Feb 132010
 

08022010005.jpg Den Ausdruck Immobilien-„Heini“ kennen wohl die meisten. Gemeint sind die „Anzug-Typen“, die verfallende Häuser aufkaufen, instandsetzen und wiedervermieten. Nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern um damit Geld zu verdienen. Was dagegen? Ich selbst las ihn immer wieder in aktuellen Flugblättern und Verlautbarungen der linken Berliner Neocons. Heini ist eine Verkürzung und spöttisch-abwertende Form des typischen deutschen Namens Heinrich. Heinrich bedeutet der „Heim-Reiche“, also „der durch Hausbesitz Reiche“ – oh wie passend.

Aber nicht alle Leser dieses Blogs können vielleicht mit dem Ausdruck Immobilien-„Itzig“ etwas anfangen. Ich las ihn in historischen Archiven in Exemplaren des „Stürmers“ sowie  auf Flugblättern der Berliner Nationalsozialisten aus den 30er Jahren.

Itzig ist eine Verkürzung und spöttisch-abwertende Form des typischen jüdischen  Namens Isaak („ER möge lächeln“) und stand in der früheren Propaganda für den Juden schlechthin.

Für Sprachliebhaber aufschlussreich ist folgender aktueller Beleg aus dem Internet-Auftritt ha-Galil, den ich zum Nachlesen empfehle:

Judenfeindlichkeit an Fastnacht: Und willst Du nicht mein Itzig sein… « Israel & Judentum
„Giizig, gizzig, gizig, gizig isch der Itzig;
un willsch Dü kei itzig si, döasch uns was ins Gigili ni!“…

Unser Foto zeigt eine alte und eine neugebaute Immobilie am ehemaligen Postgelände in Berlin-Kreuzberg. In diesem harten, harten Winter.

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Nov 202009
 

Mit größter Bewunderung besuchte ich am 17.11. die neue Ausstellung im Martin-Gropius-Bau: taswir. islamische bildwelten und moderne. Es ist eine üppig sprießende, mit Gelehrsamkeit gesättigte, künstlerisch neue Pfade beschreitende Landschaft des Denkens und Fühlens. Auffallend ist die karge Gegenständlichkeit! Das Ornamentale, Großflächige herrscht vor. Bei einem alten Kodex islamischen Rechts aus dem 13. Jahrhundert fühlte ich mich unwillkürlich an Seiten aus dem jüdischen Talmud erinnert, die ganz ähnlich aufgebaut sind: In der Mitte steht der kanonische Text, darum herum haben verschiedene „Hände“, also verschiedene Schreiber, ihre Deutungsversuche angefügt. So sieht das aus:

Man könnte auch an die „Worte in Freiheit“, die „parolibere“ der italienischen Futuristen denken – großzügig, weiträumig über das ganze Blatt ausgeteilte Worte und Fragmente, deren Gesamtsinn sich erst in der Zusammenschau dem Auge erschließt.

Die Ausstellungsmacher haben nicht versäumt, auch unseren Heros des christlich-islamischen Dialogs, den von mir so sehr verehrten Meister Goethe, mit einem Sinnspruch zu würdigen, und zwar im Saal „Picasso und Qur’an“. Qur’an kommt ja von arabisch lesen, rufen, rezitieren, so wie das Wort lehren – nach Meinung der Begleittexte aus der Ausstellung – von altdeutsch „löhren“ = „laut Krach machen“ kommt.

Zum guten Lehren gehört das Rufen, das Sprechen und Vernehmen.  Erst ganz spät wird Lehre und Lernen zur stummen, einsamen Beschäftigung. Ich selbst lese mir immer wieder Texte in allen Sprachen, die mir zu Gebote stehen, laut vor. So habe ich mir nach und nach über viele Jahre hinweg eine gewisse Kenntnis mindestens meiner deutschen Muttersprache durch Lärmen und Rufen erarbeitet.

Auch Hamed Abdel-Samad, der Sohn des ägyptischen Imams, berichtet, dass er vor allem durch das laute Hören und Rufen nach und nach den ganzen Koran auswendig lernte. Eine Schulung, die es ihm ermöglichte, nach und Englisch, Französisch, Deutsch und Japanisch bis zur Beherrschung zu „erlärmen“.

Auch Musik ist ein Lärmen und Lehren. Heute stellte ich die vier Lieder zusammen und ließ sie den Lehrern unserer Schule mit folgendem Schreiben zukommen:

 

An das Lehrerkollegium Fanny-Hensel-Grundschule 

Kreuzberg, den 20.11.2009 Lieder für das Schulkonzert am 24.11.2009 Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
 wir freuen uns auf das Konzert am kommenden Dienstag. Zur Vorbereitung habe ich Ihnen die vier von Fanny und Felix vertonten Lieder abgedruckt, die Ira Potapenko in der Lukaskirche singen wird. Da ich selbst „in alten Zeiten“ jahrelang als Lehrer gearbeitet habe, kam ich nicht umhin, Ihnen einige Vorschläge für den Einsatz im Unterricht hinzuzufügen. Diese vier Lieder eignen sich hervorragend, um unsere Kinder mit spannenden Bildern und Rätseln zu fesseln, sie zum Erzählen, Schreiben und Malen anzuregen. Nicht zuletzt bieten sie Ansätze für das so häufig verlangte multikulturelle Arbeiten. Bitte bedenken Sie: Goethe ist wohl derjenige Autor, der am ehesten unseren muslimisch geprägten Kindern und Eltern einen Zutritt zur deutschen Literatur ermöglichen kann. Zögern Sie nicht, aus dem reichen Schatz der Goetheschen Sprüche, Kinder- und Spottgedichte weitere Beispiele für den Deutschunterricht auszuwählen. Für Fanny Hensel wiederum und ihren Bruder Felix war Goethe ein Fixstern. Ich wage zu behaupten: Wer Goethe nicht kennt, wird auch keinen Zugang zu Fanny Hensel und Felix finden. 

