Okt 102009
 

„Höher als jede Wand wächst das Misstrauen.“ Mit diesen einfachen, wie ein Birkenbäumchen gerade gewachsenen Worten beschreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemwende die klirrende Luft in einem Lager für die Deportierten. Die Worte fallen mir ein, als ich heute in der Süddeutschen Zeitung auf S. 10 lese, der tschechische Präsident Klaus wolle die Unterschrift unter den EU-Reformvertrag verweigern, wenn der rechtliche Fortbestand der Benesch-Dekrete nicht ausdrücklich bekräftigt werde.

 EU-Reformvertrag – Prager Sonderwünsche – Politik – sueddeutsche.de
Einem Bericht der polnischen Zeitung Rzeczpospolita zufolge will Klaus Garantien gegen mögliche deutsche Eigentumsansprüche im ehemaligen Sudetenland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war auf Grundlage der sogenannten Benes-Dekrete die deutschsprachige Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei ohne Entschädigung vertrieben und enteignet worden. Tschechien hält bis heute an den umstrittenen Benes-Dekreten fest und lehnt die Rückgabe von Eigentum ab.

Welches Urteil fällt Daniel Jonah Goldhagen über die Vertreibung der Deutschen und Ungarn aus Polen und der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg? Es lohnt sich, seine Stellungnahme genau zu lesen! Sie findet sich auf den Seiten 222-223 seines Buches über Völkermord.  Er bezeichnet die Deportationen der Deutschen ausdrücklich als „verbrecherische eliminatorische Akte“, die auch durch das subjektive Gefühl, es sei hier Vergeltung geübt worden, nicht zu rechtfertigen  seien. „In der Hauptsache Polen aus den von ihrem Staat annektierten Teilen des deutschen Ostens und Tschechen führten eine gründliche und manchmal mörderische Vertreibung von rund zehn Millionen Deutschen durch, steckten Hunderttausende zeitweilig in Lager und brachten Zehntausende um. Der unbändige Hass auf die Volksdeutschen führte zu einem der seltenen Fälle, dass ein demokratischer Staat, die Tschechoslowakei, im eigenen Land eine umfassende tödliche Eliminierungspolitik durchführte.“

Durch die Benesch-Dekrete der Tschechoslowakei wurde in Friedenszeiten plötzlich ein Drittel der Bevölkerung des eigenen Staates aller Rechte verlustig erklärt. Ihnen wurde die Staatsangehörigkeit aberkannt, sie galten als vogelfrei, sie trugen das „N“ auf ihre Jacken genäht. Ihr gesamter Besitz fiel entschädigungslos dem Staat anheim. Die Deutschen und die Ungarn sowie auch diejenigen Juden, die als Deutsche gezählt wurden, verloren alle Eigentums- und Aufenthaltsrechte. Alle Verbrechen, die an ihnen nach dem Krieg begangen worden waren, wurden straffrei gestellt, für die zahlreichen Massaker und Morde ist kein Tscheche belangt worden.

Ich  meine: Die EU darf sich nicht darauf einlassen, derartige willkürliche, allen Grundsätzen der Menschenrechte zuwiderlaufende Dekrete anzuerkennen. Hier darf man sich nicht durch den Präsidenten Klaus unter Druck setzen lassen!

„Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.“  So schreibt Herta Müller über die gleichfalls deportierten Rumäniendeutschen.

So könnte man auch auch sagen: Der Krieg hatte Böhmen verschont, in ganz Böhmen fand während des 2. Weltkriegs keine Schlacht statt, aber nach dem Krieg waren alle Deutschen in der Tschechoslowakei an allem Bösen schuld, das die nationalsozialistischen Mörder weltweit verübt hatten. Auf diese Logik darf man sich nicht einlassen!

Es gilt, durch gemeinsame Erinnerung, durch gemeinsame Aufarbeitung der tschechisch-deutschen Geschichte die Mauern des Misstrauens zu überwinden. Ich habe schon mehrfach behauptet, die Zukunft der EU stehe auf tönernen Füßen, solange die gemeinsame Vergangenheit nicht einvernehmlich aufgeklärt wird. Das gilt für Slowaken und Ungarn, für Kroaten und Italiener, für Türken und Griechen, es gilt aber ebenso auch für Tschechen und Deutsche. Denn Geschichte ist nicht wie Zement, Geschichte ist nicht ein feiner Staubnebel, der alles umhüllt und zudeckt.

Alles, was geschehen ist, tragen wir mit uns.  Es ist eingeschrieben in die Gedächtnisse, es wartet darauf, erzählt zu werden. Wie es mit leuchtendem Mut und salzigen Augen Herta Müller getan hat.

Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2009, hier: S. 38 und S. 44

Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Ingo Angres. Siedler Verlag, München 2009, hier: S. 222-223

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