgemeinschaft, sondern ein zweckgeleitetes Konstrukt.  Zitat:

„Um einem Europa der Bürger näher zu kommen, bedarf es, woran zu arbeiten lange versäumt wurde: der Ausbildung einer europäischen Identität, aus welcher allein die Bereitschaft zur Einordnung in einen Staatenverbund erwachsen kann.“

Das Fehlen eines Bewusstseins von der Identität Europas – das ist ein Mangel, den ich selber ebenfalls bereits festgestellt habe (dieses Blog am 14.12.2008): „Wir wissen nicht, was uns zusammenhält – oder trennt.“  Der Einwurf Hans Hugo Kleins gehört zum besten, was ich in deutschen Zeitungen zu diesem Thema lesen konnte. Lesen, aufheben!

 Posted by at 16:40