Der Gepard von St. Ottilien

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Mrz 092013
 

Zu meinen allerfrühesten Kindheitserinnerungen gehört ein ausgestopfter Gepard im Museum der Missionare von St. Ottilien, der während der Familienfreizeiten meine und meines Bruders Aufmerksamkeit fesselte und mir bis zum heutigen Tage in den Sinn kommt, wenn ich Dantes unsterbliche Verse

„una lonza leggiera e presta molto,
che di pel maculato era coverta“

 halblaut vor mich hin murmele.


Die schlanke schnelle Pardelkatze
bedeckt von getüpfeltem Fell!

Das schnellste aller Landtiere, der Gepard, stand gezähmt, scheuen, in sich gekehrten Blicks vor uns! Was nützte ihm nun seine Schnelligkeit! Wo war die Steppe, wo war die Weite, wo war das Flirren der erhitzten Luft über der Serengeti! Wo jenes unvergleichliche Gefühl, das den Gepard durchströmt, wenn er in 300 oder 400 Meter Entfernung ein Beutetier erahnt und sich dann, geduckt pirschend, immer wieder Witterung einsaugend, zwischendurch endlose Minuten verharrend, sich dem arglosen Tier nähert, das dann, viel zu spät, in einigen wilden Haken vergeblich seinem Schicksal zu entkommen versucht. Ein geheimes Einverständnis scheint zwischen Jäger und Beute zu herrschen, so als wollte das eine dem anderen noch einmal seine ganze Kraft, seine hakenschlagende Geschicklichkeit zeigen, ehe der erlösende Tatzenhieb erfolgt und das Tier, einige letzte Male zuckend, sich dem Biss in die Halsschlagader ergibt.

So schien der Gepard zu träumen. Dies war seine Vergangenheit. Das Tier vor uns schien sich zu schämen, stand stolz aufgerichtet, endlos witternd hinter einer Glasscheibe. Und wir, die Vorschulkinder, waren klüger, lernten die Geschwindigkeiten auswendig, die das schnellste Landtier der Erde zu erreichen vermag, wenn auch nur für wenige Hundert Meter! 112 km/h, das war die Spitzengeschwindigkeit, die das rasch atmende Tier mit weit geöffneten Nüstern für 700-800 Meter durchzuhalten vermochte. Alles entschied sich in diesen wenigen Hundert Metern. Und aufs Ganze gesehen musste der Gepard verlieren. Irgendwann, so dachten wir, würden die Gazellen und Antilopen eine Warnungskette errichten. Dann wäre es aus, irgendwann, in zehn oder 15 Jahren vielleicht. Was sind schon 800 Meter im Vergleich zu 10 oder 15 Jahren! Es gab doch immer jemanden, der langsamer lief und deshalb viel mehr Zeit hatte.

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Die vier schlimmsten Völkermörder der Neuzeit in der Sicht Andrew Marrs von der BBC: Leopold II. von Belgien, Stalin, Hitler und Mao

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Feb 202013
 

„Also, in der BBC-Dokumentation Die Geschichte des Menschen/History of the World, geschrieben von Andrew Marr, produziert von Kathryn Taylor, präsentiert von Dieter Moor, wird Lenin als höflicher Mann dargestellt, der einen Raucher aus dem Abteil bittet, als er im verplombten Abteil von Zürich nach Petersburg gondelt! Und dann wird die Sowjetunion als erster sozialistischer Staat begrüßt! Euer Lenin, das war offenbar ein netter, lächelnder  Mann! So zeigt ihn die BBC!“

Kritische Anmerkungen veröffentlichte ich zur oben genannten Serie. Mir missfiel, dass die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs Deutschland zugeschrieben wird, obwohl doch beispielsweise der österreichische Thronfolger am 28.06.1914 durch serbische Nationalisten ermordet wurde, die ihrerseits wiederum nachweislich durch Russland unterstützt wurden usw. usw.

Andererseits bietet die Serie unglaublich viel anschaulich aufbereitetes oder nachgespieltes Material. So werden die herausgepickten historischen Szenen stets in den Originalsprachen nachgestellt – einschließlich eines altertümlichen Russisch oder des mutmaßlichen historischen Quechua etwa. Ein Genuss, eine Wonne für das Ohr jedes Multikulti-Fans!

Hier geht es zu Andrew Marrs höchst sehenswerter, höchst diskussionswürdiger „History of the World“:

http://www.bbc.co.uk/programmes/p00xnr43

Die deutsche Fassung der Serie „Die Geschichte des Menschen“ findet ihr hier:

http://www.amazon.de/Die-Geschichte-Menschen-3-DVDs/dp/B00AM5RA7Y/ref=sr_1_1?s=dvd&ie=UTF8&qid=1361394766&sr=1-1

Was die vielen großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts angeht, so greift Andrew Marr, ein kühner, gut informierter Laienhistoriker und wissenschaftlich gut gewappneter großer Erzähler, sicherlich nicht fehl, wenn er ausdrücklich Stalin, Hitler und Mao als die größten Völkermörder des 20. Jahrhunderts nennt. Marr hat recht: Europäischer Kommunismus, europäischer Nationalsozialismus und chinesischer Kommunismus haben in den Jahrzehnten von 1917 bis etwa 1980 zweifellos – wie Andrew Marr schlüssig nachweist – die riesigsten Leidens- und Leichenberge hervorgebracht, die in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgetürmt wurden.  Bestreben aller Demokraten, ja aller Menschen überhaupt muss es sein, dass ideologisch aufgehetzte  Gewaltherrschaften wie etwa Bolschewismus, Nationalsozialismus und Kommunismus sich nicht wiederholen.

Sollte man also auch die Verwendung der Symbole dieser fürchterlichen Diktaturen, also die Verwendung von Hammer und Sichel, die Verwendung der rot-schwarzen Hakenkreuzfahne des Nationalsozialismus, die Verwendung der roten Fahne des Kommunismus unter Strafe stellen? Sollte man die Leugnung, Relativierung, Kontextualisierung, Verharmlosung oder Rationalisierung der Massenverbrechen des Kommunismus, des Nationalsozialismus und des Maoismus unter Strafe stellen? Manche Länder – wie etwa Polen oder die Tschechische Republik – tun dies heute, andere – wie etwa die USA –  nicht.

Wiederum andere Länder wie etwa das heutige Belgien stellen ausdrücklich nur die Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus unter Strafe, nicht aber die Leugnung der Verbrechen des österreichischen oder ungarischen Nationalsozialismus oder des italienischen Faschismus oder des sowjetischen Kommunismus. Die Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des österreichischen oder ungarischen Nationalsozialismus oder des italienischen Faschismus oder des sowjetischen Kommunismus ist in Belgien heute ohne weiteres zulässig.

Sollte man der Parole folgen: „Kein Fußbreit den Kommunisten – kein Fußbreit den Nazis!“?

Zweifel sind angebracht! Denn dann würde es genügen, jemanden als ewiggestrigen Kommunisten oder unverbesserlichen Nazi zu verleumden – und er wäre als Mitbürger verfemt.

Welches ist nun aber gemäß der Erzählung Andrew Marrs der schlimmste Genozid der letzten 500 Jahre – Genozid oder Völkermord hier verstanden als in sich räumlich und zeitlich relativ geschlossenen Ereigniszusammenhang der gezielten Vernichtung einer Volksgruppe oder eines ganzen Volkes?

Hier trifft Andrew Marr eine überraschende, gleichwohl irgendwie einleuchtende Entscheidung. Er hebt ausdrücklich die Kolonialgräuel in Belgisch-Kongo als den schlimmsten Völkermord bzw. schlimmsten Holocaust der gesamten Menschheitsgeschichte der letzten 500 Jahre hervor. Etwa 10 Millionen Menschen – unbewaffnete Zivilisten, Dorfbewohner, Frauen, Kinder, Männer, Alte – wurden während der Herrschaft Belgiens über den Kongo zwischen 1888 und 1908 durch belgische und britische Truppen systematisch ermordet oder anderweitig zu Tode gebracht – etwa die Hälfte der gesamten Bevölkerung des damaligen Kolonialgebietes.  Das Land wurde rücksichtslos ausgeplündert. Tausende Dörfer wurden niedergebrannt, Hunderttausenden von Menschen wurden die Hände oder andere Gliedmaßen abgehackt.

