Wer ist schuld? Die Eltern? Die Jugendlichen? Die Schule?

 Sündenböcke, Tugend, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Wer ist schuld? Die Eltern? Die Jugendlichen? Die Schule?
Apr 082010
 

BILD verwendet noch gute alte Wörter wie z.B. dumm und faul. Solche Wörter darf man ja heute nicht mehr in den Mund nehmen als Fachmann. Wir sind allenfalls „unmotiviert“, „überfordert“, „benachteiligt“, „verwöhnt“  oder – und das ist das Beste: „arm“.

Ich glaube dennoch, dass man heute von einer alimentierten, geförderten Dummheit und Faulheit sprechen kann und darf. Höflicher ausgedrückt: Bequemlichkeit und Aufgabenscheu.

Dennoch interessante Umfrage auf BILD: Wer ist schuld daran, dass Jugendliche so dumm und faul sind?

Nachhilfe-Offensive: Azubis zu dumm für die Ausbildung – Wirtschaft – Bild.de

 Posted by at 15:43
Jan 312010
 

Die deutsche Gesellschaft zerfällt zusehends. Diesen Befund habe ich wieder und wieder in diesem Blog festgestellt, und in meinem persönlichen Leben mache ich immer wieder die bestürzende Entdeckung, dass die verschiedenen Umfelder, in denen ich mich bewege, keinen Kontakt zueinander haben. Das gilt vor allem für Kreuzberg. Die Deutschen, die Russen, die Türken, die Araber, die Linken, die Bürgerlichen  – diese Volksgruppen existieren unverbunden nebeneinander her. Es gibt fast keinen gemeinsamen Nenner, hat ihn nie gegeben. Nur in Familien wie etwa der meinen vermischen sie sich. Derselbe Befund gilt in den politischen Parteien: die Grünen, die am ehesten noch den Anspruch erheben könnten, hier eine Volkspartei zu sein, sorgen für ihre Klientel, die SPD ebenso, die Linke ebenso. Jeder sorgt für sich und seine Schäfchen.

Die Kreuzberger und die Berliner Gesellschaft ist hochgradig zersplittert. Kaum jemand sieht dies.

Ein hochinteressanter Bericht über Befindlichkeitsstudien des Sozialwissenschaftlers Heitmeyer leuchtet soeben auf meinem Bildschirm auf:

Wissenschaftler schlagen Systemalarm
„Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben“, warnt Heitmeyer. Die Konsequenz: Sie suchen nach Sündenböcken. Je größer das Empfinden ist, in Zeiten sinkender Normalarbeitsverhältnisse und sprunghaft wachsender „Mal-rein/mal-raus-Arbeitslosigkeit“ zum Opfer der Verhältnisse zu werden, desto stärker scheint auch die Bereitschaft zu einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zu sein, die sich gegen „die Banker“ oder „Amerika“, aber auch generell gegen Ausländer oder Muslime richten kann. Ein Drittel der Befragten gab an, in Krisenzeiten könnten nicht länger die gleichen Rechte für alle Bürger gelten, gut 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten.

Liest man diesen Zeitungsartikel genau, so hat erhält man geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Sozialwissenschaften durch geschickte Art der Fragestellungen und subtil gesteuerte Deutung das gewünschte Ergebnis erzielen können. Ein Beispiel dafür? Hier kommt es:

„Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben“, warnt Heitmeyer.

Das wird man allerdings aus der Studie nie und nimmer folgern können! Denn die Studie kann gar nicht zu Aussagen über die tatsächlichen Verhältnisse gelangen. Keine Meinungsumfrage kann tatsächliche Verhältnisse abbilden. Sie kann nur Meinungen über die tatsächlichen Verhältnisse abbilden.

Eher gilt: Die Menschen haben das Gefühl, sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.Und dieses Gefühl ist – wie jedes Gefühl – weder widerlegbar noch rechtfertigbar. Es ist eben – ein Gefühl.

Letztlich dienen solche Studien dazu, politische Paradigmen zu stützen. Die Menschen werden im Gefühl bestärkt, sich als Opfer zu sehen. Daraus folgert dann die herrschende Umverteilungspolitik die Berechtigung, noch mehr Geld für eigene Zwecke zu vereinnahmen, um den zuvor bewusst geschürten erzeugten Anschein der Ungerechtigkeit zu lindern.

Den Menschen wird eingeredet, nichts an ihrem Schicksal ändern zu können und weitere Wohltaten für sich in Anspruch nehmen zu müssen. Ein verhängnisvoller Zirkel ist in Gang gesetzt: „Ihr seid Opfer!„, sagen die Sozialwissenschaftler und die Politik. „Wir kümmern uns um euch!“ greifen die Politiker den Ball auf. Siehe Opel-Affäre. Da der Opferstatus durch die ausgeteilten Geschenke  nie und nimmer zu beseitigen ist, werden immer neue Ausgleichmaßnahmen, Geld-Umverteilungsmaßnahmen benötigt. So wird zuletzt der Staatshaushalt gesprengt.

Perfektes Beispiel: das frühere West-Berlin und das heutige Berlin.  Schuldenstand heute: 60 Mrd Euro. Erzielt durch eine stillschweigende große Koalition der Umverteiler einschließlich der alten Berliner CDU. Bedarf an Sozialhilfe und kompensatorischer Sozialpolitik: stetig wachsend. Bewusstsein dafür, dass man Opfer ist: ständig wachsend. Zahl der Opfergruppen: stetig wachsend. Zahl derer, die sich nicht als Opfer fühlen: stark fallend.

Ich werde bald meine eigene Opfer-Minderheit aufmachen könne. Wie wäre es zum Beispiel mit: „Schweinefleischverzehrer“? Da wir in der muslimischen Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft scheel angesehen werden, weil wir Schweinefleisch verzehren, haben wir doch Anspruch darauf, als Opfer der Verhältnisse anerkannt zu werden? Ich könnte aufschreien: „Mein nichtmuslimischer Sohn ist benachteiligt! Er ist eine ausgegrenzte Minderheit. Helft uns! Wir brauchen eine aktive Schutzpolitik für die Minderheit der schweinefleischessenden Kreuzberger Kinder. Geld her, Sozialhilfe her!“

Die Absurdität der ständig neue Minderheiten, neue Benachteiligtengruppen erfindenden kompensatorischen Sozialpolitik wird an diesem Beispiel deutlich, so hoffe ich.

Was wir vielmehr brauchen, ist ein Bewusstsein der Freiheit. „Es ist dein Leben! Mach daraus, was du willst.“

So sagte es der Imam, der Vater des deutschen Moslems Hamed Abdel-Samad. Der ägyptische Imam hat recht! Hört auf den ägyptischen Imam!

