Jan 022010
 

02012010005.jpg Die drei ersten Tage im Jahr verbringe ich in Augsburg und Dießen. Meine Eltern benötigen von Jahr zu Jahr mehr Liebe, mehr Sorge und Zuwendung.  Wie immer streife ich durch die alten Bücherbestände, greife dies und das heraus. Ein Buch über die Religion in Russland hat es mir besonders angetan. Die beiden Autoren, Thomas Ross und Adolf Hampel, haben Russland in den frühen neunziger Jahren durchstreift und dabei insbesondere das erstaunliche Aufblühen der orthodoxen Christenheit begleitet.

Als wir 2002 unseren Wanja nach orthodoxem Ritus taufen ließen, wurden zugleich auch zwei Erwachsene ganzkörperlich eingetaucht. Und der Teufel, den der Ritus im Westen vermutet, wurde wortreich vertrieben. Kein Zufall, die russisch-orthodoxe Kirche scheint nach dem Zusammenbruch des aus dem Westen stammenden, atheistischen Kommunismus Orientierung und Halt zu bieten.

Unser Bild zeigt eine Skulptur im Park des Augustinums in Dießen am Ammersee. Dort spazierten wir heute vorbei. Warum sitzt denn die Liesel verkehrt herum auf dem Tier? Niemand reitet auf einem Esel mit dem Gesicht nach hinten! Zu Jahresbeginn schaue ich nach vorne! Was steht an?

Ich wünsche mir für Russland das weitere Erstarken einer neuen Mittelschicht, die die Traditionen der Fürsorge, der Bindung an sittliche Werte, wie sie etwa die orthodoxe Kirche liefern kann, mit den tatkräftigen Engagement für Gesellschaft und Staat verbindet.  „In der Wechselwirkung von Mittelklasse und Kirche könnte sich die Rechtskultur entwickeln, der Sinn für Initiative und Verantwortung, ein Mechanismus gewaltfreier Konfliktbewältigung und andere Qualitäten und Strukturen, die Voraussetzung für ein neues, zukunftsreiches Russland sind.“ So schreiben die Autoren auf S. 142 des höchst instruktiven Bändchens.

Ich füge hinzu: Diese „Mittelschicht“, die sollte natürlich nicht hermetisch abgeschlossen sein, keine „Bourgeoisie“, wie das Marx/Engels immer formulierten. Sondern eine Gesellschaft von tüchtigen Aufsteigern, von Chancenverwertern und Neubürgern, die das beste aus ihren Möglichkeiten und Potenzialen machen. Jeder, der will und kann, sollte dazustoßen können. Zusammenwachsen – zusammen wachsen! Das ist mein Motto.

Die Gelegenheiten zum Zusammenwachsen sind günstig. Packen wir sie beim Schopfe!

Quelle: Thomas Ross/Adolf Hampel: Gott in Russland. Ein Bericht. Carl Hanser Verlag, München 1992

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Опять двойка – Wieder Note 2. Wieder ein Fall von Volksverhetzung

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Okt 222009
 

 

Eins der bekanntesten Gemälde des Sozialistischen Realismus ist „Wieder eine Zwei?“ von  Reschetnikow, das ich selbst vor wenigen Jahren in der Moskauer Tretjakow-Galerie hängen sah. Die sehr schlechte russische Schulnote Zwei entspricht unserer deutschen Fünf. In der Seemannssprache würde man sagen: Gefahr im Verzug, alle Mann an Deck! Wie staunte ich aber, als ich dieses Bild in einer sehr gut gemachten Kopie kürzlich in der Berliner Galerie Jeschke-Van Vliet erblickte! Ich war erschöpft, schloss die Augen, und versuchte ein wenig auszuruhen … Irgendetwas weckte mich, ich schlug die Augen auf und näherte mich neugierig, um das Bild ins Auge zu fassen, und wie es der Zufall wollte, wurde ich in ein lebhaftes Gespräch mit drei Betrachtern hineingezogen:

„Dieses Bild zeigt eindeutig den Wert der Freundschaft! Nur bei einem Hund findet der enttäuschte Junge Anerkennung und Liebe, die Menschen wissen ja gar nicht, welches Drama sich in der Brust des Jungen abspielt!“, versicherte ein soignierter Herr, der an seinem singenden Tonfall eindeutig als Italiener erkennbar war. „Wir können alle aus diesem Bild lernen: Auf die Freundschaft kommt es an, Freundschaft ist das Höchste“, fuhr der Italiener fort.

„O nein“, widersprach ihm ein Deutscher. „Gefühle können eine objektiv vorhandene Diskriminierung nicht ausgleichen. Das Bild zeigt offensichtlich einen sozial benachteiligten Grundschüler. Es könnte ein Tschuktsche sein, der aufgrund seines Migrationshintergrundes den Anschluss an die hohen Leistungsanforderungen des sowjetischen Schulsystems verpasst hat. Das Bild ruft offenkundig dazu auf, ihm jede erdenkliche Förderung zu verschaffen: Ganztagsschulen, Förderunterricht in russischer und tschuktschischer Sprache, wahrscheinlich mehr Geld für Bücher und Lehrmittel, interkulturelles Training für die Grundschullehrerinnen, kleinere Klassen! Wir können alle aus diesem Bild lernen! Kein Kind darf zurückbleiben, kein Kind darf im Gefühl belassen werden, es sei selbst an den schlechten Noten schuld!“

Der Deutsche – ich glaube, es war ein Berliner – steigerte sich danach in einen Hymnus auf die kompensatorische Pädagogik hinein, den ich hier weglasse, da er die Lesefähigkeit eines Internet-Lesers überstiege.

„Was redet ihr da für Unsinn!“, schaltete sich mit deutlichem russischem Akzent eine weitere Betrachterin ein. „Ich komme aus der Sowjetunion. Ich habe das ganze Schulsystem der Sowjetunion durchlaufen. Über dieses Bild mussten wir alle, alle, einen Aufsatz schreiben. Von Wladiwostok bis nach Kiew.  Die Botschaft war eindeutig: Du musst lernen! Ausreden gab es nicht. Dieses ständige Lernenmüssen, dieser beständig fühlbare Leistungsdruck hat uns allen sehr gut getan. Wer nicht genug lernte und nicht mitkam, erhielt schlechte Noten. Die schlechten Noten waren ein Ansporn, mehr zu lernen. Euer weichliches Verständnis-Gedöns über ach so benachteiligte sozial Schwache gab es nicht. Stundenlanges Fernsehen war von den Eltern verboten. Es gab jeden Tag Hausaufgaben. Die Hefte mussten peinlich genau geführt werden. Und das alles – wisst ihr was? Es hat uns nicht geschadet! Wir haben – auch als Akademikerfamilien – zu viert oder fünft in Ein-Raum-Wohnungen gelebt, in den sogenannten Komunalnajas.  Nach euren Maßstäben waren wir alle sozial schwach. Aber wir haben alle unsere Abschlüsse geschafft. Wir haben das Abitur gemacht und dann an den Universitäten studiert. Wir haben in der zweiten Klasse im sowjetischen Schulsystem einen weit höheren Leistungsstand gehabt als ihr Berliner in der vierten Grundschulklasse. Und das wohlgemerkt mit über 120 ethnisch verschiedenen Völkerschaften! Die haben alle perfekt Russisch gelernt, jeder Georgier, jeder Tschuktsche, jeder Turkmene konnte dank eigener Leistung aufsteigen und Minister oder Wissenschaftler werden. Hört mir doch auf mit eurem Gejammer von sozial Schwachen! Wo ist euer Selbstbewusstsein? Wart ihr Deutschen nicht mal eine Kulturnation? Wo ist diese Kultur eigentlich geblieben? Kennt ihr noch Schumann, Goethe und Heine? Freud, Marx? Alles vergessen? Kant? Habt ihr euch denn alles vom Hitler vermiesen und zerstören lassen?

O ihr Deutschen! Ihr seid nicht ganz bei Trost! Ihr müsst euren türkischen, arabischen und sonstigen Völkerschaften eines ganz deutlich einschärfen: Lernt richtig Deutsch, studiert, arbeitet, setzt euch auf den Hosenboden, dann erledigt sich das Problem des mangelnden Aufstiegs von selbst. Es wächst sich aus!“

Mein gutes deutsches sozialrealistisches Herz krampfte sich zusammen. Das war ja ein Albtraum! So ein Geschimpfe! Das grenzte ja an Volksverhetzung. „Ihr seid nicht ganz bei Trost!“ Dass ich nicht lache!  Volksverhetzung gegen die Deutschen. Mitten in Deutschland! In Berlin Mitte! Aus dem Mund einer Russin! Durfte man so reden? So herzlos, so voller sozialer Kälte wie diese Russin? Ich wurde nachdenklich. Ich beschloss, diesen kleinen Dialog aufzuschreiben. Denn bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Ganz zuletzt beschlich mich ein Zweifel: Vielleicht hat diese Russin ja recht. Ich bin diesen Zweifel bis heute nicht losgeworden.