In dieser Sicht Andrew Marrs von der BBC sind die belgischen Kolonialgräuel von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert das summum malum – das qualitativ und quantitiv größte Böse in der gesamten Menschheitsgeschichte der letzten 500 Jahre. Allerdings erliegt auch Marr der Versuchung, diese staatlich gedeckte Terrorherrschaft einer einzelnen Person zuzuschreiben – nämlich dem belgischen König Leopold II. Unsere menschliche Psyche braucht offenbar diese Zuschreibung des absoluten Bösen an einen „Teufel in Menschengestalt“, auf den dann die gesamte Schuld abgeladen werden kann – einerlei ob dieser Teufel Leopold II., Stalin, Hitler oder Mao Tse-Tung heißt. Es ist, als hörte man dabei heraus: „Nein, wir Belgier waren es nicht! Es war ein anderer, der uns verführt hat! Es war alles nur der böse König Leopold II. von Belgien!“

Mit schrecklichen Bildern illustriert Marr diese dunklen Zeiten, und deshalb sollte man diese Serie wirklich nicht mit Kindern unter 16 ansehen.

Wenn also König Leopold von Belgien in der Sicht Andrew Marrs gewissermaßen den schlimmsten Verbrecher der neueren Menschheitsgeschichte darstellt, so muss man auch nach den Lichtgestalten fragen! Und auch hier trifft Andrew Marr seine Entscheidung:

Als unbestreitbar größten Wohltäter der Menschheitsgeschichte rühmt der der Brite Andrew Marr ganz ausdrücklich den Erfinder der Pockenimpfung – den Briten Edward Jenner. Einem Briten kommt somit die Ehrenkrone desjenigen zu, der als einzelner Mensch am meisten Gutes bewirkt hat: „Kein einzelner Mensch hat so vielen Menschen das Leben gerettet wie Edward Jenner.“

Womit jene spaßhaft-ironische Zeile bestätigt wird, die wir früher so gern auf Laienbühnen hörten:

The British, the British, the Britisch are best!

Wie dem auch sei: Die packende Gesamtdarstellung der Menschheitsgeschichte endet mit einem bewegenden Hymnus auf die Kraft des Menschen, nicht nur zu überleben, sondern auch gut zu leben, das Gute für sich und andere zu schaffen und zu fördern. Es gibt eben nicht nur die König Leopolds, Stalins, Hitlers und Maos dieser Erde, sondern auch die Eward Jenners. Das Gute wird kraft der überragenden Idee der Freiheit des Menschen zum Guten letztlich immer die Oberhand behalten.

Mit dieser Zuversicht beendet Andrew Marr von der britischen BBC seine kühne Gesamtdeutung. Das Ansehen lohnt sich in jedem Fall für alle Menschen  ab 16!

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Feb 182013
 

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Immer wenn ich meine russischen Gesprächspartner so richtig ärgern will, erzähle ich ihnen die neuesten Schmeicheleien über Lenin, Stalin, Trotzki usw., die die westlichen Medien regelmäßig wieder auftischen: „Also, in der BBC-Dokumentation Die Geschichte des Menschen, geschrieben von Andrew Marr, produziert von Kathryn Taylor, präsentiert von Dieter Moor, wird Lenin als höflicher Mann dargestellt, der einen Raucher aus dem Abteil bittet, als er im verplombten Abteil von Zürich nach Petersburg gondelt! Und dann wird die Sowjetunion als erster sozialistischer Staat begrüßt! Euer Lenin, das war offenbar ein netter, lächelnder  Mann! So zeigt ihn die BBC!“

Die Reaktionen der Russen kann man so zusammenfassen: „Es ist hoffnungslos mit euch Europäern! Wann lernt ihr endlich mal die Geschichte der anderen Hälfte Europas kennen? Hättet ihr Deutschen uns Lenin und seine ganze Banditen- und Verbrecherbande nicht auf den Hals gehetzt, wäre Russland das Schlimmste erspart geblieben! Wir waren vor dem Ersten Weltkrieg auf einem guten Weg! Ihr Deutschen habt euch unentwirrbar als Totengräber des alten Russland schuldig gemacht – durch die Begünstigung der Revolution, aber nicht zuletzt auch durch das famose Waffenbündnis zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion von 1939, das bis August 1941 hielt.  Toll toll toll! Und ihr wollt jetzt nichts mehr davon wissen!“

Derartige Reaktionen zeigen mir, wie völlig unterschiedlich die Geschichtsbilder der Deutschen, der Russen, der Briten, der Polen, der Letten, der Rumänen seit 1945 waren und auch weiterhin sind. Diesem Thema widmet sich auch Arnd Bauerkämper in folgendem Buch:

Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Schöningh Verlag, Paderborn 2012

Das Buch kenne ich leider noch nicht, aber aus der Besprechung, die Wolfram Pyta heute auf S. 8 der FAZ bringt, meine ich erkennen zu können, dass Bauerkämper den vielfach beklagten Befund einer zersplitterten europäischen Geschichtserzählung bestätigen kann. Das historische Gedächtnis ist – wie es die FAZ titelt – „Ein politisch umkämpftes Terrain: Europa konnte nach dem Zweiten Weltkrieg keine einheitliche Erinnerungskultur hervorbringen.“

So wie noch bis ins 17. Jahrhundert jeder Zweifel an der Existenz Gottes bei Strafe untersagt war, so hat sich mittlerweile in Deutschland und im westlichen Europa eine gleichsam theologische, mit strafrechtlichen Verboten bewehrte Dogmatik anstelle einer echten Geschichtserzählung herausgebildet. „Daran, an DIESEM EINEN darfst du nicht zweifeln!“, ist das Motto einer derartigen starren Dogmatik. So wie die scholastische  Theologie mit dem Begriff des Summum bonum, des absoluten Guten, des unhintergehbar Einzigartigen operierte, welches sie in der natura naturans dei erblickte, so bedient sich die gegenwärtige vorherrschende Geschichtstheologie des Summum malum, des absoluten Bösen, des Unvergleichlichen und Einzigartigen, welches sie im Massenmord an den europäischen Juden erblickt.

Diese geschichtstheologische, je „eschatologische“  Dogmatik ist stets durch das Datum des 08./09.05.1945  geprägt. Sie versagt aber meist hoffnungslos dabei, die Zeit vom 28.06.1914 bis zum 22.08.1941 einigermaßen vollständig zu erzählen.

Was tun ?

Ich meine erstens: eine gesamteuropäische Geschichtserzählung muss stärker die Quellen in den östlichen Sprachen einbeziehen. Allein deutsche und englische Bücher zur Kenntnis zu nehmen, genügt nicht. Polnische, russische, rumänische, lettische, finnische, jiddische, hebräische Quellen und solche in anderen Sprachen müssen ebenfalls eingearbeitet werden.

Jede gesamteuropäische Geschichtserzählung muss zweitens auch den realen Kommunismus als mentalitätsverändernde Macht miteinbeziehen. Alle Quellen aus jener Zeit – z.B. Tageszeitungen –  belegen, dass die Oktoberrevolution nach und neben dem Kriegsausgang von 1918 eines der wichtigsten, vielleicht das wichtigste Ereignis war, das damals die Geister und Herzen beherrschte.

Die Massenhinrichtungen, die Gräuel, die Hungersnöte, die erbitterten Bürgerkriege, die zahlreichen kleineren zwischenstaatlichen Kriege, die seit der russischen Oktoberrevolution und insbesondere ab 1921 die gesamte kleinteilige Staatenlandschaft der Osthälfte Europas prägten, müssen auch bei uns in Deutschland oder Frankreich endlich zur Kenntnis genommen und ins Geschichtsbild eingefüttert werden!

Drittens: Immer nur an Nationalsozialismus, Faschismus und Weltkrieg zu erinnern, reicht nicht aus. Man muss auch an den Kommunismus, an seinen ab 1918 entfesselten unbändigen Terror, an Bürgerkriege und an Hungersnöte, an Zwangsumsiedlungen und Deportationen, an das Kulakenelend im Osten der Ukraine, an die Zwangssäkularisation der Muslime in den ab 1921 annektierten Gebieten der Sowjetunion, an die Ausplünderung und Zerstörung der Klöster und Kirchen in Russland erinnern. Wenig hilfreich ist es, stets und dogmatisch alle Verbrechen des Kommunismus nur Stalin und dem sogenannten „Stalinismus“ in die Schuhe zu schieben. War etwa Lenin, der höfliche Massenmörder, ein Stalinist? So weit wird und sollte sich niemand versteigen, der sich auch nur oberflächlich mit der russischen Geschichte vertraut gemacht hat!