Zitat: Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland. Köln 2009, S. 165

 Posted by at 16:37

Wer war Antonescu? Wer war Horthy?

 Revisionismus, Sündenböcke, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für Wer war Antonescu? Wer war Horthy?
Nov 172009
 

Kaum ein Deutscher wird mit dem Namen Antonescu etwas anfangen können, den Herta Müller auf S. 299 ihrer „Atemschaukel“ nennt. Es war der faschistische Diktator Rumäniens, der den Vorläufer zu linksgerichteten Diktatoren wie etwa Ceausescu abgab. Man könnte sagen: „Alles vorbei, ziehen wir endlich einen Schluss-Strich! Fangen wir doch ganz von vorne an!“

Und doch sollten, ja müssen wir uns mit der Vergangenheit der faschistischen und der kommunistischen Diktaturen der neuen EU-Staaten befassen. In Ungarn, aber auch in den östlichen Bundesländern Deutschlands hat sich eine weit verzweigte totalitäre, rechtsradikale Ideologie gehalten. Während des Kommunismus war sie geächtet, wurde kriminalisiert. Da der Sozialismus  nach und nach jeden Kredit verspielt hatte, wurde es unter Jugendlichen schick, rechtsradikal und nationalistisch zu sein.

Der Sozialismus ging aber listigerweise in den Staaten des Ostblocks ein Bündnis mit dem nationalen Gedanken ein. Alles, was die Erinnerung an eigene Verstrickungen hätte aufrühren können, wurde totgeschwiegen. Die eigene Nation – ob nun Slowakei, Ungarn oder Rumänien – gewann unter dem Sozialismus die Unschuld zurück, indem man die dunklen Flecken verschwieg.

Die Welt, ja selbst die meisten Deutschen glauben bis zum heutigen Tage, nur die Deutschen hätten eine rassistische Vernichtungspolitik gegenüber dem Judentum betrieben. Die Shoah wird ausschließlich auf das Konto der Deutschen geschrieben. Die Deutschen akzeptieren dies willig und wissentlich – aus Unwissenheit. Und doch gab es in den Staaten Ungarn und Rumänien, im besetzten Teil Frankreichs, ja sogar im nicht besetzten Teil Frankreichs, in der Sowjetunion, in der gesamten arabischen Welt in den vierziger Jahren eine aktive, eine keinesfalls erzwungene, sondern aktiv betriebene Verfolgungs- und Entrechtungspolitik gegenüber den Juden und anderen ausgegrenzten Minderheiten, etwa den nationalen Minderheiten innerhalb der eigenen Staatsgrenzen. Diese mündete dann in vielen besetzten und nicht besetzten Ländern in eine aktive Zuarbeit, eine wissentliche Unterstützung der verbrecherischen Ausrottungspolitik der deutschen Nationalsozialisten. Kaum ein Land hat diese Vergangenheit bisher offen zu bewältigen gewagt. Es ist viel einfacher, viel bequemer, die alleinige Schuld an der Katastrophe des Holocaust den Deutschen und nur den Deutschen, am besten nur den Westdeutschen anzulasten!

Dem war nicht so. Darüber gilt es zu reden, sonst kommen die Gespenster der Vergangenheit wieder zurück.

Der ungarische Historiker Paul Lendvai schreibt heute in der Morgenpost:

Antisemitismus – In Ungarn müssen sich Juden wieder fürchten – Kultur – Berliner Morgenpost
In einem bemerkenswerten Aufsatz betont der bedeutende ungarische Schriftsteller Ivan Sandor die Gefahr der verspäteten Distanzierung der Rechten von den Rechtsradikalen: Statt der „verschönten Scheinvergangenheit“ müsse man deutlich aussprechen, dass vom Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und nach dem schrecklichen Zwischenspiel der kurzweiligen „Räterepublik“ 1919 mit rotem und anschließendem weißem Terror alle rechtsgerichteten ungarischen Regierungen den Weg zum verhängnisvollen Bündnis mit Hitler-Deutschland und damit auch zum ungarischen Holocaust geebnet haben.
Tragödie des Judentums ist Tragödie des Ungartums

Der ungarische Historiker György Ranki hat darauf hingewiesen, dass sich die Juden nirgendwo in Osteuropa mehr mit einer Nation identifiziert haben wie in Ungarn. Deshalb war die Tragödie des Judentums auch eine Tragödie des Ungartums.

Drei Judengesetze1938-1941 zerstörten die Existenz von Hunderttausenden Menschen, und nach dem Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 lief die „Endlösung“ auf Hochtouren. Unter Aufsicht Adolf Eichmanns und seiner Schergen hat die ungarische Polizei in knapp sieben Wochen 437.402 Juden in 147 Zügen nach Auschwitz deportiert. Insgesamt 564.000 ungarische Juden wurden, zum Teil auf den Straßen von Budapest, umgebracht. Heute leben schätzungsweise nur noch 80.000 bis 100.000 Juden in Ungarn, überwiegend in Budapest.

 Posted by at 13:02
Okt 102009
 

„Höher als jede Wand wächst das Misstrauen.“ Mit diesen einfachen, wie ein Birkenbäumchen gerade gewachsenen Worten beschreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemwende die klirrende Luft in einem Lager für die Deportierten. Die Worte fallen mir ein, als ich heute in der Süddeutschen Zeitung auf S. 10 lese, der tschechische Präsident Klaus wolle die Unterschrift unter den EU-Reformvertrag verweigern, wenn der rechtliche Fortbestand der Benesch-Dekrete nicht ausdrücklich bekräftigt werde.

 EU-Reformvertrag – Prager Sonderwünsche – Politik – sueddeutsche.de
Einem Bericht der polnischen Zeitung Rzeczpospolita zufolge will Klaus Garantien gegen mögliche deutsche Eigentumsansprüche im ehemaligen Sudetenland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war auf Grundlage der sogenannten Benes-Dekrete die deutschsprachige Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei ohne Entschädigung vertrieben und enteignet worden. Tschechien hält bis heute an den umstrittenen Benes-Dekreten fest und lehnt die Rückgabe von Eigentum ab.

