Jan 142009
 

Das folgende Interview hätte ich gerne bei meiner Ankunft am Flughafen Schönefeld gegeben:

Johannes Hampel, Sie kommen soeben von Ihrem sechsten Russland-Aufenthalt zurück. Frieren Sie noch?

Im Gegenteil, der Frost ist hier in Berlin kälter als er in Moskau war. Im übrigen hat sich das gesellschaftliche Klima in Russland in den letzten Jahren deutlich erwärmt: Ich sah noch mehr freundliche Menschen als früher, der Kontakt zu Unbekannten war sehr herzlich. Auch die früher so gestrengen Aufseherinnen in den Museen lächeln jetzt schon. Man muss nur anfangen.

Was halten Sie vom Gasstreit zwischen Ukraine und Russland?

Ich kenne die tatsächliche Lage nicht. Ich stütze mich auf das, was ich im Lande hörte, sah und las. Mein Eindruck ist, dass Russland in diesem Fall klar erkennt, dass jede Lieferverzögerung den Interessen Russlands schadet. Ich glaube nicht, dass Gazprom den Konflikt künstlich hochschaukelt.

Was sagten Ihre Gefühle zur Gegenwart Russlands?

Es ist atemberaubend: Wenn man sein Russlandbild auf die untergegangene Sowjetunion stützt, wird man das Land nicht wiedererkennen! Das Land hat einen kompletten Systemwechsel vollzogen. Der Markt hat Wohlstand gebracht, letztlich wird die Marktwirtschaft sehr viele Gewinner bringen. Daran werden auch breite Schichten der Bevölkerung Teil haben.

Was wünschen Sie sich von den Deutschen in ihrer Haltung gegenüber Russland?

Sehr viel! Wir Deutschen müssen erkennen, dass Russland aus dem Westen, insbesondere aus Deutschland, keine Belehrungen braucht.  Die Deutschen haben immer noch ein zu stark von Vorurteilen belastetes Russlandbild. Ein großer Fehler ist es, das heutige Russland mit der Sowjetunion gleichzusetzen. Das Land hat 70 Jahre unter dem Kommunismus gelitten, es hat sich jetzt entschlossen zur Marktwirtschaft bekannt und zu einer parlamentarisch-föderativen Demokratie gewandelt. Sie können den Archipel Gulag und jede Menge kritische Literatur in allen russischen Buchhandlungen kaufen. Wer hätte das vor 25 Jahren zu träumen gewagt!

Was denken die Russen über Deutschland?

Gegenüber den Deutschen hegen die Russen keinen Groll. Eher sind sie enttäuscht, dass die Deutschen nicht erkennen wollen, welch großen Anteil sie an den russischen Katastrophen hatten: Das Deutsche Reich hat 1914 Russland in einen Krieg gezogen, den es so wohl nie gesucht und gewollt hätte. Deutschland hat dann die Bolschewiki im Ersten Weltkrieg finanziell und materiell unterstützt, um Russland von innen zu schwächen. Es hat damit dem alten Russland einen doppelten blutigen Stoß versetzt und eine welthistorische Revolution mit unabsehbaren Folgen ermöglicht. Mittelbar hat Deutschland eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, dass eine kleine Truppe von Berufsrevolutionären ein ganzes Land unterjochen und über Jahrzehnte hinweg eines der fürchterlichsten Terror-Regime errichten konnte, das Millionen von Opfern in der eigenen Bevölkerung gefordert und Lebenschancen bei allen zerstört hat. Die Russen binden einem das nicht auf Schritt und Tritt auf die Nase. Aber sie wissen um diese Zusammenhänge.

Aber damit nicht genug! Im Zweiten Weltkrieg, den Deutschland entfesselt hat, wurden in Russland die meisten Toten niedergemäht. Mehr als 20 Millionen Tote sind durch deutsche Kampfhandlungen und von Deutschen verübte Massaker an der Zivilbevölkerung in Russland zu beklagen. Die Sowjetunion hat umgekehrt den größten Anteil an der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland erbracht und damit für uns Deutsche die Befreiung vom Nationalsozialismus zu entscheidenden Anteilen ermöglicht.

