„Soso, Sie führen also volksverhetzende Literatur?“, fragte ich bohrend meine guten Bekannten, die Buchverkäuferinnen im Buchladen Anagramm am Mehringdamm. „Die nehme ich!“ Danach räumte ich ein Exemplar der Zeitschrift Lettre International, bezahlte pflichtgemäß 17 Euro und zog ab. Das Interview mit Thilo Sarrazin muss man ganz lesen, ehe man sich ein Urteil erlaubt. Mich stört vieles an Sarrazins Tonlage, an einer gewissen Kaltschnäuzigkeit, an seiner abkanzelnden Art. So ist er halt.
Was mich aber noch mehr stört, ist, dass jetzt eine wahre Meute von Journalisten, Politikern, Kollegen über ihn herfällt, ohne erkennbar auf das Thema einzugehen: eine in Berlin weitverbreitete Empfänger- und Anspruchsmentalität, die auf Dauer die Eigeninitiative, das selbstverantwortete Leben zu ersticken droht. Und ein bei weitem nicht gelöstes, ja vielleicht nicht einmal erkanntes Problem mit dauerhaft vom Sozialsystem abhängigen Nachbarschaften, Stadtvierteln, ja halben Stadtbezirken.
Worin Sarrazin recht hat, ist: Wir haben in Berlin geschlossene parallele Volksgruppen aus der Türkei und aus arabischen Ländern. Sie begreifen sich selbst vorrangig – teils aus eigenem Entschluss, teils wegen ablehnender Signale – als Angehörige dieser fest in Berlin etablierten ethnischen Gruppen, nicht als Bürger des Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland. Oder überlegen Sie einmal: wann haben Sie zum letzten Mal länger als fünf Minuten mit einem Migranten geredet? Wann zuletzt einen zu sich in die Wohnung eingeladen?
Einen Triumph darf schon einmal die Migranten-Lobby feiern:
Bundesbanker beleidigt Migranten: Ist Sarrazin ein Volksverhetzer? – taz.de
Die Türkische Gemeinde in Deutschland sieht sieht die Debatte über abfällige Äußerungen des Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin zu Einwanderern in Berlin nun als beendet an. „Sarrazin hat sich entschuldigt und eingeräumt, dass seine Aussagen missverständlich waren“, sagte der TGD-Vorsitzende Kenan Kolat am Freitag in Berlin. „Der Fall ist damit für uns erledigt. Wir hoffen, dass Sarrazin in Zukunft keine Äußerungen dieser Art mehr macht.“
„Thilo, in die Ecke!“ Kolat sagt also irgendwie: Das Problem gibt es nicht, Sarrazin hat unrecht, lasst uns weitermachen wie bisher. Wir lernen daraus: Jeder, der ein bisschen Tacheles redet, redet fortan unter dem Damoklesschwert der Strafanzeige – oder schlimmer noch, des SPD-Parteiausschlusses, wie ihn Frau Högl MdB soeben gefordert hat.
Es wird schon beim ersten Lesen klar, dass Thilo Sarrazin sich im Ton vergriffen hat, dass er manche polemisch zugespitzte Äußerung haarscharf am Ziel vorbei setzt. Vieles an seinen Worten muss beleidigend klingen. Aber es entspringt dem Unmut eines Bürgers, der Einblick in Zahlenwerke und Berichte hat, die niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, weil sie allzu niederschmetternde Befunde aufweisen würden.
Allerdings: Wenn man mit Mitarbeitern des Neuköllner Sozialamts oder mit Schulleitern aus Wedding spricht, wird man ganz Ähnliches hören können wie das, worüber alle Welt aus den gutgewärmten Redaktionen und zuverlässig bezahlten Funktionärseliten sich jetzt so maßlos, selbstgerecht und selbstgefällig ereifert. Das Empörende ist, dass Thilo Sarrazin das ausspricht, was die Menschen vor Ort, die in den Sozialämtern, Schulämtern, Klassenkonferenzen schier verzweifeln, im stillen Kämmerlein denken. Selbstverständlich ohne es je laut auszusprechen.
Auf Thilo Sarrazin einzuprügeln, weil er sich so weit vorgewagt hat und sich derb im Ton verstiegen hat, wird diese Probleme nicht lösen. Im Gegenteil: Sie werden durch Verschweigen eher noch anwachsen.
Ich fordere also auf, das lange 5-seitige Interview mit Thilo Sarrazin ganz zu lesen, ehe man darüber den Stab bricht. Es ist beileibe keine Volksverhetzung, sondern eine wütende Anklage – und es enthält auch Vorschläge, wie man es besser machen kann.
Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. Thilo Sarrazin im Gespäch. In: Lettre international. Nr. 86, Herbst 2009, S. 197-201
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