Welches Urteil fällt Daniel Jonah Goldhagen über die Vertreibung der Deutschen und Ungarn aus Polen und der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg? Es lohnt sich, seine Stellungnahme genau zu lesen! Sie findet sich auf den Seiten 222-223 seines Buches über Völkermord.  Er bezeichnet die Deportationen der Deutschen ausdrücklich als „verbrecherische eliminatorische Akte“, die auch durch das subjektive Gefühl, es sei hier Vergeltung geübt worden, nicht zu rechtfertigen  seien. „In der Hauptsache Polen aus den von ihrem Staat annektierten Teilen des deutschen Ostens und Tschechen führten eine gründliche und manchmal mörderische Vertreibung von rund zehn Millionen Deutschen durch, steckten Hunderttausende zeitweilig in Lager und brachten Zehntausende um. Der unbändige Hass auf die Volksdeutschen führte zu einem der seltenen Fälle, dass ein demokratischer Staat, die Tschechoslowakei, im eigenen Land eine umfassende tödliche Eliminierungspolitik durchführte.“

Durch die Benesch-Dekrete der Tschechoslowakei wurde in Friedenszeiten plötzlich ein Drittel der Bevölkerung des eigenen Staates aller Rechte verlustig erklärt. Ihnen wurde die Staatsangehörigkeit aberkannt, sie galten als vogelfrei, sie trugen das „N“ auf ihre Jacken genäht. Ihr gesamter Besitz fiel entschädigungslos dem Staat anheim. Die Deutschen und die Ungarn sowie auch diejenigen Juden, die als Deutsche gezählt wurden, verloren alle Eigentums- und Aufenthaltsrechte. Alle Verbrechen, die an ihnen nach dem Krieg begangen worden waren, wurden straffrei gestellt, für die zahlreichen Massaker und Morde ist kein Tscheche belangt worden.

Ich  meine: Die EU darf sich nicht darauf einlassen, derartige willkürliche, allen Grundsätzen der Menschenrechte zuwiderlaufende Dekrete anzuerkennen. Hier darf man sich nicht durch den Präsidenten Klaus unter Druck setzen lassen!

„Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.“  So schreibt Herta Müller über die gleichfalls deportierten Rumäniendeutschen.

So könnte man auch auch sagen: Der Krieg hatte Böhmen verschont, in ganz Böhmen fand während des 2. Weltkriegs keine Schlacht statt, aber nach dem Krieg waren alle Deutschen in der Tschechoslowakei an allem Bösen schuld, das die nationalsozialistischen Mörder weltweit verübt hatten. Auf diese Logik darf man sich nicht einlassen!

Es gilt, durch gemeinsame Erinnerung, durch gemeinsame Aufarbeitung der tschechisch-deutschen Geschichte die Mauern des Misstrauens zu überwinden. Ich habe schon mehrfach behauptet, die Zukunft der EU stehe auf tönernen Füßen, solange die gemeinsame Vergangenheit nicht einvernehmlich aufgeklärt wird. Das gilt für Slowaken und Ungarn, für Kroaten und Italiener, für Türken und Griechen, es gilt aber ebenso auch für Tschechen und Deutsche. Denn Geschichte ist nicht wie Zement, Geschichte ist nicht ein feiner Staubnebel, der alles umhüllt und zudeckt.

Alles, was geschehen ist, tragen wir mit uns.  Es ist eingeschrieben in die Gedächtnisse, es wartet darauf, erzählt zu werden. Wie es mit leuchtendem Mut und salzigen Augen Herta Müller getan hat.

Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2009, hier: S. 38 und S. 44

Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Ingo Angres. Siedler Verlag, München 2009, hier: S. 222-223

 Posted by at 23:15

„Schäm dich, Thilo!“

 Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für „Schäm dich, Thilo!“
Okt 022009
 

„Soso, Sie führen also volksverhetzende Literatur?“, fragte ich bohrend meine guten Bekannten, die Buchverkäuferinnen im Buchladen Anagramm am Mehringdamm. „Die nehme ich!“ Danach räumte ich ein Exemplar der Zeitschrift Lettre International, bezahlte pflichtgemäß 17 Euro und zog ab. Das Interview mit Thilo Sarrazin muss man ganz lesen, ehe man sich ein Urteil erlaubt. Mich stört vieles an Sarrazins Tonlage, an einer gewissen Kaltschnäuzigkeit, an seiner abkanzelnden Art. So ist er halt.

Was mich aber noch mehr stört, ist, dass jetzt eine wahre Meute von Journalisten, Politikern, Kollegen über ihn herfällt, ohne erkennbar auf das Thema einzugehen: eine in Berlin weitverbreitete Empfänger- und Anspruchsmentalität, die auf Dauer die Eigeninitiative, das selbstverantwortete Leben zu ersticken droht. Und ein bei weitem nicht gelöstes, ja vielleicht nicht einmal erkanntes Problem mit dauerhaft vom Sozialsystem abhängigen Nachbarschaften, Stadtvierteln, ja halben Stadtbezirken.

Worin Sarrazin recht hat, ist: Wir haben in Berlin geschlossene parallele Volksgruppen aus der Türkei und aus arabischen Ländern. Sie begreifen sich selbst vorrangig – teils aus eigenem Entschluss, teils wegen ablehnender Signale – als Angehörige dieser fest in Berlin etablierten ethnischen Gruppen, nicht als Bürger des Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland. Oder überlegen Sie einmal: wann haben Sie zum letzten Mal länger als fünf Minuten mit einem Migranten geredet? Wann zuletzt einen zu sich in die Wohnung eingeladen?

Einen Triumph darf schon einmal die Migranten-Lobby feiern:

Bundesbanker beleidigt Migranten: Ist Sarrazin ein Volksverhetzer? – taz.de
Die Türkische Gemeinde in Deutschland sieht sieht die Debatte über abfällige Äußerungen des Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin zu Einwanderern in Berlin nun als beendet an. „Sarrazin hat sich entschuldigt und eingeräumt, dass seine Aussagen missverständlich waren“, sagte der TGD-Vorsitzende Kenan Kolat am Freitag in Berlin. „Der Fall ist damit für uns erledigt. Wir hoffen, dass Sarrazin in Zukunft keine Äußerungen dieser Art mehr macht.“

„Thilo, in die Ecke!“ Kolat sagt also irgendwie: Das Problem gibt es nicht, Sarrazin hat unrecht, lasst uns weitermachen wie bisher. Wir lernen daraus: Jeder, der ein bisschen Tacheles redet, redet fortan unter dem Damoklesschwert der Strafanzeige – oder schlimmer noch, des SPD-Parteiausschlusses, wie ihn Frau Högl MdB soeben gefordert hat.

Es wird schon beim ersten Lesen klar, dass Thilo Sarrazin sich im Ton vergriffen hat, dass er manche polemisch zugespitzte Äußerung haarscharf am Ziel vorbei setzt. Vieles an seinen Worten muss beleidigend klingen. Aber es entspringt dem Unmut eines Bürgers, der Einblick in Zahlenwerke und Berichte hat, die niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, weil sie allzu niederschmetternde Befunde aufweisen würden.