Hier sollte man viertens auch die zeitliche Abfolge nicht verwischen: Der linke, auf Gewalt, Terror, Massenverbrechen gestützte Kommunismus kam zuerst, er ist das Prius für jede Befassung mit den auf ihn folgenden Massenbewegungen der rechtsnationalistischen, auf Gewalt, Terror, Massenverbrechen gestützten Strömungen in fast allen damals noch nicht kommunistischen Ländern Europas.

Dabei bleibt es selbstverständlich unbenommen, dass es eine nette höfliche Geste ist, wenn man zum Rauchen das Eisenbahnabteil zu verlassen bittet. Nicht alles ist böse, was der höfliche Lenin gesagt und gemacht hat.

 Posted by at 15:55

„Co zburzył ogień Twego gniewu, Boże, łaska Twa odbudować pomoże“, oder: Wo sind eigentlich die Sorben von Žarow geblieben?

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Dez 122012
 

„Ich bin die Tochter einer aus dem Osten vertriebenen polnischen Mutter“ – „Und ich bin der Sohn eines aus dem Osten vertriebenen deutschen Vaters“. So entspann sich kürzlich ein Gespräch unter strahlend blauem Himmel inmitten der fröhlich zwitschernden Tierwelt eines Zoos, das ich standesgemäß mit einigen polnisch vorgetragenen Zitaten der Satire „Der Elefant“ von Sławomir Mrożek würzte:

Kierownik ogrodu zoologicznego okazał się karierowiczem. Zwierzęta traktował tylko jako szczebel do wybicia się. Nie dbał także o należytą rolę swojej placówki w wychowaniu młodzieży.

Dieses Gespräch mit einer Polin kam mir gestern wieder in den Sinn, als ich las, wie Deutschland mal wieder treuherzig und einfältig damit beschäftigt ist nachzuweisen, dass – so wie in allen Parteien von CDU bis SPD/SED, in Gerichten, in Schulkollegien, in Berufsverbänden – eine bedeutende Zahl von Verbandsfunktionären des BdV auch durch frühere Mitgliedschaften belastet war. Bundestagsvizepräsident Thierse beeilt sich mit seiner Forderung nach einer „nachhaltigen und gründlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte“. Zum wievielten Mal wird diese Forderung erhoben? Und was kann eigentlich an substantiellen Erkenntnissen noch daraus hervorgehen?

„Co zburzył ogień Twego gniewu, Boże, łaska Twa odbudować pomoże„. In der alten Stadt Sorau, dem alten Sorbenstädtchen ŽŽarow in der Niederlausitz,  lasen wir diesen Spruch in deutscher Sprache hoch oben in der Wölbung der Pfarrkirche. In alten Postkarten, auf alten Bildern ist die Vergangenheit Soraus noch fassbar, etwa in den deutsch geschriebenen Worten einer Postkarte von 1908: „Mit herzlichen Grüßen von Kirchplatz 7“.

Im offiziellen Kirchenführer der Pfarrkirche, dessen Kosten auch die Europäische Union großzügig mitträgt, findet sich weder im polnischen noch im deutschen Teil ein Verweis auf den alten sorbischen Ortsnamen  ŽŽarow, geschweige denn auf den deutschen Namen Sorau. Żary, der nach dem Krieg und nach den Vertreibungen der Sorben und Deutschen verordnete neue polnische Name, wird ausschließlich verwendetganz im Sinne des Mythos, dass dies uralter polnischer Boden sei.

Es ist hier in Żary genauso wie in Kappadokien in der Türkei, wo ebenfalls nirgendwo an die vertriebenen Griechen erinnert wird und nur noch die griechischen Inschriften in den Felsenkirchen davon erzählen, dass hier im Herzen der heutigen Türkei einst jahrhundertelang blühendes griechisches Leben herrschte.

Ich habe das wieder und wieder bei allen meinen Reisen nach Polen und in die Tschechische Republik erlebt: die ehemals deutsch besiedelten Gebiete erinnern sich offiziell noch fast nicht ihrer früheren Bewohner. Die gewaltsamen Vertreibungen der Sorben, der Juden, der Deutschen, der Polen  kommen nicht vor, sind noch kein Bestandteil des Gedächtnisses. Die jahrhundertealte deutsche zivile Vergangenheit in Städten wie Breslau, Troppau, Sorau, Stettin,  Königsberg, Riga usw. wird in der deutschen, der polnischen und der tschechischen Öffentlichkeit fast  völlig abgedunkelt. In den Städten des ehemaligen deutschen Ostens werden heute von den Nachfolgegesellschaften einige Jahrhunderte deutscher Geschichte nahezu komplett verleugnet. Das entstehende, höchst unvollständige Geschichtsbild ist geprägt von falschem nationalistischem Pathos und Illusionen. Das wird jeder bestätigen, der  imstande ist, Polnisch und Tschechisch zu lesen und zu verstehen. Dass hier in den Städten der Niederlausitz bis 1946 einmal Sorben und Deutsche lebten, dass die Mehrheit der Bevölkerung bis 1946 Sorben und Deutsche waren und fast ausschließlich Deutsch sprachen, wird versteckt und verheimlicht. Von den millionenfachen Ausbürgerungen und den Vertreibungen der Bevölkerung in den Jahren 1939 – 1946 wird nicht geredet, sehr viel aber von der angeblichen „Wiedergewinnung des polnischen Bodens“, der vorübergehend, gewissermaßen irrtümlich, „eingedeutscht“ worden sei.

Ich habe mich oft gefragt, warum gerade die deutsche Gesellschaft so unempfindlich ist gegenüber dem Leid, das den polnischen, deutschen, sorbischen Vertriebenen in den Jahren 1939-1946 widerfahren ist, unempfindlich mindestens soweit es die Deutschen betrifft. Warum die Deutschen so gar nichts mehr wissen wollen von den städtischen Zentren in Schlesien, in der Lausitz, in Böhmen und Mähren, die jahrhundertelang deutsch sprachen, deutsch geprägt waren? Wohl etwa deshalb, weil diese heute so lästigen Vertriebenen fast ausschließlich Kinder, Alte und Frauen waren und der ständigen Revanchismus-Beschuldigungen und der wütenden, oft wahnhaft verzerrten Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit überdrüssig sind?

Die heute noch lebenden Vertriebenen, diese damals minderjährigen Kinder, die heute noch lebenden Frauen wollen nichts anderes als in ihren Gefühlen und Erfahrungen angenommen werden. Genau das fehlt, genau das wird ihnen wieder und wieder von maßgeblichen Politikern der deutschen und der polnischen Seite wie etwa Wolfgang Thierse verweigert. Es herrscht ein unausgesprochenes Schweigegelöbnis: Du sollst nicht fragen. Du sollst nicht wissen. DU SOLLST NICHT MITTRAUERN.

Diese nahezu komplette Auslöschung der Erinnerung an die frühere deutsche und sorbische und jüdische Bevölkerung  im heutigen Westpolen und auch in Tschechien beginnt schon bei der fast völligen Auslöschung der alten sorbischen, schlesischen und deutschen Ortsnamen.

Es ist insgesamt ein trauriger Befund. Der im Jahr 2004 verstorbene Pfarrer Tadeusz Kleszcz, der den Wiederaufbau der Sorauer Pfarrkirche – freilich ohne Wiederherstellung der originalen deutschen Inschriften – bewirkte, findet einfach keine Ruhe, wie uns die heutigen Bewohner von Żary raunend erzählen: sie berichten, dass er des Nachts umgehe, als wollte er eine Botschaft verkünden.

Ich meine: Solange in Deutschland, Polen und Tschechien eine derartig lückenhafte Erinnerungsunkultur gepflegt wird, kann der Pfarrer Kleszcz keine Ruhe finden. Und darauf, auf dieser Unkultur des Lückengedächtnisses, kann auch keine von den Herzen getragene Europäische Union erwachsen. Der Euro wird es auch nicht schaffen, die Europäer zusammenzuführen. Polen leistet doch ohnehin Hervorragendes in seinem marktwirtschaftlichen Wiederaufbau, der innerhalb des Euro sicher nicht möglich gewesen wäre.