Es ist völlig unangemessen, wenn wir Deutschen den Russen irgendwelche Ratschläge geben wollen, wie sie ihre Vergangenheit bewältigen sollen.

Bietet denn die europäisch-russische Vergangenheit nur dunkle Schatten und Schrecken?

Keineswegs! Ich meine: Wir müssen zunehmend auf die Zeit vor 1917 zurücksehen. Auf die große gemeinsame europäische Kultur. Friedrich Schiller war einer der Leitsterne für Puschkins Freiheitskampf, Adam Mickiewicz war ein geistiger Bündnisgenosse Puschkins. Polen, Russen und Deutsche fanden zusammen im Medium des Wortes, der Malerei, der Musik. Überall in Europa standen damals die Zeichen auf mehr Freiheit, mehr Demokratie, mehr Bürgerrechte.  Dass es nicht so gekommen ist, lag vor allem an den herrschenden Eliten, die nichts mehr schützten als ihre eigenen Privilegien. Das gilt in Deutschland wie in Russland, für das Kaiserreich und für das Zarenreich.

Ihr Wort zur Außenpolitik?

Außenpolitik sollte interessegeleiteter Umgang von Staaten miteinander sein. Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Rationalität sind unabdingbar. Schuldzuweisungen, moralische Überheblichkeit, emotionsgeladene Vorurteile, wie sie gerade jetzt wieder aufblühen, halte ich hingegen für schädlich. Noch schädlicher wäre es, den Zusammenhalt der noch jungen russischen Demokratie durch Kritik an inneren russischen Zuständen schwächen zu wollen. Kritik, die sich häufig nur auf Urteile aus zweiter Hand stützt.

Worin sehen Sie Gefahren? 

Gegenwärtig droht die Gefahr, dass Russland sich von allen anderen Ländern unverstanden und abgelehnt fühlt. Ich stelle öfters eine gewisse Trotzreaktion fest, als dächten die Russen: „Ihr wollt nicht mit uns reden? Nun denn – La Russia farà da sé – Russland wird allein seinen Weg finden.“ Dieses hielte ich für keine gute Aussicht. Und wir müssen uns vorschneller Urteile enthalten. Erfahrungen mit den Menschen im Hier und Jetzt sind das A und O.

Wie schaffen wir eine gute gemeinsame Zukunft?

Ich meine: Wir sollten die russische Demokratie fördern, indem wir uns das Land ansehen, häufig dorthin reisen, mit den Leuten reden und den Kontakt zur russischen Gemeinde in Deutschland suchen. Vertragliche Beziehungen in der Wirtschaft sind eine wichtige Stütze. Daneben kommt den russisch-deutschen Familien eine große Verantwortung zu. Notfalls, wenn es mit der Sprache nicht klappt  – mit Händen und Füßen gestikulieren, mit einem Lachen, mit Musik und einem Glas Tee und jeder Menge zakuski – Leckereien.

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Jan 062009
 

25122008004.jpg Was hält uns in Europa zusammen? So fragten wir in diesem Blog im vergangenen Jahr. Unsere vorläufige Antwort: Es ist nicht klar. Wir wissen es nicht so recht. Und wenn wir es wüssten, müsste es laut und deutlich gesagt werden.

Was hält politische Gemeinschaften zusammen? So fragte Aristoteles. Seine Antwort: „Freundschaft“, das Gefühl einer Zugehörigkeit zueinander. Innerhalb einer Stadtgemeinde dürfe es keine Feindschaften, aber auch keine Gleichgültigkeit  geben, sonst bräche der Zusammenhalt auseinander.