Das Bild hängt derzeit in der Galerie Jeschke – Van Vliet: Hinter dem Eisernen Vorhang. Die Kunst des Sozialrealismus. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Bis 30. November 2009, täglich von 11 bis 20 Uhr. Eintritt frei. Krausenstraße 40, Berlin Mitte. Öffnungszeiten täglich von 11 bis 20 Uhr (Dienstag geschlossen).

Der International Herald Tribune bringt heute auf S. 13 eine halbseitige große Besprechung:

Return of a Soviet-Era Genre Lost to Perestroika – NYTimes.com
So in a strange twist of history, just as the avant-garde art banned by the Soviet regime was viewed again, Socialist Realism, discarded so quickly in the late ’80s, may be going though its own renaissance. At least, that is the hope of the Jeschke-Van Vliet Art Gallery, located where the Berlin Wall once stood 20 years ago. For the first time, more than 300 paintings, created between the mid-’20s and the early ’80s have been brought under one roof.

Neben der New York Times und dem International Herald Tribune berichtet sogar die Berliner Morgenpost:

Warum Lenin jetzt mitten in Mitte posiert

Und der Corriere della sera:

 Non solo Lenin, il Realismo socialista visto da Cusani

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Spielerisches Einüben der Revolution

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Jun 192009
 

Kaum etwas ist interessanter als die Polizei der russischen Revolution!  Man kann daraus lernen, dass die Unterscheidung zwischen politischen und gewöhnlichen kriminellen Handungen oft verschwimmt. Denn zweifellos gab es bei den Bolschewisten, den Sozialrevolutionären und all den anderen Revolutionären einige Überzeugte, die etwas für die Besserung der Lage der arbeitenden Klassen tun wollten. Aber ununterscheidbar vermengt mit ihnen waren gewöhnliche Kriminelle, Verbrecher, Bankräuber und auch Berufsrevolutionäre, die ihren Broterwerb aus linksextremistischen Akten schöpften.

Wir berichteten in den letzten Tagen, wie offenbar alte Stasi-Seilschaften immer noch Einschüchterung und Schrecken in Brandenburg und Sachsen verbreiten. Auf Einschüchterung und Schrecken setzen auch zahlreiche unbekannte Täter, die das, was sie für Ausdruck einer Gentrifizierung halten, recht umweltschädlich in Rauch und Staub auflösen.

Neue Stufe der Gewalt: ein weiterer Abgeordneter des Berliner Landtags wird massiv bedroht. Diesmal also, nach Kurt Wansner, ist es Robbin Juhnke. Die taz berichtet:

Artikelseite – taz.de
Vor dem Haus des Berliner CDU- Innenpolitikers Robbin Juhnke im Bezirk Neukölln wurden in der Nacht zu Donnerstag zwei Autos angezündet. In einem im Internet veröffentlichten Bekennerschreiben wurde Juhnke als „Hardliner der Berliner CDU“ bezeichnet. Wenige Stunden vor dem Brandanschlag nahm die Polizei in Friedrichshain zwei mutmaßliche Autobrandstifter aus der linksradikalen Szene fest. Auch dort waren mehrere Autos angezündet worden, nachdem die Polizei eine Hausbesetzung verhindert hatte.

Am selben Tag wird berichtet, dass die Abgeordneten sich uneins sind, ob sie an einer illegalen Besetzung des Tempelhofer Flughafengeländes teilnehmen wollen oder nicht. Sie sind teils für, teils gegen das Brechen des Rechts – das sie selbst erlassen. Kaum je hat eine Kategorie von Politikern einen besseren Beweis ihrer Überflüssigkeit erbracht als diejenigen, die da so lauthals ihre nicht einmal klammheimliche Sympatie für die zu erwartenden kriminellen Handlungen äußern.

Wozu Gesetze verabschieden, wenn die Menschen, die sie erlassen, von der Bindekraft des Rechts nicht überzeugt sind? Es wäre redlicher, sie gäben ihr Mandat umgehend zurück und spendeten die Abgeordnetenbezüge für den Piratensender im Köpi, über den die Sturmtruppen in schwarzen Kapuzenpullovern gesteuert werden.

„Sie rütteln an allen Zäunen, wollen austesten, wie weit sie gehen können, wie lange sie uns an der Nase herumführen können“, so erzählte mir vor wenigen Tagen eine Erzieherin über die Berliner Schulkinder.

Jene Abgeordneten, die ihre Sympathie für Zäuneüberklettern, Häuserbesetzung, Autoabfackeln und ähnliches ausdrücken, scheinen nicht zu wissen, dass sie sich so weitere Heerscharen von anonym vermummten Zündlern und Plünderern heranzüchten. Die die Autos anstecken, werden Zug um Zug weitere Eskalationsstufen erklimmen. Schon wird von ersten Banküberfällen mit Spielzeugpistolen berichtet.

Genau so fing es damals 1976/77 auch an: spielerische Besetzungen, erste Brandanschläge, Banküberfälle mit Spielzeugpistolen … Stünde ein zweiter Lenin auf, er könnte bereits jetzt auf ein reiches Reservoir an einsatzfähigen, zum Äußersten entschlossenen Hilfstruppen zurückgreifen. Dietmar Dath, – schauen Sie, schreiben Sie!

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Mrz 182009
 

„Die Partei gab mir zu verstehen, dass ich mich nicht an die Vergangenheit erinnern und über sie reden darf, wenn ich weiter in Litauen leben und arbeiten will. Meine Eltern soll ich aus der Erinnerung streichen, als ob es sie niemals gegeben hätte.“ So schildert die lettische Ärztin Dalia Grinkeviciute die Aufforderung der KPdSU, nachdem sie ihre Mutter aus einem betonierten Kellerloch in einen sehr schönen Platz am steilen Ufer der Neris umgebettet hatte.

1941 wurde Litauen von der Sowjetunion annektiert. Sofort begannen die Plünderungen und Massendeportationen. Auch Dalia wurde mit ihrer Familie vertrieben, auf die Insel Trofimovsk. Darüber, über diesen Ort schreibt sie: „Hier gibt es nur drei Kategorien: Leichen, Sterbende und Kranke, die vielleicht noch zu retten sind. Wir, die überleben werden, können später Zeugnis für die kommenden Generationen ablegen.“

Lager, Deportierungen, Zwangsarbeit – während das System der tausenden deutschen Lager von 1933-1945 in seiner feinen Verästelung mittlerweile in Umrissen als erforscht gelten kann, herrscht über das im okkupierten Jugoslawien errichtete Lagersystem Italiens und vor allem das der Sowjetunion weitgehend verordnete oder gewollte Unkenntnis. Einer der Gründe mag sein, dass auch nach 1956 weitgehend Totschweigen verordnet wurde. Bis zum Ende der Sowjetunion wurde den Millionen von Opfern des sowjetischen Lagersystems Anerkennung und Ausgleich verwehrt. Die offizielle Version war, Stalin sei an allem schuld gewesen, jetzt müsse man nach vorne schauen. Wer auf der Aufarbeitung der Vergangenheit beharrte, wurde schikaniert, inhaftiert, an den Pranger gestellt und entrechtet.

Es hat gewirkt – von den Verbrechen der Tscheka, des KGB, und der ihnen zuarbeitenden Nomenklatura ist kaum mehr die Rede. Wer die Mauer des Vergessens durchbrechen wollte, der müsste zu Meißel und Axt greifen. Er schüfe ein Buch, das – wie Kafka so schön formuliert hat – zu einer „Axt im Kopf“ wird.