Die echte Versöhnung zwischen Völkern kann nur über das freie, erlösende Wort erfolgen. Sie setzt Ehrlichkeit und Eingeständnis nicht nur der von Deutschen verübten Verbrechen, sondern auch der von anderen Staaten und anderen Völkern verübten und gedeckten Verbrechen voraus. Und dazu gehören die grausamen Vertreibungen von etwa 12 Millionen Deutschen nach dem Ende des 2. Weltkrieges.

Erst kürzlich brachte der amerikanische Historiker R. M. Douglas das Thema in seinem Buch „Orderly and Humane“ wieder auf die Tagesordnung, das Thema der Vertreibungen der Deutschen und Ungarn nach dem 2. Weltkrieg, das er das am besten versteckte Geheimnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts nannte.

Wir Deutschen müssen einsehen lernen, dass wir nicht die absolut zu setzenden Urheber aller Verbrechen in der qualvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind, wie es leider von Deutschen selbst, darunter dem Bundestagsvizepräsidenten  Thierse, allzu oft stillschweigend unterstellt wird.  Die Deutschen waren und sind  nicht allein die erste Ursache des Bösen. Die Geschichte ist ein Elephant! Sie vergisst nicht so leicht, auch wenn betrügerische Zoodirektoren wie der Kierownik  in der Satire von Sławomir Mrożek alles tun, um den Zuschauern und der unreifen Jugend etwas vorzugaukeln. Aber dieser Zoodirektor benutzt die Tiere, das Unfertige, Ungebärdige, Umtriebige der Erinnerung nur, um sich selbst seine Karriereaussichten zu verbessern!

Wie lautet nun der verlorene, ursprünglich  deutsche Spruch im Gewölbebogen des Lettners der Pfarrkirche von Sorau?

Wie Dein Zornfeur  reißet nieder
Deine Gnade bauet wieder
was gebauet/walte drüber

2. Maii: 1684

Literatur:

Stanisław Kowalski: Kościół Farny w Żarach, Żary 2007, hier bsd. S. 23 und 29
Sławomir Mrożek: Słoń. In: Norbert Damerau: Langenscheidts Praktisches Lehrbuch Polnisch, Berlin und München 1967, S. 134ff. [=Lektionen 26-30]

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Nov 272012
 

Immer wieder höre ich derartige Sätze: „Also, wir Deutsche haben gar keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Zwar stimmt es, dass auch Stalin einiges auf dem Kerbholz hat, aber am schlimmsten ist und bleibt der Holocaust. Am schlimmsten sind und bleiben die Nationalsozialisten, also die Faschisten, also die Deutschen. – Die Deutschen sollen deshalb mal ganz schön stillhalten.“

Kein Zweifel: Der Holocaust wird häufig in den ehemals westlichen, außerhalb des kommunistischen Machtbereichs liegenden Ländern Europas stillschweigend als absoluter, negativer Ursprungsmythos des heutigen Europa ausgegeben. Claus Leggewie nennt ihn deshalb treffend und offenbar ganz ernst gemeint einen „negativen Gründungsmythos Europas„. Der Holocaust ist singulär und beispiellos für unser Land, beispiellos für Europa, beispiellos für die Weltgeschichte. Jeder, der die Beispiellosigkeit des Holocaust auch nur im Mindesten anzweifelt, die Einzigartigkeit des Holocaust, die Zentralität des Holocaust relativiert, sieht sich dem Verdacht der Verkleinerung, des Revisionismus, der Kontextualisierung ausgesetzt. Selbst ein Zweifel am zutiefst religiös aufgeladenen Begriff „Holocaust“ wird nicht mehr zugelassen, verfällt dem Anathema des strafrechtlich bewehrten Holocaustleugnungsverbotes.

Und die zwischen 1885 und 1908 10 Millionen durch belgisch-europäische Truppen bestialisch ermordeten, die im Dschungel verstümmelten Afrikaner im belgisch beherrschten Kongo? Ist dieses Massenverbrechen nicht ebenfalls beispiellos? Und die beispiellose Mordserie der Zwickauer Terrorzelle mit 10 Ermordeten in weniger als zehn Jahren? Hatte Bundeskanzlerin Merkel denn etwa nicht Recht, als sie diese Mordserie „beispiellos für unser Land“ nannnte?  Und die beispiellose Kreuzberger Serie an Ehrenmorden hier um die Ecke an muslimischen Frauen durch ihre eigenen Brüder und Ehemänner in den Jahren 2007 bis (vorläufig)  2012 – ist sie nicht auch einzigartig? Oder zählt ein Mordopfer der Zwickauer NS-Terrorzelle mehr als ein Mordopfer der Familien, die Ehrenmorde beauftragen? Und die Giftgasangriffe der Italiener im besetzten Abessinien – waren sie nicht auch beispiellose Verbrechen für unseren Kontinent?

Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat es immer wieder gelehrt: WER DIE HERRSCHAFT ÜBER DIE BEGRIFFE ERREICHT, DER WIRD AUCH DIE POLITISCHE MACHT ERRINGEN. Das ist das Streben nach der hegemonialen Herrschaft im Reich des Geistes, von dem neuerdings die Grünen Baden-Württembergs ebenfalls beseelt sind.

In diesem Sinne bemühen sich starke gesellschaftliche Kräfte, das Attribut der Einzigartigkeit für den Holocaust und für die deutschen Massenverbrechen  zu beschlagnahmen. Punktsieg für die Kriegsgegner des Deutschen Reiches von Sowjetunion bis USA, Punktsieg auch für die ehemals zahlreichen Verbündeten des Deutschen Reiches – zu denen auch – was nur wenige wissen –  bis 1942 das unbesetzte Frankreich gehörte.

Ein später Sieg der Kommunisten über die Nationalsozialisten ist es auch ganz offensichtlich, dass die beispiellosen Verbrechen der Kommunisten heute weithin unter dem Eitikett „Stalinismus“ zusammengefasst werden.

Dabei spricht alles gegen diesen personalisierten Begriff! Warum? Ein Beispiel muss her!

„Die Polen müssen vollständig vernichtet werden.“ So lautet ein gut dokumentierter handschriftlicher Befehl eines führenden sowjetrussischen Kommunisten. Klarer Fall von Stalinismus, möchte man meinen! Also – ein klarer Fall von eliminatorischem Völkermord, diesmal gerichtet auf die Ausrottung der polnischen Minderheit in der Sowjetunion! Handschriftlich erteilt im Jahr 1937 vom NKWD-Chef Nikolai Iwanowitsch Jeschow. Wie üblich wurden diese Befehle durch Massenerschießungen umgesetzt. Eine zweistellige Millionenzahl von inneren Feinden wurde von den Kommunisten aufgrund derartiger schriftlicher, gut dokumentierter Befehle in den Jahren 1917 bis 1953 in Massenerschießungen hingerichtet. Für all diese Gräuel hat sich nach 1956 zunehmend der Tarn- und Verhüllungsbegriff Stalinismus durchgesetzt und wird heute in den westlichen Ländern (nicht in den ehemals besetzten Ländern) weiterhin ohne kritische Fragen treugläubig verwendet, übrigens auch von dem hier zitierten Claus Leggewie. Die Vernichtungsbefehle gingen dabei keineswegs alle von Stalin aus, im Gegenteil, manchmal unterband Stalin sogar den Massenmord während der „Jeschowschtschina“, also der „Jeschow-Zeit“. Nicht Stalin, sondern Jeschow wurde damals als Hauptverantwortlicher der Massenmorde entmachtet und von der kommunistischen Parteiführung hingerichtet wie Hunderttausende andere auch.

Claus Leggewie fragt deshalb, ob Nationalsozialismus und Stalinismus gleichermaßen verbrecherisch seien. Im Licht der heute weitverbreiteten Holocaust-Theologie gilt: Die Frage muss verneint werden. Denn da der Holocaust durch den Nationalsozialismus verübt wurde, der Stalinismus hingegen nur durch Stalin verursacht wurde – und da der Holocaust als negativer Gründungsmythos Europas qua definitionem einzigartig ist, und da drittens Stalin – wie der Name schon sagt – Urheber der stalinistischen Verbrechen ist, trifft das damals kommunistische Land und auch die an sich gute Idee des Marxismus-Leninismus keine Schuld! Stalin ist letztlich an allem schuld. Und da Stalin tot ist, kann der Stalinismus sich nicht wiederholen, der Friede ist gesichert, der Kommunismus kann weiterhin ausprobiert werden. Der singuläre Rang des Holocaust bleibt auf alle Zeiten gesichert.