Was hält unsere deutsche Gesellschaft zusammen? So fragen heute die beiden Bürger Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble in der FAZ auf S. 8. Ich nenne sie Bürger … Moment mal, sind das nicht zwei Politiker, Minister gar? Stimmt, ihr habt recht. Aber die beiden Verfasser schließen ihren Artikel höchst wirkungsvoll mit folgender Schlussformel ab: „… wir alle als Bürgerinnen und Bürger.“ Alle sind wir Bürgerinnen und Bürger, das ist doch ganz meine Rede. Einige dieser Bürger sind daneben auch Politiker, aber Politiker und Bürger sollten sich einig sein in einem gemeinsamen Ethos. So verstehe ich zumindest die beiden Autoren.

Den ganzen Artikel durchzieht die Forderung nach einem gestärkten Miteinander. Nur dann, wenn jede und jeder das Gefühl hat, dazuzugehören und gebraucht zu werden, kann sich eine Gesellschaft auf Dauer den wichtigen Einzelfragen zuwenden. Vereine, Bürgerinitiativen, Mehrgenerationenhäuser – das alles und vieles mehr sind hochwillkommene Beispiele solch tätiger Gemeinschaft, die den Staat trägt. Der Staat kann diesen Wurzelgrund nicht ersetzen, aber er kann ihn fördern.

Wir warfen gestern einen Blick auf das untergegangene Zarenreich. Politiker wie Stolypin kämpften unentwegt für die gemeinsame Sache. Umsonst, es war wohl schon zu spät. Die gesellschaftlich führenden Gruppen und die meisten Politiker, nicht zuletzt auch Zar Nikolaus II. höchstselbst, waren offenbar nicht bereit, eigene Besitzstände aufzugeben. Der Petersburger Blutsonntag von 1905 und viele andere Abwehrreflexe setzten Fanale der Unterdrückung gegen die berechtigten Forderungen der benachteiligten Bauern und Arbeiter.

Wie schreibt doch Vera Lengsfeld in ihrem Buch Neustart auf S. 103? „Und wenn Politiker in der Öffentlichkeit gegen jede mögliche Veränderung vor allem besitzstandswahrende Abwehrreflexe kultivieren, wirken sie lähmend auf die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft.“

Ich meine: Wir brauchen Veränderung, wir brauchen dafür mehr innere Bindung an ein freiheitliches Miteinander. Ich glaube darüber hinaus: Die größten Risiken liegen nicht in der Staatsverschuldung, nicht in der Arbeitslosigkeit, nicht in der Finanzkrise. Die größten Risiken für unsere Republik und auch für die EU liegen darin, dass diese innere Bindung verloren gehen könnte.

Den höchst lesenswerten Artikel aus der heutigen FAZ werde ich mir aufheben. Man könnte ihn auch in einen Artikel für die führenden Boulevardblätter Deutschlands umschreiben, mit kurzen knackigen Sätzen und auf 200 Wörter verkürzt. Die Botschaft würde gut ankommen. Ich wünsche es ihr.

Unser Foto zeigt heute einen Blick in die Neue Oper in Moskau. Dort sahen und hörten wir am 25. Dezember eine Aufführung von Tschaikowskijs Nussknacker. Nach der Erzählung Nussknacker und Mäusekönig von E.T.A. Hoffmann. Auch solche deutsch-russischen kulturellen Gemeinschaftsleistungen halten uns in Europa zusammen.