Allerdings: Wenn man mit Mitarbeitern des Neuköllner Sozialamts oder mit Schulleitern aus Wedding spricht, wird man ganz Ähnliches hören können wie das, worüber alle Welt aus den gutgewärmten Redaktionen und zuverlässig bezahlten Funktionärseliten sich jetzt so maßlos, selbstgerecht und selbstgefällig ereifert.  Das Empörende ist, dass Thilo Sarrazin das ausspricht, was die Menschen vor Ort, die in den Sozialämtern, Schulämtern, Klassenkonferenzen schier verzweifeln, im stillen Kämmerlein denken. Selbstverständlich ohne es je laut auszusprechen.

Auf Thilo Sarrazin einzuprügeln, weil er sich so weit vorgewagt hat und sich derb im Ton verstiegen hat, wird diese Probleme nicht lösen. Im Gegenteil: Sie werden durch Verschweigen eher noch anwachsen.

Ich fordere also auf, das lange 5-seitige Interview mit Thilo Sarrazin ganz zu lesen, ehe man darüber den Stab bricht. Es ist beileibe keine Volksverhetzung, sondern eine wütende Anklage – und es enthält auch Vorschläge, wie man es besser machen kann.

Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. Thilo Sarrazin im Gespäch. In: Lettre international. Nr. 86, Herbst 2009, S. 197-201

 Posted by at 18:01

Keine Dämonisierung der Publikumslieblinge!

 Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für Keine Dämonisierung der Publikumslieblinge!
Jul 252009
 

Gutes Interview mit Henning Scherf! Ich glaube, er gibt sehr gute Ratschläge, die eigentlich für alle Parteien gelten: Gegen einen populären, an Platz 1 gesetzten Kandidaten, wie etwa Angela Merkel, kommt man nicht an, indem man ihn zu demontieren versucht. Das kann nicht klappen. Es würde und wird  auch gegen den Wirtschaftsminister nicht klappen. Egal was der Herr Franz vom Opel-Betriebsrat jetzt gerade wieder veranstaltet.

Die Wähler haben sich in der Kanzlerfrage längst entschieden. Continue reading »

 Posted by at 23:39

Sind wir Radfahrer alle Mörder? Oder: Kennt der Islam den Begriff der individuellen Verantwortung?

 Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für Sind wir Radfahrer alle Mörder? Oder: Kennt der Islam den Begriff der individuellen Verantwortung?
Jul 122009
 

Mit zahlreichen Messerstichen ermordete vor wenigen Tagen ein offensichtlich geistesgestörter Mann eine wehrlose Frau. Es war an einem Ort, an dem zu diesem Zeitpunkt viele Menschen unterwegs waren. Der Täter fuhr ein rotes Fahrrad. Eine Überwachungskamera hielt den Mann fest, der auffällig gekleidet war und auch durch das rote Fahrrad leicht identifiziert werden könnte. Warum ist dies noch nicht geschehen? Wo bleibt die Gemeinschaft der Radfahrer? Warum hat sich der ADFC und der deutsche Bundesverkehrsminister nicht öffentlich entschuldigt? Das Opfer war eine Frau, der Täter war offensichtlich ein radfahrender Mann! Warum haben sich die Männer nicht entschuldigt? Diese ständige Kultur des Wegsehens Continue reading »

 Posted by at 12:07
Mai 302009
 

Recht einsilbig berichtet das Neue Deutschland heute auf S. 6, der Bundestag habe einen FDP-Antrag auf Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiter von Bundesbehörden auf Stasi-Zugehörigkeit abgelehnt. „Die Unkultur der Verdächtigung“ dürfe nicht „noch angeheizt“ werden, so Vizepräsident Wolfgang Thierse. LINKE, Union und SPD stimmten einmütig für die Kultur der Generalamnesie. Denn gestern ist gestern. Irgendwann muss ein Schlussstrich gezogen werden!

Wie ihr euch denken könnt, halte ich es auch bei dieser eilfertigen Entscheidung unserer Volksvertreter mit der Minderheit. Insbesondere mit dem Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz, dessen Einlassungen im heutigen Spiegel online ich für vorbildlich halte. Und noch erstaunlicher: Was Vaatz sagt, stimmt offenkundig. Vaatz trifft den Nagel auf den Kopf.

DDR-Bürgerrechtler Vaatz: „Die Stasi hatte Westdeutschland komplett unterwandert“ – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Ich weiß nicht, was noch alles zu Tage kommen muss, damit man West-Deutschland als unterwandert bezeichnen kann. Die Bundesrepublik war es, und zwar durch und durch.

Das Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktionen legt einen Schluss nahe: Die FDP-Fraktion ist von allen fünf Bundestagsfraktionen mutmaßlich am wenigsten betroffen. Mutmaßlich saßen und sitzen in den Reihen der westdeutschen FDP-Abgeordneten und Parlamentsmitarbeiter die wenigsten Spione und Stasi-Mitarbeiter. Vielleicht war die FDP nicht so interessant für die Stasi wie die anderen Parteien.

„Du sollst nicht wissen!“, so lautete das Schlagwort nach 1945, als in beiden deutschen Staaten in großem Umfang die Mörder und Henker in Staatsdiensten bequemen Unterschlupf fanden.

„Du sollst nicht fragen!“, so die bequeme Formel, auf die sich das Kartell der Schlussstrich-Zieher auch gestern im Bundestag geeinigt hat.

„Spekuliert auf Dummheit.“ Unter diese Formel stellt der Politologe Bodo Zeuner seinen Gastkommentar auf S. 1 des heutigen Neuen Deutschlands. Die Schuld an der Erschießung Benno Ohnesorgs weist er bizzarrerweise nicht Karl-Heinz Kurras zu, sondern: „Auftraggeber K.s war der Senat von Berlin, samt Springerpresse und aufgehetzter Bevölkerungsmehrheit.“ Da haben wir’s: Schuld sind immer die anderen! Zeuner liefert damit zugleich den Schlüssel für seine eigene – zutreffende – Vermutung: “ … dann hätte die Stasi genauso in der Springer-Presse und im Senat von Berlin, ja auch im von Walter Sickert geführten DGB tätig gewesen sein müssen, eine Riesenarmee von agents provocateurs steuernd.“

Ja, so war es, Herr Zeuner, Sie vermuten richtig! Allerdings ist das mit dem Steuern so eine Sache, Herr Professor! Sie können eine solche Truppe aus Waffennarren, dogmatischen und undogmatischen Linken, unpolitischen Desperados und geldgierigen Mitläufern eigentlich nicht steuern. Anfüttern ist das bessere Wort, Herr Zeuner. Die Stasi hat bis 1989 in der Bundesrepublik durch erhebliche Geldzahlungen und konspirative Netzwerke eine riesige Zahl an Zuträgern und Agenten angefüttert und unterhalten. Zum Zusammenhalt dieses Netzwerkes dienten auch verbrecherische Methoden wie etwa Verschleppung und gezielter Mord. Viele dieser Agenten dürften weiterhin ihren demnächst zu erwartenden Pensions- und Rentenzahlungen entgegensehen, soweit sie diese nicht bereits jetzt unbehelligt in Anspruch nehmen.