Alle Anstregungungen müssen gemäß der Holocaust-Dogmatik darauf gerichtet sein, dass der Holocaust sich nicht wiederholt. Alle anderen beispiellosen Massenverbrechen sind zweitrangig, sogar die beispiellose NSU-Mordserie der unvorstellbar grausamen Nazi-Zwickauer  Terrorzelle gewinnt ihre abscheuliche, teuflische Wucht nur deshalb, weil sie von Nazis verübt wurde. Der RAF-Terror der Baader-Meinhof-Gemeinschaft hat zwar weit mehr Morde ausgeführt und hatte im Gegensatz zur NSU-Terrorzelle ein klares Programm und eine erkennbare Propaganda, wie es sich für echte, reinrassige Terroristen geziemt,  war aber definitorisch weit weniger schlimm, da er nur von deutschen Linksterroristen, nicht von deutschen Rechts-Terroristen verübt wurde. Ganz zu schweigen von der fundamentalistischen Terrorserie der Kreuzberger Ehrenmorde. Diese Ehrenmorde sind definitorisch-dogmatisch nicht so schlimm wie die NSU-Morde, da sie weder von Nazis noch von Deutschen verübt worden sind.

Dies ist – knapp zusammengefasst – das Grundprinzip der negativen Theologie des Holocaust.

Dies ist ein stillschweigend akzeptiertes Dogma, das ich für das Gegenteil historischer Erkenntnis halte.  Es ist sogar ein fürchterlicher Unsinn, dem Teile der Soziologen und Geschichtspolitiker wie etwa Claus Leggewie aufsitzen. Schlimmer noch:  Unterschwellig durchherrscht dieses Dogma noch die heutigen Verhandlungen über die Euro-Krise: „Da die Deutschen am allerschlimmsten gehaust haben, sollen sie jetzt aber mal im Dienste des lieben Euro-Friedens schön die Füße stillhalten und zahlen.“  Diese Grundhaltung werden außer Dienst stehende Politiker wie Helmut Schmidt oder Martin Bangemann jederzeit erneut bestätigen.

Zum Weiterlesen:
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011, hier bsd. S. 14, S. 72, S. 144-151
Jörg Baberowski: Verbrannte Erde, München 2012, hier bsd. S. 350

Bild: Blick auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, den zentralen Erinnerungsort für den negativen Gründungsmythos Europas

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„Ich bin stolz, ein Türke zu sein!“

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Nov 142012
 

Der erst 24 Jahre junge deutsch-türkische Schauspieler Burak Temir bekennt sich in der New York Times offen zu seinem Stolz auf sein Türkentum. Er trägt auch im Privatleben den Bart nach osmanischer Sitte und die osmanischen Salvar-Hosen, die traditionellen Pluderhosen. „It makes me proud to be Turkish – es lässt mich stolz darauf sein, Türke zu sein.“

Ein junger Deutsch-Türke entdeckt seinen Nationalstolz und bekennt sich stolz und selbstbewusst zu seinem Volkstum.

Das Wiedererstarken des osmanischen Nationalstolzes ist nicht nur in der Türkei selbst, sondern auch in der starken, stetig anwachsenden türkischen Gemeinde in Deutschland ein verblüffendes Phänomen.   Kein anderer Film zog so viele Deutsch-Türken in die Kinos wie Fetih 1453 – das filmische Epos über die Eroberung des damals christlich-griechischen Konstantinopel durch den erst 22 Jahre jungen Sultan Mehmet II. Etwa 10% aller Deutschtürken dürften laut Ticketverkaufszahlen das blutrünstige, weltweit erfolgreiche Heldenepos gesehen und im nationalen Stolz auf die Eroberungstaten ihrer Vorväter geschwelgt haben.

Die New York Times berichtet von Aufführungen, in denen das Publikum bei der Eroberung der schier uneinnehmbaren, 16 m hohen Wallmauern des damals griechischen Konstantinopel „Allahu akbar“ ausgerufen habe. Das ist arabisch und bedeutet „Gott ist groß“. Die Sieg über das griechische Konstantinopel wird im Jahr 2012 in aller Öffentlichkeit in den Kinosälen als Fingerzeig Gottes gefeiert, als Sieg des stolzen Islams über das schwache, dekadente abendländische Christentum.

Auch die von den Seldschuken im Jahr 1071 gewonnene Schlacht von Manzikert taucht neuerdings  wieder in türkischen Politiker-Reden und Feiern auf. Der Kemalismus, also das persönliche, religionsähnliche Einschwören aller Türken auf den großen unsterblichen Führer der modernen, laizistischen Türkei nimmt in der Türkei allmählich ab. Der Osmanismus nimmt zu wie ein zunehmender Mond! Die islamische Türkei besinnt sich auf die uralte militärische und kulturelle Stärke der alten vorderasiatischen Eroberervölker, beschwört die siegreichen Schlachten, in denen der christliche Westen besiegt, erobert und unterworfen wurde. Die unterschwellige Botschaft scheint zu sein: Setzt die Eroberungen fort. Ihr habt viel Zeit. Schaut mal her, wie lange es von 1071 bis 1453 gedauert hat! Erobert Deutschland, aber werdet keine Deutschen. Erobert Europa, aber bleibt gute Moslems. Bleibt auch nach Siegen tolerant gegenüber den unterworfenen Christen und Juden! Besinnt euch auf die uralte Tugend der Schonung des unterworfenen Gegners. Erinnert euch der humanitären Großtaten eurer Väter, die jahrhundertelang den verfolgten Juden Zuflucht und Schutz vor blutiger Verfolgung und Vertreibung durch die Christen gewährten! Denkt nicht in Jahren, denkt nicht in Jahrzehnten, denkt in Jahrhunderten! 1071 – 1453 – 2071!

Was ist der Unterschied zwischen der politischen Kultur Deutschlands bzw. der Europäischen Union und der Türkei?

Die offizielle Türkei bezieht neuerdings Kraft und Stärke auf die Besinnung auf militärische und kulturelle Großtaten, auf blutige Schlachten und prachtvolle Bauten, auf Toleranz und Großmut und Schonung des Feindes, mit denen die kulturelle Überlegenheit der Seldschuken, der Osmanen, der Türken und der muslimischen Völker  über das Abendland nachgewiesen wird.  In der Türkei kann auch nach der Reform des Paragrafen 301 des Jahres 2008 weiterhin jeder bestraft werden, der die unteilbare türkische Nation verunglimpft oder die Integrität der staatlichen Grenzen antasten will. Dies ist das einzige relevante Meinungsdelikt, das das türkische Strafrecht kennt. Eine Abspaltungsbewegung – etwa durch die 20 bis 25 Millionen Kurden – wird die Türkei niemals hinnehmen.

Deutschland hat dem fast nichts entgegenzusetzen außer der kulturellen Selbstverleugnung (wir wollen alle sein wie Pippi Langstrumpf) und der Pflege des Gedenkens an die zahlreichen Massenverbrechen, die die Deutschen von 1933-1945 begangen haben. Deutschland bosselt und baut unermüdlich weiter an seiner negativen Auschwitz-Theologie.  In Deutschland kann jeder bestraft werden, der den religiös überhöhten Holocaust, also den Inbegriff des Bösen, begangen vom Trägervolk des Bösen, also den Deutschen und nur den Deutschen, kontextualisiert, relativiert, leugnet. Dies ist das einzige politisch relevante Meinungsdelikt, das das deutsche Strafrecht kennt. Abspaltungsbewegungen – etwa „Wir Bayern wollen los von der Bundesrepublik“ – werden belächelt, aber nicht bestraft. Deutschen-Bashing, Christentums-Bashing ist in Deutschland voll OK. So wie man vor vielen Jahrhunderten im Abendland für Gotteslästerung bestraft werden konnte, kann man heute für Relativierung, Kontextualisierung oder gar – horribile dictu – Leugnung des Holocaust bestraft werden. Der Holocaust ist das factum absolutum der deutschen Geschichte.