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Okt 272008
 

Immer wieder wird gesagt: Die Teilung Europas kam 1989 zu einem Ende. Was wir jetzt versuchten, sei das Zusammenkitten von etwas, was durch die kommunistischen Revolutionen ab 1917 gespalten worden sei. Dem mag so sein. Und doch ist die europäische Geschichte durch zwei viel tiefer gehende Spaltungen geprägt: die doppelte Spaltung in Ost und West um die Jahrtausendwende, als sich der lateinisch geprägte Westen vom griechischen Osten löste – und die erbitterten Spaltungen und Risse, die etwa 500 Jahre später im Zeitalter der Reformationen aufbrachen. Immer ging es dabei auch um Worte, um Überzeugungen, um Ideen, die die Menschen antrieben und auseinandertrieben. Hierzu schreibt Diarmaid MacCulloch in seinem vielgerühmten Buch The Reformation. Europe’s House Divided:

Reformation disputes were passionate about words because words were myriad refractions of a God whose names included Word: a God encountered in a library of books, itself simply called the Book – the Bible. It is impossible to understand modern Europe without understanding these sixteenth-century upheavals in Latin Christianity. They represented the greatest fault line to appear in Christian culture since the Latin and Greek halves of the Roman Empire went their separate ways a thousand years before; they produced a house divided. The fault line is the business of this book. It is not a study of the whole of Europe as a whole: It largely neglects Orthodox Europe, the half or more of the continent that stretches from Greece, Serbia, Romania, and Ukraine through the lands of Russia as far east as the Urals. I will not deal with these except when the Orthodox story touches on or is intertwined with that of the Latin West. There is a simple reason for this: So far, the Orthodox churches have not experienced a Reformation. Back in the eighth and ninth centuries many of them were convulsed by an „iconoclastic controversy,“ which hinged on one of the great issues to reappear in the sixteenth-century Reformation. But in the case of the Orthodox, the status quo was restored and not partially overthrown as it was in the West. We will return to this issue of images frequently in the course of this book.

Who or what is a Catholic? : The Reformation

Unabsehbar sind die Folgen dieses Umbruchs auch in der heutigen Zeit. So entnehme ich der deutschen Übersetzung des Buches eine Vorformulierung unseres heutigen Verständnisses von Gemeinwesen: Erasmus von Rotterdam schreibt im Vorwort zu seiner Enchiridion-Ausgabe von 1518, dass in der idealen Gesellschaft jedermann aktiver Bürger der civitas sein solle – dass also die Zuerkennung von Bürgerlichkeit keineswegs an bestimmte weltliche Voraussetzungen wie etwa Besitz oder festen Wohnsitz gebunden sei. Jeder ist Bürger in einem guten Gemeinwesen, auch der Punk, auch der Penner, auch der Assi! Das meinte Erasmus. Das ist doch genau der Gedanke, den ich in diesem Blog oft und oft verfochten habe: Ein gutes Gemeinwesen zeichnet sich dadurch aus, dass jede und jeder sich in der Verantwortung weiß. O ihr Bürgerlichen mit euren gepflegten Vorgärten in Zehlendorf und Pankow, habt ihr die Botschaft des Erasmus vernommen?

Wenn nicht, dann lest in folgendem Buche nach:

Diarmaid MacCULLOCH: Die Reformation. 1490 – 1700. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 2008, hier: S. 152

Unser Foto zeigt die Veranstaltung: Doppelgedächtnis. Debatten für Europa. Mit Stéphane Courtois und Vaira Vike-Freiberga. Vom vergangenen Mittwoch. Veranstaltet von der Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa. Ihr seht: Das Thema der Spaltung des europäischen Hauses wird uns hier noch weiter beschäftigen! Ein Bericht über die Veranstaltung folgt!

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Ost-West-Deutungsmuster in der Weltgeschichte durchschauen – Wiederholungen vermeiden

 Antike, Europas Lungenflügel, Freiheit, Gedächtniskultur, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Ost-West-Deutungsmuster in der Weltgeschichte durchschauen – Wiederholungen vermeiden
Mrz 252008
 