Wem noch nie das Blut in den Adern gefroren ist, der lese heute den großen Artikel über Dalia Grinkeviciute, den Vytene Muschick auf S. 7 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Wir zitieren:

„Mit Meißel und Axt breche ich in den Betonboden ein. Als Papa das Haus baute, dachte er nicht daran, wie schwer sich hier ein Grabplatz für Mama einrichten lässt.“

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Feb 022009
 

… fragte ich ungläubig eine Russin, nachdem wir zusammen in Moskau einen sowjetischen Film aus dem Jahr 1985 betrachtet hatten. In diesem Film bricht ein georgischer Bergbauer mit seinem Enkel zusammen in die ferne Stadt auf, um eine neue Sorte Birnbaum zu beschaffen, die dann in den Obstplantagen im georgischen Bergland angepflanzt werden soll. Sie wandern frohgemut dahin und brechen immer wieder in herrliche georgische Lieder aus, die mich stark an die bairischen Jodelgesänge aus der Heimat meiner Mutter, Berchtesgaden, erinnern. Aber – so wie die Bayern ja auch weidlich Hochdeutsch sprechen – so verständigen sich die Georgier eben auch mit der Außenwelt in einem fließenden, wenn auch nicht akzentfreien Russisch.

Denn bei allem, was man gegen die Sowjetunion einwenden mag: Mindestens hatten die etwa 100 Völker eine gemeinsame Sprache – das Russische. Es war bereits vor der Revolution – auch mit Zwang, also gewaltsamer Russifizierung –  durchgesetzt worden, aber auf längere Sicht erwies sich die gemeinsame Verständigungssprache als großer Vorteil. Es gab eine große Mobilität, sowohl geographisch wie auch hierarchisch. Wer Russisch beherrschte, dem standen bei guter Leistung und bei politischer Gefügigkeit alle Positionen offen. Von daher die große Zahl an Nichtrussen, die es bis in die höchsten Ämter brachten, die in Politik, Wissenschaft und Kultur herausragende Rollen spielten. Man denke nur an den ehemaligen Außenminister Schewardnadse.

Dass man in Moskau Schilder und Hinweise in den verschiedenen 10 oder 12 Minderheitensprachen anbringen würde, würde den Bewohnern wohl eher wie ein Witz vorkommen. Wenn es im Moskauer Park etwa georgische Hinweisschilder gäbe: „Hier keine Grillfeuerchen machen!“, dann würden sie den Russen den Vogel zeigen und fragen: „Für wie dumm und unflätig haltet ihr uns eigentlich? Glaubt ihr denn, wir können kein Russisch?“

Das fiel mir wieder ein, als meine russische Frau vor wenigen Tagen Post von Katrin Lompscher bekam, der Berliner Senatorin. In deutscher und russischer Sprache. Es geht um eine Erhebung zur Lage der deutschländischen Frauen. Zwar lebt meine Frau schon 15 Jahre in Deutschland, dennoch traut es ihr Senatorin Lompscher offenbar nicht zu, dass sie jetzt bereits Deutsch kann. Ein weiterer lustiger Fall: Auch die Parkordnung am Kreuzberg, die Müllordnung in unserem Prinzenbad ist in türkischer Sprache auf den Schildern angebracht. Die Botschaft ist klar: „Der deutsche Staat erwartet nicht, dass ihr Deutsch lernt, vielmehr wendet sich der deutsche Staat in euren Herkunftssprachen an euch. Ihr seid wie Kinder.“ Dasselbe gilt auch für die Bekanntmachung zur Einschulung, die ich ebenfalls Jahr für Jahr in deutscher und türkischer Sprache an den Litfasssäulen finde.

Die Russen in Berlin, mit denen ich spreche, sind fassungslos ob dieses lächerlichen Theaters: „Wie geht ihr mit den Türken um! Ihr verwöhnt sie und — ihr entmündigt sie und uns doch, wenn ihr von denen und von uns nicht verlangt, dass sie und dass wir Deutsch erlernen!“

In dieselbe Kerbe haut auch Seyran Ateş, deren Buch Der Multikulti-Irrtum ich gerade lese. Sie schreibt auf Seite 236: „Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass man die Sprache des Landes spricht, in dem man lebt.“ Wie fast alles, das diese Frau schreibt, so gefällt mir insbesondere auch ihr deutlicher Einsatz für Mehrsprachigkeit.

Schaffen wir Beispiele — in Berlin, in Deutschland — und vielleicht auch in der Türkei? Auch dort tut sich ja vieles, denn es gibt neuerdings sogar einen kurdischen offiziellen Radiosender. Das ist doch schon ein Anfang, der Vater von Frau Ateş würde sich freuen! Denn er ist Kurde, brachte seiner Tochter aber seine Muttersprache nicht bei. Denn Kurden, die gab offiziell es nicht. Das waren die Bergtürken. Von ihnen wurde Assimilation verlangt.

Das Buch gibt es mittlerweile in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe:

Seyran Ateş: Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch. Berlin 2008. Euro 8,95

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Jan 282009
 

dictators013612341.jpg Dietmar Dath sagt dies in seinem jüngsten Interview im aktuellen Spiegel Nr. 5/26.1.09 auf S. 132: „Ein politisches Genie wie Lenin zu erfinden, hätte Marx sich nicht getraut“.

Merkwürdig: Ich stimme dieser Einschätzung Daths aus vollem Herzen zu. Lenin ist ein politisches Genie. Dazu braucht man nur einige Fotos anzuschauen, die ihn beim Agitieren zeigen. Man muss Lenin im Original zu lesen versuchen, man muss diese erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Gewitztheit in allen Schattierungen kennenlernen, um zu würdigen, welch überragendes politisches Genie er war. Lenin kann eigentlich alles: analysieren, agitieren, hetzen, schmeicheln, preisen, verdammen, er kann sich verstellen und er kann sich offenbaren  … und daneben war er imstande, Menschengruppen planvoll zu organisieren, sie mit einem gemeinsamen Vorhaben zu beflügeln. Mit einem Wort: ein Großer Führer, wie es vielleicht im ganzen 20. Jahrhundert nur zwei oder drei gab. Welcher von den Großen Führern mehr Morde zu verantworten hat? Über Generationen hin war man geneigt, Stalin oder Hitler hier die Krone zuzuerkennen.

Aber die neuesten Forschungsergebnisse, die Öffnung der sowjetischen Archive rücken Lenin – trotz einer gewissen statistischen Unterlegenheit in der Zahl der Opfer – nun doch zunehmend in die Champions League der großen Führer ein: Lenin, Stalin, Hitler – diese drei waren die genialen Meister des Wortes und der Waffe, beide erkannten aus einer zunächst hoffungslos scheinenden Minderheitenposition die Chancen, mit denen sie sich innerhalb ihrer Bewegung nach vorne kämpfen konnten. Nachdem sie gewaltsam die Macht innerhalb der Bewegung gesichert hatten, vermochten sie es, durch planvollen Mord und Terror, durch Lagersysteme und durch systematische Propaganda einen Großteil der von ihnen beherrschten Gesellschaften zu ihren Verbündeten zu machen.

Hierzu sei Herrn Dath – sofern er es nicht schon kennt – nachdrücklich das neue Buch des kanadischen Historikers Robert Gellately empfohlen:

Lenin, Stalin, and Hitler: The Age of Social Catastrophe (Alfred A. Knopf, 2007).

Genial bei Lenin ist auch: Bis heute scheinen viele nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass Lenin von Anfang seiner Karriere an auf Raub und Mord, auf skrupellose Ausschaltung seiner Gegner setzte.  Neben der Schreibfeder, neben dem gesprochenen Wort handhabte er über seine gesamte Laufbahn hin mit großem Geschick Gewehre, Bomben, Hinrichtungsbefehle, ab 1917 auch Straflager für Abweichler, Bürgerliche und missliebige Sozialisten.

Genial auch: Nach seinem Tode wurde er im Umfang des Mordens und Henkens noch durch Stalin übertroffen, so dass er im Rückblick geradezu als Unschuldslamm erscheinen mochte. Genial!

Genial auch: Er richtete es so ein, dass bis zum heutigen Tag eine pseudoreligiöse Atmosphäre um seinen Leichnam inszeniert wird. Der Verfasser dieses Blogs konnte sich selbst davon überzeugen.

Genial auch: Bis heute, weit über seinen Tod hinaus, umnebelt dieser große Führer, dieser für alle Zeiten maßstabsetzende marxistische Revolutionär die an den Marxismus Glaubenden mit Gedanken wie etwa „eine Revolution wird nicht mit Rosenwasser gemacht“ (Rosa Luxemburg), oder: „Die Umgestaltung der Welt verläuft nie in kindersicheren Bahnen“ (Dietmar Dath) .

Der Marxist Dietmar Dath plädiert im aktuellen Spiegel dafür: Wir müssen den Sozialismus gemäß den Lehren des Karl Marx noch einmal probieren. Es bedarf mehrerer Anläufe.  Bisher hat es nicht funktioniert. Aber irgendwann wird es schon klappen.