Den etwaigen Gegenbeweis, dass es doch nicht so nicht gewesen wäre, könnte man nur dann führen, wenn auf seiten des Deutschen Bundestages und der Birthler-Behörde der erkennbare Wille da wäre, das Ausmaß der Verstrickung und Unterwanderung westdeutscher Behörden, Lehrerkollegien, Pressehäuser, Polizeibehörden, Ministerien und Parlamente offenzulegen. Dieser Wille ist offenkundig nicht vorhanden – wofür wiederum der Beweis dadurch erbracht wurde, dass Karl-Heinz Kurras, der doch den Gang der Geschehnisse erheblich beeinflusst hatte, erst nach so vielen Jahrzehnten „zufällig“ enttarnt werden konnte.  Dies zeigt, wie unverbrüchlich die Mauer des Schweigens auch heute noch hält.

Ich meine: Durch die Ablehnung des FDP-Antrages hat der Deutsche Bundestag genau jenes Klima der allgemeinen Vedächtigung angeheizt, das er zu vermeiden suchte. Warum macht der Deutsche Bundestag das? Meine Vermutung ist: Aus Gründen der Staatsräson. Wenn jetzt trotz aller Nebelkerzen ans Licht kommen sollte, dass im Bundestag und in den Bundesministerien 40, 50, 100 oder 500 ehemalige Stasi-Agenten als Abgeordnete oder Bundestagsmitarbeiter arbeiteten oder arbeiten, und wenn deren Namen öffentlich bekannt würden, dann wäre der soziale Frieden gefährdet. Dann wäre die erfolgreiche Einbindung der DDR-Eliten in das System der Bundesrepublik, wie das Eberhard Diepgen einmal so löblich genannt hat,  gefährdet. Es bestünde die Gefahr der offenen Rebellion, der massiven Sabotage durch die alten Stasi-Seilschaften. Dann stünden uns noch viele weitere Skandale ins Haus wie etwa die gezielte Ausspähung der Bahn-Mitarbeiter, die maßgeblich von intakten Stasi-Seilschaften bewerkstelligt wurde.

Dennoch schlage ich hier mich auf die Seiten der FDP-Fraktion und einiger weniger Aufrechter wie etwa Arnold Vaatz und Vera Lengsfeld: Solange die gesamte Stasi-Verstrickung westdeutscher Eliten unter den Teppich gekehrt bleibt, ist unser Staat erpressbar.  Die Umtriebe in der Deutschen Bahn sind ein Vorgeschmack auf das, was uns blühen kann, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten. Das Wegsehen schadet der Demokratie. Ich bin für Aufklärung. Auspacken ist angesagt. Die Zeit ist reif. Viele Zeugen leben noch.

 Posted by at 18:08

Wer ist schuld?

 Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für Wer ist schuld?
Apr 212009
 

In diesem Blog haben wir immer wieder auf die Situation der Kreuzberger Kinder hingewiesen. Wie passend kommt da ein Gespräch zwischen André Schindler und Christian Füller, das die taz heute bringt. Auszug:

Berliner Elternsprecher über Schulen und Eltern: „Die Grundschulen bringens nicht“ – taz.de
In den Hauptschulen der Stadt sind 7 von 10 Schülern praktisch nicht lesefähig. Ist das akzeptabel, Herr Schindler?

Das Problem ist nicht die Hauptschule. Unsere Grundschulen bringen nicht die Leistung, die sie bringen sollten. Wir haben eine sechsjährige Grundschule, alle Schüler lernen zusammen. Aber wir kümmern uns gar nicht um sie! Ich habe einen Fünftklässler gesehen, der das kleine Einmaleins noch nicht konnte.

Was tut der oberste Elternvertreter Berlins, um die skandalös hohe Zahl an Risikoschülern zu senken?

Ich weise auf die Schwachpunkte und die Defizite hin. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Schüler zur Schule kommen, die bereits großen Rückstand haben. Die Grundschule muss dafür sorgen, dass Schüler problemlos weiterlernen können.

Die Unterschiede werden auch schon vor der Schule gemacht – von den Eltern.

Wir können doch ein Kind, das mit fünf oder sechs Jahren in die Schule kommt, nicht als Risiko ansehen! Die Schule hat die Aufgabe, grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln – und das schafft sie nicht. Die Kinder werden also in der Grundschule zu Risikoschülern gemacht. Unser Ziel muss es aber sein, dass auch Schüler gefördert werden, die keine Hilfe von Zuhause erhalten. Dies muss der Bildungssenator gewährleisten.

Wieso stellen Sie nicht dieselben Ansprüche an die, die Sie gewählt haben – die Eltern? Die haben eine Mitverantwortung.

Weil das unbestritten ist und weil das auch immer wieder gesagt wird. Aber wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, dass auch Kinder von Eltern, die nicht klarkommen, eine Chance haben.

Was meint ihr?

 Posted by at 16:49
Mrz 152009
 

Aus der Presse allein wird man sich kaum ein zutreffendes Bild über die Lage in einzelnen Ländern machen können. Man muss andere Quellen heranziehen, mit Leuten sprechen, die vor Ort gelebt haben. Der walisische Schriftsteller und Journalist Matt Rees hat über 13 Jahre in den Palästinensergebieten und Israel gelebt, spricht Arabisch und Hebräisch, pendelte hin und her, berichtete für namhafte Sender. Er hatte das Gefühl, als Journalist immer nur Teile der Wahrheit sagen zu können.