Erneut stoße ich auf einige Aussagen zum Gegensatz zwischen dem alten Perserreich und dem „Rest der Welt“, aus europäischer Sicht also den griechischen Stadtstaaten. Gebräuchlich seit etwa 2.500 Jahren und bis in die neueste Zeit hinein weiterverwendet ist die Entgegensetzung: dort „orientalisches Großreich mit despotischer Willkürherrschaft“, hier „europäisch-westliches freies Gemeinwesen mit starker Bürgerbeteiligung“. Perikles, Aischylos, Herodot, das Buch Ester der Bibel – sie gehören zu den frühen Belegen für diese schroffe Behauptung eines unversöhnlichen West-Ost-Gegensatzes; die neueren Begründungen für Aktionen gegen die jeweiligen Machthaber im Mittleren Osten reihen sich nahtlos in diese Deutungskette ein. Dies gilt übrigens auch für die Protestaktionen gegen das „blutige Schah-Regime“, deren amtliche Niederprügelung ja am 2. Juni 1967 einer der Auslöser der Studentenbewegung wurden, aber es gilt auch für die jüngsten militärischen Unternehmungen gegen die Nachfolgerstaaten des antiken Persien, also insbesondere die heutigen Staaten Iran, Irak und Afghanistan. Aber auch gegenüber der heutigen Türkei werden immer wieder ähnliche Vorbehalte geäußert, die letztlich in einer Linie mit der Ablehnung der orientalischen Staatsformen überhaupt liegen. Der britische Historiker Anthony Pagden hat in seinem neuen Buch „Worlds at War: The 2,500-Year Struggle Between East and West“ ganz offenbar noch einmal dieses Deutungsmuster als Konstante der europäisch-asiatischen Geschichte aufgearbeitet und im wesentlichen als zutreffend verteidigt, jedenfalls laut Rezension im Economist, (March 22nd-28 2008, p.87-88):

„It is hardly a coincidence, he [i.e., Pagden] suggests, that ancient Athens found itself doing battle with the Persian tyranny of Xerxes, while the modern Western world faces a stand-off with the mullahs‘ Iran. In his view of history, these are simply related chapters in a single narrative: the contest between liberal and enlightened societies whose locus is Europe (or at least European culture) and different forms of Oriental theocracy and authoritarianism.

Even where the enlightened West did bad things, these were aberrations from a broadly virtuous trajectory; where the tyrannical east (from Darius to Osama bin Laden) committed sins, they were no better than anybody could expect—that is what Mr Pagden implies. He broadly accepts the argument of the al-Qaeda propagandists that today’s global jihad is a continuation of the civilisational stand-off which began in the early Middle Ages and which is doomed to rage on.“

Helfen solche Vereinfachungen, die immer noch das politische Handeln und das Selbstbild des Westens leiten, weiter? Eine Schwierigkeit liegt darin begründet, dass unser Geschichtsbild der orientalischen Großreiche fast ausnahmslos aus der Außensicht „vom Westen her“ gespeist ist. Wir besitzen schlechterdings keine ausgearbeitete Geschichtsschreibung aus dem Inneren des Perserreiches, ebensowenig wie aus dem alten Ägypten. Was nun das antike Persien angeht, das sich ja im 6. Jahrhundert v.d.Z. von der Donau bis an den Indus erstreckte, also das erste, von den Zeitgenossen viel bestaunte Weltreich überhaupt darstellte, so tut man ihm offensichtlich unrecht, wenn man es einzig und allein als despotische, ungeregelte Willkürherrschaft bezeichnet. Im Gegenteil: Unter Dareios (550-486 v.Chr.) wurde eine effiziente Verwaltung aufgebaut. Der Altertumswissenschaftler Philipp Meier schreibt:

„Galt Kyros als der Begründer, so war Dareios der Ordner des Reiches. Er hat das Riesenreich bis auf den letzten Weiler hin durchorganisiert. Das Ergebnis war eine Verwaltung, die selbst nach heutigen Maßstäben als vorbildlich gelten darf. Dareios war der fähigste Organisator der alten Welt. Von diesem Erbe zehrt der Iran noch heute.“