Als Beleg führt Dath die Französische Revolution an. Auch dort seien Ströme von Blut geflossen. Aber heute lebten wir „eher so, wie die bürgerlichen Revolutionäre es wollten“.

Darauf erwidere ich: Es stimmt, ein gewisser Abschnitt nach der Französischen Revolution war ebenfalls durch größte Brutalität, durch Massenhinrichtungen und ähnliches gekennzeichnet. Aber diese Zeit der systematischen Verbrechen, La Grande Terreur,  dauerte nur etwa  2 Jahre, danach kehrten wieder etwas stabilere Verhältnisse ein.

Ganz anders nach den sozialistischen Revolutionen! Bei allen sozialistischen Umstürzen  bedurfte es eines weitaus brutaleren, über Jahrzehnte fortgesetzten Terror-Regimes, um die Macht zu sichern und Stabilität in die Verhaltnisse zu bringen.

Und wisst ihr was? Ich hab was dagegen. Ich hab was dagegen, dass manche – wie der gute, hochgebildete Herr Dath – uns jetzt erneut predigen wollen, der Sozialismus sei eine gute Idee, die bisher nur an der fehlerhaften Umsetzung gescheitert sei. Oder daran gescheitert, dass die Zeit noch nicht reif war. Man müsse DDR und Sozialismus trennen, es könne einen Sozialismus ohne Tscheka, KGB und Stasi geben. Ich erinnere daran: Es hat einige Dutzend Versuche gegeben. Wir brauchen keine weiteren Versuche mehr.

Von diesem entscheidenden Unterschied abgesehen, vertrete ich erneut den Standpunkt, dass die Amerikanische Revolution von 1776, also die Abschaffung der Monarchie und die konsensuell herbeigeführte Einsetzung einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie für uns in Europa das entscheidende Modell abgeben sollte – nicht die Französische Revolution, die im Jahr 1789 kein klar republikanisches Programm hatte. Wenn doch nur ein paar Leute auch in Europa das großartige Buch Barack Obamas über die amerikanische Verfassung, „The Audacity of Hope“ läsen!

Leider herrscht bei den Gläubigen des Marxismus immer noch ein ziemlich beschränkter West-Europa-Zentrismus vor. Was in den vergangenen 200 Jahren in Russland, was in den USA, was in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn geschah, entzieht sich der Kenntnis der meisten Gläubigen. Vielleicht ist dies der Grund: Sie wollen es offenbar nicht wissen, sie reden nicht mit den Überlebenden, sie reisen nicht dorthin, sie kennen die Sprachen nicht.

Ich empfehle die Werke des genialen Führers Wladimir Iljitsch Lenin und des unverwüstlichen Dichters Karl Marx, die Forschungen der Historiker Robert Gellately und Stéphane Courtois und das neueste Spiegel-Interview mit Dietmar Dath der Aufmerksamkeit aller Gläubigen und Ungläubigen.

Danach sollte man sich noch einmal die Frage vorlegen: Was kann Marx heute noch bedeuten? Was heißt linke Politik heute?

 Posted by at 23:32
Jan 212009
 

Die Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten war für mich ein Anlass großer Freude. Umso mehr, als ich mich gerade in den letzten Wochen geradezu Tag und Nacht mit der Geschichte Russlands befasst hatte, eines Landes, das mühsam seinen Weg zu den Idealen der Freiheit, des Rechtsstaates und der Demokratie geht. Zu Idealen also, die in den USA seit 1776 anerkannt werden, für die in allen Generationen Männer und Frauen gekämpft haben. Es sind Ideale, auf die man sich immer wieder zurückbesinnen muss.

Ich las über die vergangenen Wochen Lenin, Rosa Luxemburg, Stalin, Marx im russischen und deutschen Original. Eine bedrückende Lektüre – nicht zuletzt auch deswegen, weil diese Autoren – neben aller berechtigten Kritik an unhaltbaren Zuständen – für den Terror, für Mord an politischen Gegnern eintreten. Noch bedrückender war es für mich zu erfahren, dass gerade in diesen Tagen wieder zwei politische Morde in Moskau geschehen sind. Die Opfer heißen Stanislaw Markelow und Anastasija Baburowa – beide politisch engagiert, beide auf offener Straße erschossen. Das ist verheerend für die politische Kultur des Landes – so wie es auch verheerend in der Weimarer Republik war, wo ebenfalls tausende politische Morde verübt wurden.

Als um so erhebender und begeisternder empfinde ich das, was in diesen Tagen in den USA geschieht.

Übrigens: In den USA ist Religionsunterricht an staatlichen Schulen gesetzlich verboten. Der Staat soll sich nicht in die freie Religionsausübung einmischen und darf deshalb den Unterricht in Religion nicht überwachen. Dennoch – oder gerade deswegen – spielt Religion im öffentlichen Leben der USA ein weitaus größere Rolle als bei uns in Deutschland. Dies wurde gestern bei der Amtseinführung wieder überdeutlich. Der neue Präsident hat sich wiederholt und ausdrücklich als Christ bekannt. Ob die eifrigen Verfechter von „Pro Reli“ dies wissen? Sollten sie noch einmal über ihren Spruch „Es geht um die Freiheit“ nachdenken?

Heute las ich die ersten Seiten von Obamas Buch „Dreams from my father“. Wie schon bei seinen Reden zeigt sich: Er ist ein Meister des Wortes – sowohl geschrieben wie gesprochen. Einer seiner Berater hat im Fernsehen gesagt: „Er ist ein Worteschmied – bosselt tagelang an seinen Reden herum, etwa wenn er sagt: Da ist noch eine Silbe zuviel, das klingt noch nicht …“

Um so neugieriger wurde ich, als ich das Motto seines ersten Buches las: „For we are strangers before them, and sojourners, as were all our fathers.“ Es ist ein Zitat aus der Jüdischen Bibel (dem „Alten Testament“ der Christen), Erstes Buch Chronik, Kapitel 29, Vers 15: „Denn wir sind Fremde vor dir, Menschen ohne Bürgerrechte wie alle unsere Väter.“ So lässt sich der Vers aus der Septuaginta, der griechischen Fassung der Jüdischen Bibel, übersetzen. In Obamas Buch steht „Fremde vor ihnen„, nicht „Fremde vor dir“ … Ich schlage in meiner englischen Bibel nach: „For we are strangers before thee, and sojourners, as all our fathers were.“

Ob nun „vor dir“ oder „vor ihnen“ – Obama hat den ungeheuren Reichtum der Bibel erkannt, beruft sich mehr oder minder deutlich immer wieder auf Grundsätze seiner Religion. Vor allem scheint ihn zu faszinieren, dass die christliche Bibel die lange Geschichte der Schwachen, der Fremden, der Verlierer aufbewahrt. So waren denn seine Bezugnahmen auf Gott in seiner Antrittsrede vollkommen glaubwürdig, glaubwürdig wie die Bezugnahme auf die vielen amerikanischen „Gründerväter“, die ebenfalls aus der Erfahrung von Unterdrückung und Bevormundung kamen. Die Bibel ermöglicht es auf unvergleichliche Weise, sich in die lange Reihe der Ausgestoßenen, der Verlierer, der Bürger zweiter Klasse hineinzuversetzen.

Obama hat es in seinen Worten gestern noch einmal ausgedrückt: Die USA sind die Heimstätte für all jene geworden, die glauben, dass jede und jeder ein Recht hat dazuzugehören – unter der Voraussetzung, dass die Ideale der Freiheit und der Gleichberechtigung allen zugute kommen. Für diese Voraussetzung gilt es Tag um Tag zu kämpfen.

 Posted by at 13:03
Jan 142009
 

Das folgende Interview hätte ich gerne bei meiner Ankunft am Flughafen Schönefeld gegeben:

Johannes Hampel, Sie kommen soeben von Ihrem sechsten Russland-Aufenthalt zurück. Frieren Sie noch?

Im Gegenteil, der Frost ist hier in Berlin kälter als er in Moskau war. Im übrigen hat sich das gesellschaftliche Klima in Russland in den letzten Jahren deutlich erwärmt: Ich sah noch mehr freundliche Menschen als früher, der Kontakt zu Unbekannten war sehr herzlich. Auch die früher so gestrengen Aufseherinnen in den Museen lächeln jetzt schon. Man muss nur anfangen.

Was halten Sie vom Gasstreit zwischen Ukraine und Russland?