In seinem Roman The Saladin Murders berichtet er aus den Palästinensischen Gebieten.  Hautnah, schweißtreibend, auf Du und Du mir den Leuten vor Ort. Berichtet über durchdringende Korruption, Machtklüngel, Revierkämpfe, Bestechung, Amtsmissbrauch, Kriminalität in größtem Umfang. Sein niederschmetternder Hauptbefund: Nicht die Besatzungsmacht, sondern die oftmals miteinander verfeindeten palästinensischen Organisationen selbst tragen die Hauptschuld an den verheerenden Zuständen im Gaza-Streifen, die zur Zerstörung einer ganzen Gesellschaft führen.

Lesen lohnt sich. Die Berichterstattung in den Nachrichten-Medien streift wirklich nur die Oberfläche. Das Buch liegt auch in arabischer und deutscher Übersetzung vor.

Matt Rees: The Saladin Murders. An Omar Yussef Novel. Atlantic Books, London 2008. Preis in Deutschland: 10,90 Euro

 Posted by at 23:32

Ist das böse deutsche Sozialsystem an allem schuld?

 Sozialstaat, Sündenböcke, Türkisches, Verwöhnt  Kommentare deaktiviert für Ist das böse deutsche Sozialsystem an allem schuld?
Mrz 092009
 

„Wenn es das deutsche Sozialsystem nicht gäbe, wären wir nicht hier“. So klagt Yilmaz. Er ist unzufrieden: die Kunden laufen ihm davon, während er an einem Ort eingeschränkter Freiheit sich nicht um seine Geschäfte kümmern kann – einen Autohandel und ein Institut für Dienstleistungen der besonderen Art. Hören wir doch, was er erzählt:

„Wenn es das deutsche Sozialsystem nicht gäbe, wären wir nicht hier. In den türkischen Cafés gibt es nur ein Thema: Warum sind wir nicht in unserer Heimat? Wie sind wir bloß hierhergeraten? Wenn wir doch bloß das gute System der Deutschen hätten, würden wir hier nicht versauern.“

So erzählt Yilmaz in dem Buch „Die verlorenen Söhne“, der zusammen mit einer deutschen Frau und einem Partner ein Bordell betreibt und nebenher Autos nach Osteuropa verschiebt, bis er eines Tages erwischt wurde (N. Kelek, Die verlorenen Söhne, a.a.O. S. 86).

Sind die Klagen des Yilmaz berechtigt? Ist das deutsche Sozialsystem an allem schuld? Zunächst einmal sollte uns freuen: das Sozialsystem in Deutschland findet er nicht schlecht, sondern gut. Böse ist es aber, weil es schuld an seiner Misere ist: Denn er sitzt im Gefängnis. Ohne das deutsche Sozialsystem säße er nicht Gefängnis. Letztlich ist also das deutsche Sozialsystem an allem schuld. Es ist – Kismet.

„Wenn wir doch in der Türkei ein ähnliches Sozialsystem hätten, dann bräuchten wir nicht in Deutschland zu leben!“ So hört man es immer wieder. Was ist dran? Nun, die Türkei hat immerhin eine staatliche Renten- und seit einigen Jahren auch Arbeitslosenversicherung. Die Mindestbeitragsdauer für den Rentenbezug wurde kürzlich von 20 auf 25 Jahre heraufgesetzt. Eine allgemeine Krankenversicherungspflicht gibt es nicht, die Gesundheitsvorsorge ist kostenlos. Gute medizinische Versorgung muss man aus eigener Tasche bezahlen.

Allerdings: eine umfassende Grundsicherung für die gesamte Existenz wie die deutsche Sozialhilfe oder das deutsche Langzeitarbeitslosengeld („Hartz IV“) gibt es in der Türkei nicht. Folge: Es ist finanziell immer noch wesentlich attraktiver, die Familie in Deutschland anzusiedeln als in strukturschwachen Gebieten mit praktisch keinen freien Arbeitsplätzen wie etwa Anatolien. Denn wer einmal im deutschen Sozialsystem drin ist, kann dann auch seine gesamte spätere Familie daran teilhaben lassen. Das Ergebnis kann man erfahren, wenn man durch eine beliebige Schulklasse in Neukölln, Wedding oder Kreuzberg geht und fragt: Wovon lebt ihr? Die Antwort wird erneut ein erfreulicher Beweis für die Attraktivität des deutschen Sozialwesens sein! Also freuen wir uns doch!

Etwa die Häfte der türkischen Immigrantenehen gelten als arrangiert, das heißt, die beiden Ehepartner werden füreinander ausgesucht, ohne sich richtig zu kennen, die Frau meist aus der Türkei, der Mann aus Deutschland.

Ist das deutsche Sozial- und Bildungssystem böse, weil es dem türkischen Staat so viele junge Menschen, vor allem junge Frauen raubt und ihnen neben der existenziellen Grundsicherung  keine umfassende Ausbildung in türkischer Sprache bis hin zum Dr. rer. nat. anbietet, – sondern nur in deutscher und teilweise englischer Sprache? Wenn man Yilmaz oder viele türkische Migrantenverbände hört, drängt sich dieser Eindruck auf. Fast alles macht der deutsche Staat in der Darstellung der Migrantenverbände falsch – jetzt zum Beispiel dadurch, dass er den kurdischen, assyrischen, tscherkessischen und tatarischen Menschen kein anständiges Türkisch und Koran-Arabisch beibringt – ganz zu schweigen davon, dass er ihnen neben den türkisch-deutschen Europaschulen keine schlüsselfertigen Schulen in kurdischer oder arabischer Sprache mit obligatorischem Türkisch hinstellt.

Ich meine: im staatlichen Zusammenleben haben Begriff wie „böse“ und „gut“ wenig Platz. Es geht um Funktionen, um das Durchschauen von wirtschaftlichen und kulturellen Kausalitäten. Hartz IV ist nicht „böse“, nur weil es Hunderttausende von Menschen um echte Entwicklungschancen bringt.

Richtig ist: Das weder „böse“ noch „gute“ deutsche Sozialwesen bietet für ein riesiges, ja unerschöpfliches Reservoir an Menschen eine verlässliche Grundsicherung, die sich in ihren Herkunftsländern keine eigene Existenz aufbauen wollen. Wieso sollten sie auch?

Wichtig ist dabei auch, dass zusätzliche Fertigkeiten und Fähigkeiten, z.B. deutsche Sprachkenntnisse oder eine abgeschlossene Berufsausbildung, kontraproduktiv sind, da sie im schlimmsten Falle dazu führen, dass der Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit verdient werden müsste – was zum Ausscheiden aus dem verlässlichen System der Grundsicherung führen kann.

Man gehe einmal als einzelne junge Frau an einem Sommertag in leichter Sommerkleidung durch die Neuköllner Karl-Marx-Straße und bedenke diesen kausalen Zusammenhang.