So wie für die Christen die Kreuzigung und Auferstehung des Juden Jesus von Nazareth, also der „Monokaust“, die Tötung eines einzelnen, historisch benannten Menschen  der Kristallisationspunkt ihrer positiv nach vorn, in die Zukunft gerichteten Identität im Glauben geworden ist, droht der jüdische „Holokaust“ – das rituell-religiöse überhöhte Ganzopfer –  zum Kristallisationspunkt der prinzipiell negativ definierten deutschen Identität  zu werden. Diese rückwärtgewandte, der Kontextualisierung enthobene Fixierung auf die Vergangenheit lähmt die Eigenkräfte, bannt die Menschen im Selbstzweifel, verhindert Wachstum und Kultur, verhindert Schaffung des Neuen und Gestaltung der Zukunft.

Quelle:
Dan Bilefsky: On Screeen and Off, A New Turkish Pride. The New York Times International Weekly, Monday, November 12, 2012, page 6

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Herzlich willkommen bei uns im KZ-Land!

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Okt 252012
 

Ein Besuch in der brandenburgischen Stadt Hennigsdorf führte mir kürzlich vor Augen, wie Deutschland seine Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit sieht: Breit, machtvoll und beherrschend empfängt den unvorbereiteten Touristen sofort beim Verlassen des Bahnhofs die Inschrift KZ.  Ein Blick, der einen trifft wie ein Hammerschlag.

Vor wenigen Tagen führte mich mein Weg durch das Rathaus Schöneberg. Eine Gruppe von etwa 10-jährigen Schülern besichtigte gerade unter gedämpfter Belehrung durch den Lehrer eine Gedenkausstellung über jüdische Mitbürger, die Nachbarn waren und dann von der Gestapo abgeholt worden waren. Eine von tausend Szenen, in denen allen Kindern in Deutschland bereits sehr früh Scham und Schande der deutschen Vergangenheit eingeflößt wird. Die Kinderseelen verbinden mit dem Wort „Gedenken“, mit dem Wort „Deutschland“ von Anfang der Schulkarriere an ein tiefes, nagendes, wühlendes Schuldgefühl, mit dem sie dann allein gelassen werden.

Zehn oder 12 Jahre später sehen wir dann die Ergebnisse dieses Sperrfeuers der Pädagogik des Schreckens: Eine De-Identifikation mit Deutschland, ein verhuschtes, graues Männerbild, eine kollektive Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung, die keinerlei Grenzen mehr kennt. Eine hochgefährliche Pädagogik, wie ich finde, die da auf Kinderseelen im Alter von 10 oder 12 Jahren niederbricht, gefährlich, weil sie unvermittelt in brutalen deutschen Nationalismus und brutalen deutschen Antinationalismus umschlagen kann.

„Deutschland verrecke“ – eine klare Ansage in Friedrichshain, breit hingepinselt auf dem Dach, nicht minder kriminelle Volksverhetzung  als das „Juda verrecke“ der bösen 12 Jahre.

Ich bin sogar überzeugt, dass die rituelle Konzentration auf die negative Theologie der ewigen Auschwitz-Schuld der Deutschen den rassistischen Verbrechen von Neonazis Vorschub leistet.

Denn wenn das Kind von früh an erfährt, dass die Deutschen das böseste Volk der gesamten Menschheitsgeschichte sind, kann dies auch zur paradoxen Identifikation mit dem Bösen führen. „Alle sagen, dass wir böse sind. Na – dann seien wir es eben!“

Der deutsche Politiker Cem Özdemir hat einmal von seiner Einbürgerungsfeier erzählt, bei der er fast der einzige gewesen sei, der sich über den endlich erreichten Status eines deutschen Bürgers habe freuen können. Andere Deutsche warnten ihn: „Hast du dir das auch gut überlegt?“

Der Kabarettist Fatih Çevikkollu sagt es so:

„Du wächst hier auf und kommst zu dem Punkt, an dem du „ja“ sagst zu dem Land, und dann stellst du fest, du stehst allein da. Deutschland ist gar nicht mehr angesagt. Und wenn du jetzt noch den berühmten Integrationsgedanken zu Ende denkst, merkst du, der funktioniert gar nicht. Du sollst dich an ein Land anpassen, was sich selbst gar nicht will.“

Die Gedenkstättenlandschaft hier in Berlin wächst unaufhaltsam – allerdings wachsen diese Wüsten des Bösen nur in Deutschland. Nirgendwo sonst hat ein Volk eine derart beherrschende Neigung entwickelt, die eigene Geschichte ganz überwiegend als Inbegriff des Bösen zu sehen. Was steckt dahinter? Das Kalkül, dass die anderen Völker dann wieder ganz lieb zu uns sind, wenn wir wieder und wieder den Status als Verbrechervolk hervorkehren? Und Deutschland steht mit seinem Kult der Schuld und der Schande wirklich einzigartig da! Weder erkenne ich irgendwo ein Denkmal für die etwa 20 Millionen verstümmelten und ermordeten, vertriebenen Opfer der belgischen Kolonialherrschaft, noch hat Kuba ein Denkmal für die in KZ eingesperrten Homosexuellen erichtet, noch hat Russland ein Denkmal für die gedemütigten und entrechteteten Nachbarvölker errichtet, die es jahrhundertelang knechtete. „Russland ist ein Siegervolk. Das steckt in unseren Genen.“ Die Türkei hat das İnsanlık Abidesi in Kars, das Denkmal zur Erinnerung an die vertriebenen und ermordeten Armenier, im Jahr 2011 gleich ganz beseitigt, sonnt sich im Gefühl der siegreichen Schlacht von Manzikert (1071), der Eroberung von Konstantinopel (1453), in denen das ewige türkische Volk das ihm zustehende Land in Besitz nahm, mit Blut tränkte, Fremdvölker unterwarf.  Die Italiener besuchen liebend gern das KZ Auschwitz. Dass es in Jugoslawien, etwa in Rab, auch italienische KZs gab, dass die Italiener 1935 massenmörderische Giftgasangriffe in Abessinien niederbrechen ließen, wird den italienischen Kindern und Jugendlichen nicht gesagt. Italiani brava gente! Weiterhin wird geflissentlich verschwiegen, welch bestialischer Bürgerkrieg zwischen den Italienern innerhalb Italiens nach dem Waffenstillstand vom 03.09.1943 ausbrach.

Die Gedenkstättenlandschaft wächst! Weh dem, der noch Gutes sinnt oder ein gutes Haar an der deutschen Geschichte lässt! Weh dem, der noch ein Denkmal für etwas Schönes fordert. Das Nichtzustandekommen des Berliner Freiheitsdenkmals spricht Bände!

Das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma ist eröffnet, endlich, viel zu spät! Sinnvollerweise müssten wir aber dann auch allen Opferkategorien Gerechtigkeit widerfahren lassen: den Polen, den Russen, und vielen vielen anderen Opfergruppen.

Zu recht fordern Polen jetzt ein ähnlich repräsentatives Denkmal für die nichtjüdischen polnischen Opfer der Deutschen, wie es die Juden Europas bereits besichtigen dürfen. Platz in der städtischen Brache Berlins ist genug! Doch damit nicht genug! Wann werden die Russen endlich ihr angemessenes Denkmal in Berlin bekommen? Immerhin verloren etwa 20 Millionen Russen ihr Leben durch den verbrecherischen Angriffskrieg, an dem sich reguläre Armeen aus Deutschland, Österreich, Italien, Ungarn, Rumänien und Slowakei beteiligten, der unterstützt wurde von starken Freiwilligenverbänden aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder, darunter auch 200.000 Russen unter Führung des Generals Wlassow.

Wo immer du hinkommst in Deutschland, das Böse empfängt dich. Das ist die Botschaft.

Quellen:

http://www.morgenpost.de/politik/ausland/article110261079/Tusk-Berater-will-Mahnmal-fuer-Polens-Nazi-Opfer.html

Ulrich Schmidt-Denter: Die Nation, die sich nicht mag. Psychologie heute, September 2012, S. 34-37

Bild: Eine typische Stadtlandschaft in Deutschland. Blick auf das KZ-Denkmal in Hennigsdorf.

http://www.psychologie-heute.de/das-heft/aktuelle-ausgabe/detailansicht/news/die_nation_die_sich_nicht_mag

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Sind Kommunismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalismus keine Meinungen, sondern Verbrechen?