Ich kenne die tatsächliche Lage nicht. Ich stütze mich auf das, was ich im Lande hörte, sah und las. Mein Eindruck ist, dass Russland in diesem Fall klar erkennt, dass jede Lieferverzögerung den Interessen Russlands schadet. Ich glaube nicht, dass Gazprom den Konflikt künstlich hochschaukelt.

Was sagten Ihre Gefühle zur Gegenwart Russlands?

Es ist atemberaubend: Wenn man sein Russlandbild auf die untergegangene Sowjetunion stützt, wird man das Land nicht wiedererkennen! Das Land hat einen kompletten Systemwechsel vollzogen. Der Markt hat Wohlstand gebracht, letztlich wird die Marktwirtschaft sehr viele Gewinner bringen. Daran werden auch breite Schichten der Bevölkerung Teil haben.

Was wünschen Sie sich von den Deutschen in ihrer Haltung gegenüber Russland?

Sehr viel! Wir Deutschen müssen erkennen, dass Russland aus dem Westen, insbesondere aus Deutschland, keine Belehrungen braucht.  Die Deutschen haben immer noch ein zu stark von Vorurteilen belastetes Russlandbild. Ein großer Fehler ist es, das heutige Russland mit der Sowjetunion gleichzusetzen. Das Land hat 70 Jahre unter dem Kommunismus gelitten, es hat sich jetzt entschlossen zur Marktwirtschaft bekannt und zu einer parlamentarisch-föderativen Demokratie gewandelt. Sie können den Archipel Gulag und jede Menge kritische Literatur in allen russischen Buchhandlungen kaufen. Wer hätte das vor 25 Jahren zu träumen gewagt!

Was denken die Russen über Deutschland?

Gegenüber den Deutschen hegen die Russen keinen Groll. Eher sind sie enttäuscht, dass die Deutschen nicht erkennen wollen, welch großen Anteil sie an den russischen Katastrophen hatten: Das Deutsche Reich hat 1914 Russland in einen Krieg gezogen, den es so wohl nie gesucht und gewollt hätte. Deutschland hat dann die Bolschewiki im Ersten Weltkrieg finanziell und materiell unterstützt, um Russland von innen zu schwächen. Es hat damit dem alten Russland einen doppelten blutigen Stoß versetzt und eine welthistorische Revolution mit unabsehbaren Folgen ermöglicht. Mittelbar hat Deutschland eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, dass eine kleine Truppe von Berufsrevolutionären ein ganzes Land unterjochen und über Jahrzehnte hinweg eines der fürchterlichsten Terror-Regime errichten konnte, das Millionen von Opfern in der eigenen Bevölkerung gefordert und Lebenschancen bei allen zerstört hat. Die Russen binden einem das nicht auf Schritt und Tritt auf die Nase. Aber sie wissen um diese Zusammenhänge.

Aber damit nicht genug! Im Zweiten Weltkrieg, den Deutschland entfesselt hat, wurden in Russland die meisten Toten niedergemäht. Mehr als 20 Millionen Tote sind durch deutsche Kampfhandlungen und von Deutschen verübte Massaker an der Zivilbevölkerung in Russland zu beklagen. Die Sowjetunion hat umgekehrt den größten Anteil an der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland erbracht und damit für uns Deutsche die Befreiung vom Nationalsozialismus zu entscheidenden Anteilen ermöglicht.

Es ist völlig unangemessen, wenn wir Deutschen den Russen irgendwelche Ratschläge geben wollen, wie sie ihre Vergangenheit bewältigen sollen.

Bietet denn die europäisch-russische Vergangenheit nur dunkle Schatten und Schrecken?

Keineswegs! Ich meine: Wir müssen zunehmend auf die Zeit vor 1917 zurücksehen. Auf die große gemeinsame europäische Kultur. Friedrich Schiller war einer der Leitsterne für Puschkins Freiheitskampf, Adam Mickiewicz war ein geistiger Bündnisgenosse Puschkins. Polen, Russen und Deutsche fanden zusammen im Medium des Wortes, der Malerei, der Musik. Überall in Europa standen damals die Zeichen auf mehr Freiheit, mehr Demokratie, mehr Bürgerrechte.  Dass es nicht so gekommen ist, lag vor allem an den herrschenden Eliten, die nichts mehr schützten als ihre eigenen Privilegien. Das gilt in Deutschland wie in Russland, für das Kaiserreich und für das Zarenreich.

Ihr Wort zur Außenpolitik?

Außenpolitik sollte interessegeleiteter Umgang von Staaten miteinander sein. Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Rationalität sind unabdingbar. Schuldzuweisungen, moralische Überheblichkeit, emotionsgeladene Vorurteile, wie sie gerade jetzt wieder aufblühen, halte ich hingegen für schädlich. Noch schädlicher wäre es, den Zusammenhalt der noch jungen russischen Demokratie durch Kritik an inneren russischen Zuständen schwächen zu wollen. Kritik, die sich häufig nur auf Urteile aus zweiter Hand stützt.

Worin sehen Sie Gefahren? 

Gegenwärtig droht die Gefahr, dass Russland sich von allen anderen Ländern unverstanden und abgelehnt fühlt. Ich stelle öfters eine gewisse Trotzreaktion fest, als dächten die Russen: „Ihr wollt nicht mit uns reden? Nun denn – La Russia farà da sé – Russland wird allein seinen Weg finden.“ Dieses hielte ich für keine gute Aussicht. Und wir müssen uns vorschneller Urteile enthalten. Erfahrungen mit den Menschen im Hier und Jetzt sind das A und O.

Wie schaffen wir eine gute gemeinsame Zukunft?

Ich meine: Wir sollten die russische Demokratie fördern, indem wir uns das Land ansehen, häufig dorthin reisen, mit den Leuten reden und den Kontakt zur russischen Gemeinde in Deutschland suchen. Vertragliche Beziehungen in der Wirtschaft sind eine wichtige Stütze. Daneben kommt den russisch-deutschen Familien eine große Verantwortung zu. Notfalls, wenn es mit der Sprache nicht klappt  – mit Händen und Füßen gestikulieren, mit einem Lachen, mit Musik und einem Glas Tee und jeder Menge zakuski – Leckereien.

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Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg

 1917, Kinder, Lenin, Rosa Luxemburg, Russisches, Sozialismus, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Wir wollen werden wie Lenin – Liebknecht – Luxemburg
Jan 102009
 

Diese Überschrift lese ich heute in einer Ausgabe des Kämpfers. Das Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk Ruhrgebiet, liegt druckfrisch vor mir. Ein Foto zeigt „unseren toten Führer Lenin als Kind“: ein heller, aufgeweckter Bub von etwa 6 Jahren blickt uns da an. Fröhlich schaut er nicht drein, sondern eher gesammelt, aber doch mit einem unleugbaren Charme ausgestattet! Wir merken gerührt: Auch die großen Männer der Weltgeschichte waren einmal Kinder wie du und ich.

Der Artikel im Jungen Pionier, der Jugendbeilage des Kämpfers, rühmt Lenin, Liebknecht und Luxemburg mit folgenden Worten:

„Wladimir Iljitsch Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren drei große Führer der Arbeiterklasse. Sie setzten ihr Leben ein im Kampf um den Sozialismus. Sie kämpften für die Befreiung der Arbeiter und Bauern aller Länder.  Ihre Namen und ihre Taten sind unvergeßlich und werden nie verlöschen, solange Menschen auf Erden leben. Genosse Iljitsch schuf mit den russischen Arbeitern und Bauern die Partei der Bolschewiki, die unter seiner Führung im Kampf um den Roten Oktober, die Fahne mit Hammer und Sichel für immer auf dem Kreml zu Moskau setzte.“ 

So weit zitieren wir aus dem Kämpfer, der Zeitung der KPD vom 30. Januar 1933. Höchst verdienstvoll ist das verlegerische Unternehmen, eine ganze Reihe von Zeitungen aus dem Jahren 1933-1945 nachzudrucken. Die Reihe heißt ZEITUNGSZEUGEN. Heute fand ich die erste Sammelausgabe am Kiosk. Sie enthält je eine unveränderte Ausgabe des kommunistischen Kämpfers, der gemäßigt-konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung und des nationalsozialistischen Angriffs.