Weit schwerer als der Vorwurf mangelnder Organisation wiegt jedoch der ständige Vorwurf mangelnder Freiheit, den wir im Westen landauf landab hören und wiederholen. Die östlichen Großreiche – ob nun das antike Perserreich oder das spätere Osmanische Reich – werden aus dem Westen meist stereotyp als Bastionen der Unfreiheit, der gesetzlosen Willkür gesehen, in denen der Einzelne und die einzelne Volksgruppe nichts, der Wille des Mannes an der Spitze alles gelte. Doch auch hier sind erhebliche Korrekturen angebracht! Ich zitiere noch einmal Philipp Meier, der die bis heute allseits umjubelten Siege der Griechen über die Perser bei Salamis und Plataiai in den Jahren 480-479 v. Chr. wie folgt kommentiert:

„Ob das allerdings für die Griechen ein Glück war, mag bezweifelt werden. Denn während die Perser eine relativ liberale Herrschaft über ihre Provinzen ausübten, versuchte Athen, die übrigen hellenischen Territorien in beträchtlich radikalere Abhängigkeit zu zwingen, die binnen 100 Jahren zum totalen Bedeutungsverlust der Stadt führten. ‚Es steht fest, dass die Staatsgewalt der griechischen Stadtstaaten über ihre Bürger in gewisser Hinsicht die des [persischen] Großkönigs über seine Untertanen überstieg. So hatten beispielsweise die den persischen Monarchen unterworfenen ionischen Städte keine andere Verpflichtung, als einen mäßigen Tribut zu zahlen, der ihnen überdies häufig erlassen wurde, während sie sich im übrigen selbst regierten.‘ (Jouveuel, S. 172) Athen dagegen versuchte, die angestrebte, aber nie verwirklichte hellenische Einheit durch eine Tyrannis durchzusetzen, die die Wehrfähigkeit der Städte derart herabsetzte, dass sie Alexander von Makedonien mit nur wenig Gegenwehr in die Hände fielen.“

(zitiert aus: Philipp Meier: Das Perserreich. In: Aischylos. Die Perser. In neuer Übersetzung mit begleitenden Essays. Regensburg: Selbstverlag des Studententheaters 2005, S. 73-86, hier S. 78 und S. 86)

Was lernen wir daraus? Ich meine dreierlei: Zunächst, die festgeprägten Urteile des Westens über den angeblich so barbarischen, unfreien Osten haben sich seit 2500 Jahren als außerordentlich hartnäckig erwiesen. Sie entbehren zweitens jedoch oft einer sachlichen Begründung und lassen sich dann durch historische Forschung widerlegen oder zumindest einschränken. Als handlungsleitende Impulse für die Beziehungen zwischen den heute bestehenden Staaten sind sie schließlich nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Sie führen wie schon in der Vergangenheit so auch heute oft in die Irre. Das zeigt sich in dem weitgehend konzeptionslos anmutenden politischen Handeln der westlichen Staaten in den heutigen Staaten des Mittleren Ostens.

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Doppelgedächtnis: Debatten für Europa

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Feb 062008
 

Mich erreicht eine Einladung, auf die ich mich schon gefreut hatte: Die Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa, deren aktives Mitglied ich bin, beginnt die Vortragsreihe “Doppelgedächtnis”. Der Titel scheint ja auf das Wort “Double mémoire” von Jorge Semprun anzuspielen. Ich bin schon gespannt und freue mich auf die Eröffnung mit dem tschechischen Außenminister.

Doppelgedächtnis: Debatten für Europa

Karel Schwarzenberg und Karl Schlögel

am 22. Februar 2008 um 19:00 Uhr

Eröffnungsworte: Zsuzsa Breier

Gesprächsleitung: Peter Frey

im Automobil Forum, Unter den Linden 21, Berlin (Mitte)

Eintritt frei, Anmeldung erforderlich unter anmeldung@kultur-in-europa.de

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