 Gedächtniskultur, Krieg und Frieden, Staatlichkeit, Unverhoffte Begegnung  Kommentare deaktiviert für Sind Kommunismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalismus keine Meinungen, sondern Verbrechen?
Aug 192012
 

Soeben schlenderte ich, vom Sonntagsgottesdienst in St. Bonifazius kommend, am Rathaus Kreuzberg vorbei. Schon von weitem empfängt mich ein Meer roter Fahnen, ein großer Bus ist quergestellt, laute Trillerpfeifen ertönen, Sirenen heulen auf, zahlreiche Polizisten versuchen, dieses Meer roter Fahnen, den Bus mit der Aufschrift „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ zu schützen.

Laute Trillerpfeifen, große Fahrzeuge, rote Fahnen mit oder ohne Symbole – das waren Merkmale der beiden Sozialismen des 20. Jahrhunderts, des marxistischen Sozialismus der Räterepubliken, etwa der Sowjetunion, und des nationalen Sozialismus der anderen Staaten, etwa des Deutschen Reiches, der ungarischen, slowakischen, rumänischen Republik. Verwandte Bilder, beklemmend!

Ein paar Schritt weiter sehe ich eine Versammlung von Menschen mit der Deutschlandfahne. Sie stehen für Deutschland. Hier stehen also viele rote Fahnen des Sozialismus gegen einige wenige Deutschlandfahnen. Die Polizei schützt die vielen roten Fahnen und die wenigen Deutschlandfahnen. Sie versucht, die Verteidiger der Sozialismen mit den roten Fahnen von den Verteidigern der Deutschlandfahnen fernzuhalten.

Ich schlendere hindurch und mache mir Gedanken. Und formuliere die Frage, die ihr oben lest.

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Jun 142012
 

Einen der genialsten Husarenritte durch die Dilemmata europäischer Erinnerungsdiskurse ritt kürzlich der unvergleichliche Stefano Benni in der „Geschichte von Inclinatus und seinem Denkmal“. Er erzählt darin, was mit einem Denkmal und seiner Inschrift im Laufe der italienischen Nachkriegsgeschichte geschieht. Ein italienischer Widerstandskämpfer – oder war es nur Zufall, dass er zum Widerstandskämpfer wurde? – soll angemessen geehrt werden.

Verschiedene Politiker, verschiedene Generationen können sich weder auf eine äußere Gestaltung noch auf eine Inschrift einigen. Am Schluss bleibt ein kitschiger Springbrunnen übrig, ein lädiertes Artefakt, das keinerlei Widmung mehr enthält. Die Erinnerung hat keinen Text mehr. Das Heldengedenken fällt aus.

Genau um diese Erzählung herum wird morgen ein kleiner Workshop am Italienzentrum der Freien Universität stattfinden:

„Eh, quante storie …!“

Welche Rolle sollen Empathie, Erzählen und  Sprachmitteln in der Sprachdidaktik spielen?

In diesem Workshop wollen wir  das Sprachmitteln als fundamentale, gleichwohl  weithin vernachlässigte Grundhaltung des Fremdsprachenunterrichts in Erinnerung rufen, üben und festigend weitertragen.

Zunächst werden wir anhand einfachster Übungen im bloß zeigenden, vorsprachlichen Handeln diese Grundhaltung des Erzählens und Sprachmittelns leibhaftig verdeutlichen.

Im zweiten Teil werden wir anhand von Stefano Bennis Storia di Inclinato e del suo monumento anspruchsvollere Fragen der Sprachmittlung in etwa auf Abiturniveau bearbeiten. Welche unausgesprochenen, sprachmittelnden  Voraussetzungen sind zum Textverständnis nötig? Welche produktive Rolle  können heiße Eisen – etwa aus Religion und Erinnerungspolitik – für die Sprachmittlung  spielen? Muss Mündlichkeit in der Sprachdidaktik neu gewichtet werden?  Ist übersetzendes Erzählen, übersetzendes Spielen zwischen den Sprachen ein notwendiges Mittel des Lehrens und Lernens?

Materialien:

Selbstbildnis Albrecht Dürers  „Do der gelb fleck ist vnd mit dem finger drawff dewt do ist mir we“ (1528)

Werner Herzog:  Jeder für sich und Gott gegen alle (1974)

Stefano Benni: Storia di Inclinato e del suo monumento, in: Stefano Benni, Pane e tempesta, Giangiacomo Feltrinelli, Milano 2009, Seite 101-114

Stefano Benni: Die Geschichte von Inclinatus und seinem Denkmal, in: Stefano Benni, Brot und Unwetter. Roman. Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012, S. 116-131

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Jun 132012
 

Fleißig und eifrig stricken die deutschen und europäischen Massenmedien an den üblichen Halbwahrheiten in der Darstellung der europäischen Geschichte. Ein beliebiges Beispiel dafür ist die Darstellung der polnisch-russischen Beziehungen. Heute schreibt etwa Spiegel online über das Verhältnis zwischen Russland und Polen:

„Die Situation zwischen beiden Ländern ist seit Jahrhunderten belastet. Warschau hatte während der polnischen Teilung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieg zum Zarenreich gehört und war nach dem Zweiten Weltkrieg bis kurz nach dem Mauerfall 1989 Bestandteil des kommunistischen Sowjetblocks. Für die Russen hingegen sind die Polen undankbar, weil sie vergessen haben, dass es Russland war, das sie von Hitler befreite.

All dies ist den muskelbepackten Halbwüchsigen, die die russischen Fans brutal angreifen, möglicherweise unbekannt. Oder es ist ihnen egal.“

 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/em-2012-polnische-hooligans-randalieren-in-warschau-gegen-russen-a-838504.html

Mein Kommentar: Die Sätze sind zweifellos nicht falsch, aber sie sind eben doch geprägt von Auslassungen und Unterschlagungen. So fehlt jede Darstellung der Jahre vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber genau diese Jahre sind es, die bis heute ganz entscheidend die Unterschiede in den Erinnerungskulturen der beiden Länder Polen und Russland prägen. Bei meinen Gesprächen mit Polen und mit Russen wird mir das immer wieder klar!

Ich schlage hiermit Ergänzungen zu den landläufigen Darstellungen, wie sie etwa der SPIEGEL bietet, vor. Es würde mich freuen zu erfahren, ob die Polen und die Russen mit der nachfolgenden, holzschnittartig vereinfachenden Darstellung und Deutung der Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen in den Jahren 1918-1989 leben könnten – wenn nicht, um so besser. Dann freue ich mich auf Widerspruch!

So würde ich es nach meinen heutigen Kenntnissen ausdrücken:

„Die Situation zwischen beiden Ländern ist seit Jahrhunderten belastet. Warschau hatte während der polnischen Teilung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieg zum Zarenreich gehört“ (soweit der SPIEGEL). Ab hier würde ich ungefähr ergänzen:

Nachdem Polen 1795 als Staat zu existieren aufgehört hatte, wurde endlich am 03.11.1918 die Republik Polen proklamiert. Der russisch-polnische Krieg von April bis Oktober des Jahres 1920 ist einer der zahllosen europäischen Kriege unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die heute vergessen sind. Es gelang Polen dabei, sein Staatsgebiet weit über die Volkstumsgrenzen nach Osten in russisch bewohnte Gebiete zu erweitern. Das Verhältnis zwischen Russland und Polen blieb weiterhin gespannt.

Deutsches Reich und Sowjetunion schlossen am 23.08.1939 einen Nichtangriffspakt und überfielen wenige Tage später, im September 1939, nahezu zeitgleich Polen: zuerst, am 01.09.1939, überfiel Deutschland Polen von Westen her. Dann, am 17.09.1939, überfiel das kommunistische Russland Polen von Osten her. Deutsches Reich und Sowjetunion – also Deutschland und Russland – feiertern am 22.09.1939 ihren gemeinsamen Sieg über Polen auf einer großen Parade in Brest-Litowsk, schlossen am 28.09.1939 einen erneuten deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag, hielten einander den Rücken für weitere Angriffskriege frei und pflegten eine Waffenbrüderschaft, die unverbrüchlich bis zum 21.06.1941 andauerte.