Oder man besuche irgendeine von den wohlmeinenden deutschbürgerlichen Eltern gemiedene Grundschule in Kreuzberg oder Wedding und versuche in deutscher Sprache ein Gespräch über diese Zusammenhänge zu führen.

Erst danach wird man die Frage beantworten können, ob das deutsche Sozialwesen an allem schuld ist.

 Posted by at 14:49
Feb 162009
 

Immer wieder konnten wir in diesem Blog von der religiösen Weihestimmung berichten, mit der die kommunistische Glaubensgemeinschaft ihre Gründerväter und Heiligen-Mütter umgibt. Ich habe dies selbst mehrfach erlebt, besonders eindrücklich beim Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau, wo ich die Sünde beging, eine Frage zu flüstern statt andachtsvoll zu schweigen. Ich spreche nicht von „quasi-religiös“, sondern von „religiös“ im Sinne einer echten Ersatzreligion. An ihrer Sprache, an ihren Bildern kann man die Religion erkennen! Wollt ihr Beispiele?

Vera Lengsfeld berichtet in ihrem Buch „Mein Weg zur Freiheit“, mit welchen Worten Heinz Kamnitzer, der Präsident des PEN-Zentrums der DDR, ihre Absicht verurteilte, bei einer Gedenkveranstaltung ein Spruchband mit einem Zitat Rosa Luxemburgs zu entrollen. Kamnitzer schrieb im Neuen Deutschland über die geplante Teilnahme der Friedensgruppen an der Luxemburg-Demo 1988:

„Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.“

Beachtlich ist hier: Kamnitzer setzt die kommunistische Glaubensgemeinschaft der DDR mit einer Kirche gleich, die ihre Würdenträger und kultisch verehrte Toten hat. Ferner: Wie in der katholischen Kirche, so gab es auch im Kommunismus der DDR eine Sünde in Gedanken. Denn verwerflich und strafbar war bereits die geplante Sünde der „versuchten Zusammenrottung“ – zur Ausführung kam es ja nicht, da die Obrigkeit bereits vor der Störung des Gedenkmarsches eingriff.

Zweites Beispiel: Den Titel ihres Buches über Rosa Luxemburg schmückt Frigga Haug, Gründungsmitglied der deutschen Partei DIE LINKE, mit dem Bild La crucifixion (Die Kreuzigung) von Pablo Picasso. Das Bild zeigt eine Golgatha-Szene, ein Kruzifix. Angesichts der Schrecken unseres Jahrhunderts wird Jesus erneut gekreuzigt in einer Umgebung, die stark an Guernica von Picasso erinnert.

Während Kamnitzer Rosa Luxemburg mit einem Kardinal oder Bischof gleichsetzte, wird  die ermordete Rosa Luxemburg durch Frigga Haug gleichsam in einen Rang mit dem ermordeten Jesus Christus gerückt.

Rosa Luxemburg selbst sah sich ebenfalls in der Nachfolge Jesu Christi. In ihren Schriften zieht sich eine Art unterirdischer Verweisungszusammenhang auf das jüdisch-christliche Erbe wie Zettel und Faden durch. An vielen Stellen verwendet sie Bilder der christlichen Mystik, des christlichen Ritus. Über die ihr bekannten Massenmorde Lenins schreibt sie beispielsweise:

„Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.“

Was für eine Sprache! Die Revolution wird als eine Art Taufe gesehen, eine Taufe, die allerdings nicht mit Wasser, sondern mit Blut erfolgt. Blut, das fließen muss, daran lässt Luxemburg keinen Zweifel. Blut zur Erlösung der Welt von den Sünden des Bösen. Und das Böse – das ist der imperialistische Kapitalismus.

In der moralischen Verdammung des imperialistischen Kapitalismus, in der Anprangerung seiner sittlichen Verderbtheit, des jämmerlichen Sündenfalls des deutschen Proletariats, nämlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie, scheut Luxemburg sich nicht vor einer Häufung stärkster Anklagen: „Schmach“, „Ruin“, „Gespinst von Lügen“, „ein teuflischer Witz“, „Sittenverfall“ … man könnte Seiten füllen mit den kraftvollen, geradezu mit alttestamentarischer Wucht geschleuderten Wehe-Rufen der Prophetin Rosa Luxemburg über die tiefe Not der sündigen Welt.

Sich selbst sah Luxemburg weder als Bischöfin noch als Kardinälin – sondern als leidende Gottesmagd, als eine Art politischer Christus – wobei der Gott hier nicht der Gott des Judentums, sondern die Weltgeschichte ist.

Sie nennt ihre Verfolgung ausdrücklich den „Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen“  – und fast in einer Vorwegnahme ihrer Hinrichtung schreibt sie, wie sich das vierfache „Kreuziget ihn“ gegen sie selbst richtet – als Forderung der Kapitalisten, dann der Kleinbürger, und dann – wir zitieren wörtlich aus Rosa Luxemburgs Werken:

dann der „Scheidemänner, die wie Judas Ischariot die Arbeiter an die Bourgeoisie verkauft haben und um die Silberlinge ihrer politischen Herrschaft zittern“; und schließlich:

„Kreuziget ihn! wiederholen noch wie ein Echo getäuschte, betrogene, missbrauchte Schichten der Arbeiterschaft und Soldaten, die nicht wissen, dass sie gegen ihr eigenes Fleisch und Blut wüten, wenn sie gegen den Spartakusbund wüten .“

Immer wieder wird hervorgehoben, dass Rosa Luxemburg Jüdin war – um so verblüffender ist es zu sehen, wie stark ihr gesamtes Denken und Fühlen von im engeren Sinne christlichen Motiven durchdrungen ist, bis hin zu einer ausdrücklichen Selbststilisierung als weiblicher Messias in der Nachfolge Jesu Christi.

Wer diese messianischen Antriebe bei Rosa Luxemburg und im Kommunismus nicht sieht, wird Luxemburg und den Kommunismus nicht begreifen. Wer die Bibel nicht kennt, wird auch Rosa Luxemburg oder Karl Marx nicht verstehen können.

Wir beschließen diese kleine abendliche Betrachtung mit einem Blick auf ein Andachtsbild, das ich gestern am Potsdamer Platz aufnahm:

15022009.jpg

Wir sehen Rosa Luxemburg auf einem Reststück der Berliner Mauer – es ist jene Stelle, die, wie die Legende will, am 9. November 1989 erstmals durchbrochen ward. Umgeben ist Rosa (lateinsch: die Rose, Symbol der Unschuld) von einem Herzen – dem Symbol der Liebe. Ein rotes Kreuz ist über das Gesicht gezogen – so entsteht die Gekreuzigte, der weibliche Messias.  Unten dann – das Friedenssymbol, welches eine Weiterentwicklung altchristlicher Grabsymbolik darstellt, wie man sie etwa in den Katakomben Roms findet: Der Kreis mit den drei Armen stellt das Wasser des ewigen Lebens dar, wie es das verlorene Paradies umfloss. Zugleich bilden die drei Flüsse eine Vorwegnahme der göttlichen Dreifaltigkeit.