Ihr habt vielleicht bemerkt, dass ich mich kürzlich vor dem Lenin-Mausoleum und dem Kreml fotografieren ließ und dieses Foto am 31.12.2008 in dieses Blog setzte. Schaut genau hin! Die Fahne mit Hammer und Sichel weht entgegen der Vorhersage des Kämpfers nicht mehr auf dem Kreml, sondern sie wurde mittlerweile durch die neue Staatsflagge der Russischen Föderation ersetzt. Das Mausoleum mit dem einbalsamierten Leichnam Lenins wird aber weiterhin mit der gleichsam sakralen Würde für Besucher offengehalten, wie dies in den Jahren der Sowjetunion geschah.

Bei meinen Diskussionen mit deutschen Kommunisten hörte ich des öfteren ungefähr folgende Auffassung: „Der Stalinismus beging grobe Fehler. Gewisse Verbrechen in den dreißiger Jahren kann man nicht leugnen. Aber der Ansatz Lenins war gut. Leider nahm die UDSSR nach seinem Tod einen anderen Gang, als er gewollt hatte.“ Im Klartext: Lenin gut – Stalin böse. Der Stalinismus wird als Fehlentwicklung und Verirrung gesehen. Lest bitte beispielhaft hierzu den Artikel im Neuen Deutschland vom heutigen Tage. Besprochen wird darin eine neue vierbändige Gesamtdarstellung:

Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität 1918/19 bis 1946. 4 Bände. Hg. v. Klaus Kinner (mit Elke Reuter, Ruth Stoljarowa, Günter Benser, Hans Coppi, Gerald Diesener, Wladislaw Hedeler u. a.). Karl Dietz Verlag, Berlin

Wir zitieren aus der Rezension im Neuen Deutschland:

Diese Geschichtsdarstellung bricht radikal mit dem Stalinismus in der Parteigeschichtsschreibung. Damit wird endlich eine alte Aufgabe erfüllt. Es geht nicht ohne Schmerzen ab, wenn der Leser präsentiert bekommt, welche furchtbaren Wirkungen der Stalinismus auf die deutsche Arbeiterbewegung hatte, wie er diese strategisch völlig fehlorientierte, wie er viele ihre Kader verfolgte, moralisch verlumpte und ermordete. Der Abschnitt über den Hitler-Stalin-Pakt 1939 lässt die Haare sträuben.

Stalin, so erfährt heute jeder Moskau-Tourist, wurde aus dem Mausoleum entfernt und an einen weniger ehrenvollen Platz in die Kremlmauer umgebettet. Wie sieht nun die heutige russische Sicht auf Lenin aus?

Ich ziehe hierzu das mir vorliegende, vom russischen Bildungsministerium empfohlene  Lehrbuch Istoria Rossii, 5., überarbeitete und ergänzte Ausgabe, Moskwa 2008, heran. Autoren: A.A. Danilow, L.G. Kosulina, M.Ju. Brandt.

Mein Gesamteindruck: Dieses Schulbuch wendet sich entschieden von einer personalisierenden Geschichtsschreibung ab. Zwar wird die Rolle einzelner Politiker durchaus gewürdigt, doch herrscht insgesamt eine funktionale Sicht auf historische Abläufe vor. Eine der Grundfragen scheint zu sein: Welchen Weg nahm Russland, um von einem rückständigen, agrarisch geprägten Reich mit unzureichenden Entwicklungschancen für die Industrie zu einem modernen Nationalstaat zu werden? Wie verlief die Modernisierung Russlands? Zahlreiche Einzelphänomene, die aus sowjetischer Sicht bis 1990 geleugnet oder ausgespart wurden, werden von den Autoren ausdrücklich erwähnt, so etwa der Rote Terror ab 1918 auf ausdrückliche Anordnung Lenins, die massive Repression unter Stalin – und der GULAG. Vor einer einseitig moralisierenden Darstellung hüten sich die Autoren jedoch bei diesen Darstellungen ebensosehr wie vor einer dämonisierenden oder heroisierenden Schilderung des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland.  Abkehr von Personalisierung, von Heroisierung und Dämonisierung – Hinwendung zu einer funktionalen Analyse mit besonderer Berücksichtigung des Problems der gewaltsamen Modernisierung – mit diesen Formeln fasse ich meinen Gesamteindruck von diesem und anderen Büchern zusammen.

Als Beispiel sei herausgegriffen das Kapitel über den Roten Terror ab 1918, auf S. 113. Am 30. August 1918 wurde Lenin bekanntlich bei einem Attentat schwer verletzt. Die Sowjetmacht griff daraufhin verstärkt zum Mittel der systematischen Einschüchterung der Bevölkerung – zum Roten Terror. Wir zitieren wörtlich aus dem Schulbuch: „Der Terror war massiv. Allein als Reaktion auf den Anschlag auf Lenin erschoss die Petrograder Tscheka nach offiziellen Feststellungen 500 Geiseln.“

Der bereits unter Lenin einsetzende Rote Terror wird an anderer Stelle, nämlich durch die russische Wikipedia so definiert und durch entsprechende Fotos dokumentiert:

Кра́сный терро́р — массовые репрессии как против ряда деятелей аристократии, офицерства, буржуазии, интеллигенции, священников[1], деятелей оппозиционных партий, лиц сочувствовавших и причастных Белому делу, так и против мирного населения проводившиеся большевиками в ходе Гражданской войны в России. Согласно Постановлению СНК РСФСР от 5 сентября 1918 «О красном терроре», красный террор ставил перед собой задачу освобождения республики от «классовых врагов» и, согласно документу, физического уничтожения, «расстрела всех лиц, прикосновенных к белогвардейским организациям, заговорам и мятежам»

Wir fassen unsere Einzelbeobachtungen zusammen:

1. Die in Deutschland mitunter noch vertretene Meinung, erst unter Stalin sei der systematische Terror mit Massenhinrichtungen, willkürlichen Verfolgungsmaßnahmen und Straflagern zum offiziellen Mittel der kommunistischen Politik geworden, wird unter Historikern in Russland selbst nicht mehr aufrechterhalten. Richtig ist vielmehr: Bereits unter Lenin wurde Terror in der Sowjetunion systematisch eingesetzt und auch schriftlich als Parteidoktrin verkündet. Damit wird auch die Meinung, der Stalinismus sei eine Verirrung, eine tragische Fehlentwicklung gewesen, die erst nach dem Tode Lenins eingesetzt habe, kaum mehr zu rechtfertigen sein. Soweit die großen Führer der Arbeiterklasse ab 1918 in Deutschland der russischen Sprache mächtig waren und Kontakt nach Moskau hielten, werden sie diese Tatsachen schwerlich übersehen haben.

2. Von einer übertriebenen Personalisierung historischer Abläufe scheint die heutige russische Geschichtsschreibung zugunsten einer eher funktionsorientierten Interpretation geschichtlicher Abläufe abzurücken.

3. Die in der heutigen deutschen Presse mitunter erhobenen Vorwürfe, in Russland sei derzeit eine Verharmlosung oder Leugnung der Verbrechen des Stalinismus im Gange, halte ich für irreführend. Sie lassen sich mit Verweis auf die tatsächlich in Russland geführten Diskussionen widerlegen.

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Jan 082009
 

istoria_2.jpg Vorweg ein Bekenntnis: Ich bin ein „Revisionist“. Ich meine damit, dass unsere Geschichte – also die Gesamtheit an Erzählungen, Haltungen und Überzeugungen, mit denen wir Vergangenheit deuten und weitergeben – von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag weitererzählt und umerzählt werden soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bewertung von Regierungsformen. Ich selbst bin von Kindheit an als überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie erzogen worden. Diese Bundesrepublik Deutschland, in der wir leben, habe ich immer für einen Staat gehalten, der den persönlichen Einsatz aller Bürger verdient. Ich habe deshalb beispielsweise auch ohne zu zögern den Wehrdienst in der Bundeswehr angetreten. Mit dieser Hochschätzung der demokratisch-freiheitlichen Verfassungen ging für mich immer einher eine Abwehr und Geringschätzung alles monarchischen Denkens. Ich empfand oft, dass der vielfach gebeutelte Kontinent Europa mit seinen gekrönten Häuptern – salopp gesagt – viel Unglück erlebt hat, vor allem im 19. Jahrhundert. Es gibt ja auch, statistisch gesehen, kaum eine Weltgegend, in der mit so wenigen Unterbrechungen Herrschaftsverbände und Staaten kriegerisch übereinander hergefallen sind, wie eben unser ach so gepriesenes Europa unter der Herrschaft seiner Fürsten – von dem immerwährend Kriege anzettelnden Karl dem Großen bis zu den Zeiten eines Kaiser Wilhelm II. und eines Zar Nikolaus II. Die vielgerühmten Menschenrechte sind erstmals durch die republikanischen Staaten anerkannt und durchgesetzt worden.