Das nationalsozialistische Deutschland und das nationalkommunistische Russland teilten also Polen im Jahr 1939 in zwei Hälften auf. Deutschland und Russland errichteten ab September 1939 auf polnischem Boden brutale Terrorherrschaften mit Massenmorden an Zivilisten, Ausplünderung der besetzten Gebiete und Vertreibungen von  ganzen Bevölkerungsteilen in andere Gebiete. Deutschland und Russland haben im 20. Jahrhundert den Polen mehrfach die Freiheit geraubt, Massenmorde an polnischen Bürgern begangen, den polnischen Staat zerstört und das Land ausgeplündert. Während die Terrorherrschaft des Deutschen Reiches über Polen im Mai 1945 gebrochen wurde, dauerte die sowjetrussisch gestützte Diktatur der Kommunisten über Polen weiter an. Sowjetrussland hat den Polen auch nach 1945 die Freiheit vorenthalten. Erst im Jahr 1989 gelang es den Polen, sich vom kommunistischen Joch, das Russland ihnen auferlegt hatte, zu befreien.

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Mrz 152012
 

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Von großer, ungewöhnlicher Redlichkeit sind die Worte Joachim Gaucks geprägt. Das bestätigt sich immer dann, wenn ihm von seinen zahlreichen Gegnern, die er ja auch haben muss, etwas vorgeworfen wird, was er nie behauptet hat. „Der war doch gar kein Bürgerrechtler! Der war keiner von uns!„, sagen die zahlreichen selbsternannten „echten“ Bürgerrechtler. Weder saß Gauck in Bautzen ein noch forderte er zum Sturz der SED auf, was übrigens auch die 100% waschechten Bürgerrechtler kaum je getan haben, als es noch richtig gefährlich war.

Gauck soll also zu DDR-Zeiten gewesen kein waschechter Bürgerrechtler von echtem Schrot und Korn gewesen sein.

Richtig! Genau das steht auch in Gaucks Selberlebensbeschreibung. Er schreibt selbst auf S. 212:

„Bis zum Herbst 1989 war ich ein Pastor gewesen, der im kirchlichen Dienst aufging, dabei seinen Jugendlichen, seinen Gesprächskreisen und seiner Gemeinde im Gottesdienst die Wahrheit nicht schuldig blieb – das war in Rostock bekannt-, aber ich gehörte keiner außerkirchlichen Opposition an. Im Herbst 1989 wuchs ich Schritt für Schritt in eine politische Rolle hinein.“

Gauck beschreibt, was er gemacht, gedacht, getan und unterlassen hat. Er stilisiert sich nicht zum waschechten Bürgerrechtler empor. Das sollte man zur Kenntnis nehmen, ehe man Dinge über ihn verbreitet, die er weder gesagt noch getan hat.

Also gilt auch hier wie so oft: Erst lesen, dann denken, dann Dampf ablassen!

Besonders tun sich mit derartiger Schmähkritik an Gauck einige DDR-Politiker mit der Gnade der letzten Stunde hervor, die freilich ebenfalls kaum als waschechte Bürgerrechtler zu bezeichnen sind.  Davon bietet dieser Artikel reichlich Beispiele:

Late Night: Bei Anne Will wird Gauck zum Zersetzer erklärt – Nachrichten Fernsehen – WELT ONLINE

Bild: Wölfe und Raben um einen ruhigen Mann am Themenpfad, Ostseebad Dierhagen, Aufnahme aus dem Juli 2011

Zitat: Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. In Zusammenarbeit mit Helga Hirsch. Pantheon. Siedler Verlag München 2009, S.212

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Mrz 152012
 

Sollten wir uns alle gemeinsam Fetih 1453 anschauen, das monumentale Epos über über die Eroberung des christlich-griechischen Konstantinopel im Jahr 1453? Ich sage: ja, unbedingt! Wir müssen den unbändigen Nationalstolz der Türkei begreifen lernen, müssen verstehen, warum 1453 sie weiterhin mit Freude und Stolz erfüllt! Die Botschaft ist: „Seht her, wir Türken haben Konstantinopel befreit, von der Sittenlosigkeit und Verderbnis des Westens, der Lateiner erlöst!“

Fetih oder Fatih ist heute noch ein beliebter türkischer Vorname, man denkt dabei an den ruhmreichen Sultan Mehmed II., den Eroberer, der 1453 Konstantinopel, das zweite Rom, für die Osmanen eroberte. Unter den mächtigen Schlägen der Konstantinopel-Kanone, die im Stundentakt Kugeln von 550-600 kg auf die Stadtmauer feuerte, brach innerhalb von 2 Monaten der Widerstand der griechisch-christlichen Bewohner zusammen.

Westliche Historiker versuchen selbstverständlich dem Film am Zeug zu kritteln, weisen ihm jede Menge Fälschungen nach. Dem mag ja so sein, dass der Film die historische Realität zugunsten der Türken schönredet.

Ehe man sich aber über Geschichtsfälschungen aufregt, bitte nicht vergessen: Islam heißt Unterwerfung, Ergebung! Das griechisch-christliche Konstantinopel hätte sich doch nur den Türken freiwillig zu ergeben und geschlossen zum Islam überzutreten brauchen, dann wäre der christlichen Stadt die grausame Eroberung mit Waffengewalt erspart geblieben. Schon damals galt: Wer die Waffen streckt und sich unterwirft, rasch die neuen Herren anerkennt und zum Islam übertritt, darf an allen weiteren Eroberungen teilhaben. So erklärt sich der beispiellose Siegeszug des Islam bis weit nach Mitteleuropa und bis vor die Tore Wiens, das sie 1529 und 1683 ebenfalls aus den Klauen der christlich-abendländischen  Herrschaft zu befreien versuchten.

Die Deutschen ergehen sich seit Jahren in ihren rituellen Bußübungen, sie schelten heute den bösen Martin Luther für all das, was er wenige Jahrzehnte später über die Türken vom Stapel gelassen hat. Dass Türken schlicht und ergreifend stolz auf die Eroberung und Unterwerfung dieser zentralen Stadt des untergehenden römischen Reiches sein könnten, widerstrebt sicher den heutigen Deutschen, die statt dessen lieber eine historische Mitschuld für die Vertreibung und den Massenmord an den Armeniern ab 1915 auf sich nehmen.

Um so lehrreicher ist das Betrachten des Films! 1453 hat tiefe Spuren in der westlichen Welt hinterlassen. Die Eroberung des restlichen Europa für den Islam stand unverrückbar auf der Agenda der Osmanen. Mit diesem Programm erreichten sie die Tore Wiens.

Die letzten Griechen verließen übrigens im Jahr 1955 nach den September-Pogromen die Stadt Istambul.

Dass die Türkei mit erneuerter Begeisterung das Datum 1453 feiert und rühmt, lässt tief blicken.

Die Einstellung zu diesem Film ist ein guter Gradmesser für alle, denen die türkisch-deutsche Freundschaft am Herzen liegt.

Man sollte den Film unbedingt anschauen, am besten in gemischten deutsch-türkischen Freundesgruppen! Es lebe die Freundschaft!

 

„Fetih 1453“ gegen „Türkisch für Anfänger“: Monument und Multikulti – Kultur – Tagesspiegel

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Karl-Heinz Kurras und Beate Klarsfeld – die Startschützen der 68er-Bewegung?

 1968, Gedächtniskultur  Kommentare deaktiviert für Karl-Heinz Kurras und Beate Klarsfeld – die Startschützen der 68er-Bewegung?
Mrz 102012
 

„Mit ihrer Ohrfeige haben Sie den Startschuss für die 68er-Bewegung gegeben.“  So redet voller Bewunderung Katja Kipping die Bundespräsidenten-Kandidatin der Linken, Beate Klarsfeld, an.

Ein glanzvoller Treffer, den Katja Kipping da setzt! Eigentlich kam doch bisher dem Stasi-Agenten Karl-Heinz Kurras durch die Ermordung Benno Ohnesorgs die zweifelhafte Ehre zu, am 2. Juni 1967 den Startschuss für die 68-er Bewegung gegeben zu haben.

Werden Kurras, Kipping und Klarsfeld jetzt um den Primat des Startschusses streiten? Ich denke, Kurras und Klarsfeld werden sich schon vertragen. Beide wurden durch die Stasi „gefüttert“.

Sie sollten sich nicht duellieren, sondern sich gemeinsam im Ruhm sonnen, Startschüsse für die 68er-Bewegung gegeben zu haben.

Hinter beiden Startschüssen steckte die Staatssicherheit der DDR.

Präsidentschaftskandidatin Beate Klarsfeld: Nazi-Jägerin im Stasi-Dickicht – Politik – Tagesspiegel
„Mit ihrer Ohrfeige haben Sie den Startschuss für die 68er-Bewegung gegeben.“

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