Die namenlosen Schöpfer dieses hochverdichteten Mahnmals haben etwas geschaffen, wozu sich der öffentliche Wettbewerb für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal nicht die Freiheit nehmen konnte: Sie haben eine starke Aussage zu Leben und Botschaft Rosa Luxemburgs getroffen, indem sie sie in drei Jahrtausende europäischer Religionsgeschichte, in die neueste deutsche Geschichte buchstäblich einritzten.

Hingehen lohnt. Religiöses Schweigen ist nicht mehr vorgeschrieben. Wir sind frei.

Literaturnachweis:

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag, Hamburg 2007, hier: Umschlagbild

Auch zu folgender öffentlicher Veranstaltung lohnt sich das Hingehen:

Dienstag, 17. Februar 2009, 18.30 Uhr, Café Sybille, Karl-Marx-Allee 72, Berlin-Friedrichshain.  Start der Gesprächsreihe “Politik ohne Phrasen – Vera Lengsfeld lädt ein” mit dem Titel:  ”Taugt Rosa Luxemburg als Ikone der Demokratie?” Diskussion mit Halina Wawzyniak (Linke), Prof. Manfred Wilke, Manfred Scharrer

 Posted by at 23:05

„Man war Teil des Systems“

 Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für „Man war Teil des Systems“
Dez 012008
 

„Man war Teil des Systems“ – mit diesen Worten versuchte ich vor wenigen Tagen, am 26.11.2008, die Rolle der Ost-CDU zu kennzeichnen. Darin lag weder ein moralisches Urteil noch eine Anklage. Ich habe die DDR mehr von außen erlebt, da ich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aus Berlin (West) einreisen konnte – aber ich kannte und kenne viele, die jahrzehntelang in der DDR und anderen Staaten des Warschauer Pakts gelebt haben. Und aus den zahlreichen Erzählungen ergibt sich für mich ein einigermaßen stimmiges Bild, das mir verbietet, die Menschen nach ihrer damals gespielten Rolle in Mitläufer und Widerständler, in Böse und Gut einzuteilen.

Beurteilen oder kritisieren kann ich immer nur das, was ich selbst Tag um Tag miterlebe. Ich kann Bitten oder Forderungen für die nächste Zukunft erheben. Und meine Bitte, meine Forderung – gerade in der Auseinandersetzung mit denen, die sich hier in Berlin für „bürgerlich“ halten, und mit denen, die sich für „links“ halten, ist immer wieder dieselbe: Lasst uns dieses Schwarz-Weiß-Denken überwinden. Ich halte es für falsch, wenn wir immer die anderen als „die Bösen“, die „Mauermörder“, die „Ausbeuter“, die „Dummen“, die „muffigen Reaktionäre“ bezeichnen. Eins meiner großen politischen Vorbilder, Barack Obama, schreibt in genau diesem Sinne:

I am convinced that whenever  we exaggerate or demonize, oversimplify or overstate our case, we lose. Whenever we dumb down the political debate, we lose. For it’s precisely the pursuit of ideological purity, the rigid orthodoxy and the sheer predictability of our current political debate, that keeps us from finding new ways to meet the challenges we face as a country. It’s what keeps us locked in „either/or“ thinking: the notion that we can have only big government or no government; the assumption that we must either tolerate forty-six million without health insurance or embrace „Socialized medicine.“

Gestern sah ich den mitreißenden Film „Mogadischu“ im deutschen Fernsehen. Was mir an den Terroristen auffiel, war ein unerbittliches Freund-Feind-Denken. Es hagelte Beschimpfungen, wüste Tiraden gegen die „kapitalistischen Schweine“, die „Verräter“ usw. Und bei Anne Will wurden anschließend Presseberichten zufolge von Teilnehmern Forderungen nach der Todesstrafe, nach unerbittlicher lebenslanger Strafe geäußert. Das ist genau  jenes Schwarz-Weiß-Denken, das schon so viel Unglück gebracht hat, das nicht nur Terrorismus, sondern auch verheerende Kriege ermöglicht. So wären etwa die Kette an Glaubenskriegen, der Dreißigjährige Krieg kaum denkbar gewesen, wenn der Reformer Jan Hus nicht lange zuvor wider alle Zusagen als gottloser Ketzer verbrannt worden wäre, wenn Luther nicht in Acht und Bann gesetzt worden wäre, wenn er selber wiederum den Papst nicht als „Sau“ und Antichrist beschimpft hätte. Die europäische Geschichte ist gerade in ihren langen dunklen Kapiteln ohne ein solches ausgeprägtes wechselseitiges Freund-Feind-Denken nicht vorstellbar. Diese erbitterte Feindschaft zwischen den christlichen Konfessionen ist ein saures Lehrstück – studiert man die Holzschnitte und Flugblätter der Katholiken und Protestanten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, dann ist man ein für alle mal vom europäisch-christlichen Dünkel einer ach so überlegenen europäischen Werteordnung geheilt.

Gibt es auch in Deutschland Politiker, die sich von diesem vorwiegend moralischen, nach Gut und Böse urteilenden und verurteilenden Denken gelöst haben? Ich glaube ja, es gibt einige. Eine von ihnen wird heute in der Kleinen Zeitung so zitiert:

Merkel will Geschichte der DDR-CDU aufarbeiten > Kleine Zeitung
Merkel will Geschichte der DDR-CDU aufarbeiten
Die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hat angesichts heftiger Attacken von SPD und Grünen vor einem Schwarz-Weiß-Denken bei der Rolle der CDU in der DDR gewarnt.
„Die CDU in der früheren DDR war Teil des Systems“, sagte sie am Sonntagabend am Rande des CDU-Bundesparteitags in Stuttgart dem ZDF. „Wenn man in der DDR gelebt hat, dann kann man das heute nicht mit schwarz und weiß einfach darstellen, sondern da waren in dieser Diktatur natürlich auch Kompromisse unterschiedlichster Art und Weise an der Tagesordnung.

Zitatnachweis: Barack Obama, The Audacity of Hope, New York 2006, Seite 39-40.

 Posted by at 11:24