Aber auch hier gilt es, Licht und Schatten genauer zu verteilen! Grob vereinfacht muss man sagen: Nicht alles, was die Könige, Zaren und Fürsten ins Werk gesetzt haben, war schlecht. Eine rein moralische Sichtweise hilft beim Verständnis nicht immer weiter. Dieser Schluss drängt sich einem auch auf, wenn man aktuelle Schulbücher der Geschichte, wie sie heute in Russland verwendet werden, durchsieht. So wird sich zwar wohl kaum etwas Günstiges über die dreifache Teilung Polens in den Jahren 1772-1795 sagen lassen. Sogar die Teilungsgewinnlerin Maria Theresia klagte bereits 1772: „Treu und Glauben sind auf alle Zeiten verloren!“

Aber die an diesen Teilungen beteiligte Zarin Jekaterina II. wird in den neuesten Schulbüchern der Geschichte, die ich mir aus Russland nachhause mitgebracht habe, überwiegend als kraftvolle Reformerin gesehen – ja geradezu als eine Art Vorbild für entschlossenes Regierungshandeln hingestellt. Russland sollte nach dem Willen Jekaterinas ein moderner Rechtsstaat mit einer effizienten Verwaltung werden. Dieses Vorhaben findet zumindest in den von mir eingesehenen Büchern die erkennbare Zustimmung der Schulbuchverfasser. Das Titelblatt ihrer „Instruction für die zur Verfertigung des Entwurfs zu dem neuen Gesetz-Buche verordnete Commißion“ ist in dem neuesten, 2009 erschienenen Lehrbuch der Weltgeschichte von G.B. Poliak und A.N. Markova sogar zweisprachig abgebildet – und zwar in einer deutsch-französischen Ausgabe.

Auch hier ist die Botschaft dieses Bildes klar: Russland suchte damals unter Führung der Zarin den Anschluss an die gesamteuropäische Staatenwelt des aufgeklärten Absolutismus. In dieser Absicht konnte sich die Zarin aber nur bedingt durchsetzen. Auch sie war, nicht unähnlich einem demokratisch gewählten Regierungschef, auf Zustimmung angewiesen – Zustimmung vor allem des Adels, den sie nur durch freigebige Privilegien, etwa durch Landgewinne, stillstellen konnte. Diesem Zwecke mochte auch die Einverleibung der polnischen Ländereien dienen.

Nationale Erwägungen spielten damals im Kalkül der Herrscher noch keine wesentliche Rolle. Jekaterina, die Bewundrerin Voltaires,  sah sich ebensowenig als „Russin“ oder „Deutsche“ wie sich Friedrich II. als einen „Deutschen“ betrachtete. Man dachte und handelte in Begriffen der dynastischen Macht und der rationalen Steuerung von Herrschaftsverbänden.

In den Begriffen einer vorwiegend moralischen Politikauffassung wird man der Verurteilung der polnischen Teilungen, wie sie die Zeitgenossin Maria Theresia und natürlich die Polen selbst ausgesprochen  haben, unbedingt zustimmen! In pragmatischer Hinsicht wird man aber versuchen müssen, das Machtkalkül, das dahinter steckt, zu verstehen. Und man wird der Zarin den Willen zur „Modernisierung“ eines riesigen Reiches nicht absprechen können.

Genau unter diesem Blickwinkel – Modernisierung, Schaffung eines Rechtsstaates, Durchsetzung einer effizienten, nicht korruptionsanfälligen Staatsverwaltung durch konsequente Reformen – genießt die „Deutsche auf dem Zarenthron“ heute offenkundig in der an den russischen Schulen gelehrten Geschichte hohes Ansehen.

Hier sind zwei Seiten aus dem genannten Schulbuch mit dem Abdruck der Instruction:

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Kunst des Portraits: „So sollt ihr mich sehen!“

 Europäische Galerie, Mären, Russisches  Kommentare deaktiviert für Kunst des Portraits: „So sollt ihr mich sehen!“
Jan 062009
 

Eine Kunst, die weitgehend verlorengegangen ist, konnte ich letzte Woche ausgiebig in der Tretjakow-Galerie bestaunen: die Portraitmalerei. Niemand behauptet, dass die gemalten Portraits realistische Abbilder der Dargestellten wären – viel besser! Sie zeigen die Personen so, wie sie der Maler sah, oder wie sie sich selbst zu sehen wünschten, oder wie andere, etwa die Auftraggeber sie sahen. Umgekehrt sollten diese Bildnisse auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen zurückwirken. Besonders fesselnd fand ich das Dostojewski-Bildnis von Perow – und das hier zu sehende Portrait Katharinas II. von Fedor Rokotov.

Rokotov zeigt die Zarin auf eine Art, wie sie für Herrscherbildnisse der damaligen Zeit eher ungewöhnlich war: nicht erhaben, statuarisch, wuchtig-gedrängt, nicht in starrer Herrscherpose, sondern als nach außen gewandte, buchstäblich auf Augenhöhe wirkende, klug anweisende Gebieterin. Das Bild strahlt Weltzugewandtheit, ja sogar Sympathie aus. War Katharina II. so? Vermutlich werden mindestens die Polen einhellig sagen: „So war sie nicht, sie hat unser Land bedenkenlos drei Mal aufteilen lassen! Sie war eine Machtpolitikerin, die Allianzen zu ihrem eigenen Vorteil schmiedete.“

Dem ist zu erwidern: Solche Portraits zeigen Machthaber in einer unlösbaren Verquickung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein.

Und heute? Heute liefern die Fotografen ähnlich kalkulierte, auf Wirkung berechnete Portraits. Aus tausenden von möglichen Bildnissen wählen Auftraggeber und Dargestellte die wenigen Aufnahmen aus, in denen sie sich am vorteilhaftesten dargestellt glauben. Dabei bleibt nichts dem Zufall überlassen.

Und dies bringt mich zu meinem heutigen Buchtipp! Ich empfehle den neuen Fotoband über Wladimir Putin den Kommunikationsabteilungen aller Politiker. Ich fand das Buch in einem der Moskauer Buchläden, die ich in müßigen Stunden durchstreifte.

Der ehemalige Staatspäsident wird hier ebenfalls „auf Augenhöhe“ abgelichtet. Das Buch ist damit Lichtjahre entfernt von dem distanzierten, auf Würde und Respekt ausgerichteten Stil der Herrscherportraits früherer Jahrzehnte. Klickt auf das Foto, um es genauer zu betrachten.

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Wir sehen Putin mal versonnen, mal lächelnd, mal entschlossen, – doch stets in gewinnender Haltung dargestellt.

Auch die Bildtitel und die gesamte Aufmachung haben es in sich: Die Macher haben den Band nämlich wie eine Art privates Fotoalbum angelegt, mit eingelegten Zwischenrahmen, die auf die Fortsetzung und Aufdeckung des ganzen Fotos neugierig machen sollen. Auch haben sie nicht versäumt, kleine, gleichsam hingetuschte Kommentare einzufügen, so wie es Privatmenschen gerne in ihren Familienalben machen. Die Wirkungsabsicht ist klar: „Schaut her, mit mir kann man reden, ich höre zu, ich habe Humor!“

Besonders beachtlich: dieses Doppelportrait mit der deutschen Kanzlerin.

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Der Text lautet übrigens: „Angela Merkel gefällt es, etwas AUF RUSSISCH zu erklären. Nur manchmal noch – mithilfe von Gesten.“ Ein klares Signal geht von diesem Foto aus: Lasst uns miteinander reden – wenn es sein muss, auch mit Händen und Füßen.

 Posted by at 23:11
Jan 062009
 

25122008004.jpg Was hält uns in Europa zusammen? So fragten wir in diesem Blog im vergangenen Jahr. Unsere vorläufige Antwort: Es ist nicht klar. Wir wissen es nicht so recht. Und wenn wir es wüssten, müsste es laut und deutlich gesagt werden.

Was hält politische Gemeinschaften zusammen? So fragte Aristoteles. Seine Antwort: „Freundschaft“, das Gefühl einer Zugehörigkeit zueinander. Innerhalb einer Stadtgemeinde dürfe es keine Feindschaften, aber auch keine Gleichgültigkeit  geben, sonst bräche der Zusammenhalt auseinander.

