Am selben Tag, als alle anderen den Namen Herta Müller zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen, lese ich das zweite große Buch von Daniel Jonah Goldhagen. Was verbindet Müller und Goldhagen? Vielleicht dieses: Müller wie Goldhagen forschen in den Gängen und Schächten des Vergessens des Leidens. Sie fördern Schlacken des Entsetzens zutage.
Goldhagen breitet einen Teppich des Schreckens aus: über mehrere Jahrhunderte, über alle Kontinente hinweg. Wichtig: Er bricht das Schweigen über die Verbrechen der kommunistischen Regime. Wer weiß denn bei uns, dass in Polen und der Sowjetischen Besatzungszone einige Konzentrationslager der Deutschen einfach weiterbetrieben wurden, wie Goldhagen auf S. 129 berichtet, von polnischen, deutschen und russischen Kommunisten? Hunderttausende wurden in den KZs eingesperrt, Zehntausende starben an den elenden Lagerbedingungen. Auschwitz, Lamsdorf, Jaworzno, Oranienburg, Buchenwald – alle diese und noch weitere Lager wurden 1945 nach dem Abzug der Nationalsozialisten wieder befüllt. Echte und vermeintliche Gegner der neuen Machthaber, Bürgerliche, Konterrevolutionäre, sie alle wurden zusammengetrieben. Das millionenfache Unrecht der Vertreibungen – auch der Vertreibungen der Deutschen aus dem Osten Europas – benennt Goldhagen klar und eindeutig (S. 222). Er lässt den wohl an die Hundert Millionen Opfern der Völkermorde Gerechtigkeit widerfahren – soweit man von „Gerechtigkeit“ sprechen kann.
Natürlich unterlaufen ihm auch Fehler. So behauptet er etwa fälschlich, im GULAG habe es im Gegensatz zu den deutschen KZs ein Kulturleben mit Orchestern usw. gegeben (S. 435). Das ist falsch. Auch in einigen deutschen KZs gab es Orchester, sogar Damenbands, es wurde komponiert, es wurde unter erbärmlichsten Bedingungen immer noch gefeiert, musiziert und rezitiert, und zwar von Häftlingen, die einem qualvollen Tod entgegengingen. Der vorgeblich weniger verbrecherische Charakter der Sowjetherrschaft lässt sich also nicht damit begründen, im GULAG habe es noch ein Kulturleben gegeben.
Und die Auslöschung der polnischen Intelligenz schreibt Goldhagen zu Unrecht nur den Deutschen zu. Polen wurde 1939 zerrissen zwischen Nazideutschland und Sowjetrussland. Beide Mächte haben die polnische Intelligenz brutalst in Massenmorden ausgemerzt. Das Wort Katyn ist dafür nur ein Symbol. Goldhagen hätte es erwähnen müssen.
Richtig ärgerlich werden seine summarischen Zusammenstellungen, etwa auf S. 519: Dort beschreibt er die gegenwärtige politische Situation in der Europäischen Union (EU) mit folgenden Worten: „Nationalsozialismus und Faschismus vorbei, vollkommen demokratisch und politisch integriert.“ 20 Jahre nach der Hinrichtung Ceaușescus ist es starker Tobak, wenn das millionenfache Unrecht, das über Europa gekommen ist, ausschließlich dem Faschismus und Nationalsozialismus zugeschrieben wird. Hier hätte unbedingt auch der reale Sozialismus erwähnt werden müssen, der heutige EU-Länder wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien, DDR, Polen, Lettland, Litauen mit eiserner Faust regierte.
Als wichtigen Massenmörder lässt Goldhagen leider Karl den Großen unerwähnt. Wenn schon, denn schon. Es stünde uns in Europa gut an, die Völkermorde und Vertreibungen dieses Pater Europae klar beim Namen zu nennen und den Aachener Karls-Preis umzubenennen, den ja sogar unsere Bundeskanzlerin schon ohne mit der Wimper zu zucken empfangen hat.
Aber immerhin bringt Goldhagen den GULAG, belegt anhand von Zahlen und Dokumenten den verbrecherischen Charakter des riesigen verzweigten Lagersystems in der UdSSR. Er erzählt die riesigen Hungersnöte der Ukraine in den 30er Jahren. Er zeichnet nach, wie die Bolschewisten von Anfang an auf Terror, Massenmord und Konzentrationslager setzten (S. 51). Von der Aura des Kommunismus als weltbefreiender Macht bleibt nichts, gar nichts mehr übrig.
„Massenmörderischen kommunistischen Regimen, die sich urprünglich auf arme und verbitterte Proletarier und Bauern stützten, ist es in bemerkenswerter Weise gelungen, durch die Indoktrination der Jugend ganze Generationen von wahren Gläubigen heranzuziehen, die sich bereitwillig für die Verwirklichung eliminatorischer Programme einsetzten“ (S. 225).
Die Blutspur des Genozids zieht sich durch die Jahrhunderte, sie färbt sich besonders rot im 20. Jahrhundert. Und die staatlich verordneten und gedeckten Massenmorde gehen weiter bis zum heutigen Tage!
Das Buch ist ein großer Wurf. Goldhagen schont niemanden: nicht die Hutus, nicht die Belgier, nicht die Deutschen, die Türken, nicht die US-Amerikaner, nicht die Kommunisten, nicht die Franzosen, nicht die autoritären Regime Südamerikas … sie alle haben Massenmorde und Völkermorde begangen, die weiterhin weitgehend verschwiegen oder beschönigt werden (wohl mit Ausnahme der deutschen Verbrechen). So die bitteren Vorwürfe Goldhagens. Der Völkermord, besser die Vökermorde, allen voran der Holocaust, haben verheerender gewütet als die Kriege.
Dieser Nachweis gelingt Goldhagen meines Erachtens mit großer Überzeugungskraft. Dies ist das Hauptverdienst des Buches, uns dafür die Augen zu öffnen, auch wenn die Begriffe Massenmord, Völkermord, Terror, Krieg bei Goldhagen teilweise unscharf formuliert sind und ineinander verfließen.
Und vor allem unterbeitet er Vorschläge, wie staatlicher Massenmord zu verhindern sein könnte: etwa durch ein Kopfgeld auf Politiker und Regierungsmitglieder, die den Massenmord anordnen oder decken. Hier wird das Buch zu dem, was es eigentlich ist: ein flammender Aufruf, mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden herzustellen. „Verschaffe mir Recht“ – dieser biblische Spruch der ewig Gemarterten kam mir in den Sinn, als ich das Buch erschüttert zur Seite legte.
Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Aus dem Englischen von Hainer Kober und Ingo Angres. Siedler Verlag, München 2009
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