Was hält unsere deutsche Gesellschaft zusammen? So fragen heute die beiden Bürger Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble in der FAZ auf S. 8. Ich nenne sie Bürger … Moment mal, sind das nicht zwei Politiker, Minister gar? Stimmt, ihr habt recht. Aber die beiden Verfasser schließen ihren Artikel höchst wirkungsvoll mit folgender Schlussformel ab: „… wir alle als Bürgerinnen und Bürger.“ Alle sind wir Bürgerinnen und Bürger, das ist doch ganz meine Rede. Einige dieser Bürger sind daneben auch Politiker, aber Politiker und Bürger sollten sich einig sein in einem gemeinsamen Ethos. So verstehe ich zumindest die beiden Autoren.

Den ganzen Artikel durchzieht die Forderung nach einem gestärkten Miteinander. Nur dann, wenn jede und jeder das Gefühl hat, dazuzugehören und gebraucht zu werden, kann sich eine Gesellschaft auf Dauer den wichtigen Einzelfragen zuwenden. Vereine, Bürgerinitiativen, Mehrgenerationenhäuser – das alles und vieles mehr sind hochwillkommene Beispiele solch tätiger Gemeinschaft, die den Staat trägt. Der Staat kann diesen Wurzelgrund nicht ersetzen, aber er kann ihn fördern.

Wir warfen gestern einen Blick auf das untergegangene Zarenreich. Politiker wie Stolypin kämpften unentwegt für die gemeinsame Sache. Umsonst, es war wohl schon zu spät. Die gesellschaftlich führenden Gruppen und die meisten Politiker, nicht zuletzt auch Zar Nikolaus II. höchstselbst, waren offenbar nicht bereit, eigene Besitzstände aufzugeben. Der Petersburger Blutsonntag von 1905 und viele andere Abwehrreflexe setzten Fanale der Unterdrückung gegen die berechtigten Forderungen der benachteiligten Bauern und Arbeiter.

Wie schreibt doch Vera Lengsfeld in ihrem Buch Neustart auf S. 103? „Und wenn Politiker in der Öffentlichkeit gegen jede mögliche Veränderung vor allem besitzstandswahrende Abwehrreflexe kultivieren, wirken sie lähmend auf die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft.“

Ich meine: Wir brauchen Veränderung, wir brauchen dafür mehr innere Bindung an ein freiheitliches Miteinander. Ich glaube darüber hinaus: Die größten Risiken liegen nicht in der Staatsverschuldung, nicht in der Arbeitslosigkeit, nicht in der Finanzkrise. Die größten Risiken für unsere Republik und auch für die EU liegen darin, dass diese innere Bindung verloren gehen könnte.

Den höchst lesenswerten Artikel aus der heutigen FAZ werde ich mir aufheben. Man könnte ihn auch in einen Artikel für die führenden Boulevardblätter Deutschlands umschreiben, mit kurzen knackigen Sätzen und auf 200 Wörter verkürzt. Die Botschaft würde gut ankommen. Ich wünsche es ihr.

Unser Foto zeigt heute einen Blick in die Neue Oper in Moskau. Dort sahen und hörten wir am 25. Dezember eine Aufführung von Tschaikowskijs Nussknacker. Nach der Erzählung Nussknacker und Mäusekönig von E.T.A. Hoffmann. Auch solche deutsch-russischen kulturellen Gemeinschaftsleistungen halten uns in Europa zusammen.

 Posted by at 16:52
Jan 052009
 

Fernsehen und auch Radio scheinen im heutigen Russland eine viel wichtigere Rolle zu spielen als Zeitungen. Und so nutzte auch ich bei diesem Aufenthalt jede Gelegenheit, um mir einen Eindruck von den Bildern zu verschaffen, die Tag um Tag in die russischen Haushalte flimmern. Gleich am ersten Abend nach unserer Ankunft erlebte ich eine denkwürdige Diskussion mit: Imja Rossija, der Name Russland, wurde durch den staatlichen Sender Rossija ausgestrahlt. Aus ursprünglich 500 Kandidaten sollten durch Zuschauerbefragungen in einer Reihe von Sendungen die wichtigsten Persönlichkeiten der russischen Geschichte gekürt werden. Peter I., Katharina II., Lenin, Stalin, Puschkin – sie waren schon in die Runde der letzten 10 vorgedrungen. Das ganze erinnerte mich an die ZDF-Serie „Unsere Besten“. Vor einer hochkarätig besetzten Jury legte sich diesmal der Regisseur Nikita Michalkow für „seinen“ Kandidaten, den Politiker Pjotr A. Stolypin ins Zeug.  Ab 1906 war Stolypin Innenminster, wurde bald darauf Premierminister.  In Deutschland ist dieser wichtige Reformer, der 1862 geboren und 1911 von politischen Terroristen ermordet wurde, weitgehend unbekannt. Um so erstaunter war ich, mit welchem Feuer, welcher Begeisterung Michalkow seinen Mann ins Rennen schickte!

Ich fasse Michalkows Plädoyer sinngemäß zusammen: Stolypin war einer jener Politiker, die in der zaristischen Spätzeit vernommen hatten, was die Uhr geschlagen hatte. Er versuchte durch einschneidende Reformen die schlimme Lage der Bauern zu verbessern, indem er ihnen neue Anrechte auf Grund und auf billiges Kapital verschaffte. Er kämpfte für eine effizientere Verwaltung, versuchte einen vernünftig geregelten Markt für die aufstrebende Industrie zu schaffen. Stolypin setzte auf grundlegende Reformen, ohne jedoch die Zarenherrschaft insgesamt in Frage zu stellen. Das Mittel der Revolution lehnte er ab, seine Agenda verlangte dem herrschenden Zaren und dem Adel weitreichende Zugeständnisse ab, ohne den Antimonarchisten Vorschub zu leisten. Mit diesem an pragmatischen Lösungen orientierten Ansatz machte er sich in einer ideologisch überhitzten Stimmungslage Feinde auf allen Seiten! Er sah sogar voraus, dass er einem Attentat zum Opfer fallen würde. Aber unbeirrt verfolgte er seinen Kurs, den er für den richtigen hielt.

Noch mehr als die Begeisterung Michalkows erstaunte mich, mit welch gebannter Aufmerksamkeit alle Studiogäste zuhörten – darunter auch Gennadi Sjuganow, der Chef der neuen Kommunistischen Partei. Den Mienen, den buchstäblich offenstehenden Mündern aller derer, die da überrascht lauschten, konnte ich entnehmen: Michalkow traf ins Schwarze, er schilderte mit kraftvollen, eindringlichen Argumenten einen Weg, wie Russland das weitere Auseinanderbrechen der Gesellschaft und auch die beiden Revolutionen von 1917 hätte vermeiden können. Er redete sich in Feuer, seine Worte klangen leidenschaftlich, – es war für mich mit Händen greifbar, dass hier über die neuere russische Geschichte insgesamt verhandelt wurde.

Diese Sendereihe kann man sicherlich unterschiedlich bewerten – wie ja die ZDF-Reihe „Unsere Besten“ ebenfalls herbe Kritik einstecken musste. Ich fand diese eine Sendung, die ich verfolgen konnte, äußerst erhellend! Nach meiner Rückkehr entnehme ich dem Internet: Stolypin hat es – ich meine: dank dieser mitreißenden Rede – auf Platz 2 geschafft, musste nur dem altehrwürdigen sagenumwobenen Helden Alexander Newski den Vortritt lassen. Newski – so will es die Überlieferung – rettete Russland vor dem äußeren Feinde. Er siegte. Stolypin hingegen wollte Russland durch innere Reformen vor dem drohenden Staatszerfall retten. Er scheiterte.

Für mich bleibt entscheidend: Die abstimmenden Zuschauer haben als ersten Politiker aus neueren Zeiten Stolypin gewählt – das kann meines Erachtens als ein klares Zeichen dafür gewertet werden, dass Russland heute den Weg kluger innerer Reformen, den Weg eines vernünftigen Interessenausgleichs wünscht. Und der Schlüssel zu einer Aufarbeitung der gesamten neueren russischen Geschichte scheint für Teile der heutigen russischen Gesellschaft wohl in einem vertieften Studium des untergehenden Zarenreiches zu liegen. In jenen Jahrzehnten wurden ganz offensichtlich Chancen verspielt, die weitsichtige Politiker wie Stolypin zu ergreifen bereit waren. Eine reformunfähige Gesellschaft wurde nach und nach reif für die Revolution.

Unser heutiges Foto zeigt den berühmten Säulensaal des Moskauer Herrenhauses, das später zum Gewerkschaftshaus wurde. Dort besuchten wir am 28.12. das Jolka-Fest für die Moskauer Kinder.

 Posted by at 21:54