Mit herzlichem Gruß 

 

 

 

Pagenlied Wenn die Sonne lieblich schiene, aus: „Der wandernde Musikant. “Worte von Joseph von Eichendorff Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy Wenn die Sonne lieblich schiene
Wie in Welschland lau und blau,
Ging‘ ich mit der Mandoline
Durch die überglänzte Au.
In der Nacht dann Liebchen lauschte
An dem Fenster süß verwacht,
Wünschte mir und ihr, uns beiden,
Heimlich eine schöne Nacht.
Wenn die Sonne lieblich schiene
Wie in Welschland lau und blau,
Ging‘ ich mit der Mandoline
Durch die überglänzte Au.
 

 

 

 

 

Aufgaben für die Kinder:  

Was ist ein wandernder Musikant? 

Was ist Welschland?  

Was ist eine Mandoline? Zeichne eine! 

Stell dir vor, Du wärest so ein wandernder Musikant! Du hättest kein Geld. Du müsstest dir dein ganzes Geld durch Musikmachen verdienen. Irgendwo im Ausland. Wie würdest du dich fühlen? Erzähle! Wohin würdest du wandern? 

 

 

Suleika von Johann Wolfgang von Goethe aus: West-östlicher Divan Musik von Fanny Hensel

        Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide!
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich in der Trennung leide.
Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen;
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Tränen.
Doch dein mildes sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt ich vergehen,
Hofft ich nicht zu sehn ihn wieder.
Eile denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen,
Doch vermeid, ihn zu betrüben,
Und verbirg ihm meine Schmerzen!
Sag ihm, aber sag’s bescheiden:
Seine Liebe sei mein Leben!
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nähe geben.

 

Aufgaben für die Kinder:

Suleika ist ein arabischer Name. Was bedeutet er? Kannst du so gut Arabisch, dass du uns den Namen übersetzen kannst? Kennst du ein Mädchen oder eine Frau, die so heißt? Erzähle uns von ihr!

Was glaubst du: Wer singt hier? Ein Mann oder eine Frau?

Stell dir vor: Du spürst den Wind wehen. Was erzählt dir der Wind? Schreibe einen kleinen Brief an den Wind!

 

Hexenlied

von Ludwig Heinrich Christoph Hölty
Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy

Die Schwalbe fliegt,
Der Frühling siegt,
Und spendet uns Blumen zum Kranze!
Bald huschen wir
Leis‘ aus der Thür,
Und fliegen zum prächtigen Tanze!

Ein schwarzer Bock,
Ein Besenstock,
Die Ofengabel, der Wocken,
Reißt uns geschwind,
Wie Blitz und Wind,
Durch sausende Lüfte zum Brocken!

Um Belzebub
Tanzt unser Trupp,
Und küsst ihm die dampfenden Hände;
Ein Geisterschwarm
Fasst uns beim Arm,
Und schwinget im Tanzen die Brände!

Und Belzebub
Verheißt dem Trupp
Der Tanzenden Gaben auf Gaben;
Sie sollen schön
In Seide gehn,
Und Töpfe voll Goldes sich graben.

Die Schwalbe fliegt,
Der Frühling siegt,
Und Blumen entblühn um die Wette!
Bald huschen wir
Leis‘ aus der Thür,
Und lassen die Männer im Bette!

 

Aufgaben für die Kinder zum Hexenlied:

Was glaubst du: Gibt es Hexen? Wo wohnen sie? Erzähle!
Male ein Bild zu diesem Lied!
Was ist ein Wocken? Zeichne einen!
Wer ist Belzebub? Wie heißt Belzebub im Islam?

Schilflied

 

von Nikolaus Lenau 

Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy 

Auf dem Teich, dem regungslosen,
Weilt des Mondes holder Glanz,
Flechtend seine bleichen Rosen
In des Schilfes grünen Kranz.

Hirsche wandeln dort am Hügel
Blicken in die Nacht empor;
Manchmal regt sich das Geflügel
Träumerisch im tiefen Rohr.

Weinend muss mein Blick sich senken;
Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken,
Wie ein stilles Nachtgebet.

 

Aufgaben für die Kinder: Zeichne die Tiere aus diesem Gedicht. Zeichne alle Pflanzen aus diesem Gedicht. Wo gibt es Schilf in der Nähe unserer Schule? Zeige uns das Schilf! Stell dir vor, du sollst einem Touristen deine Schilflandschaft zeigen. Was sagst du? Wo gibt es einen Teich?

Erzähle!

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Mai 182009
 

 Yussuf – so heißt ein Mitschüler meines Sohnes. In Yussuf benannte sich auch Cat Stevens nach seinem Übertritt zum Islam um. Würdet ihr glauben, dass dieser Yussuf kein anderer ist als der Joseph aus dem 1. Buch Mose, das Juden wie Christen gemein ist?

Diesem Joseph oder Yussuf begegnete ich gestern beim Spazierengehen in Würzburg. Ihr seht ihn dort oben. Es war ein herrlich leichter, hingezauberter Abend. Die alte Mainbrücke zu überschreiten, den Blick der ruhig vertäuten Kähne zu genießen und ein paar Worte unter Freunden zu wechseln, das war für mich gestern ein schöner Augenblick.

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So wie Navid Kermani oder Necla Kelek uns einen neuen Blick auf das Kreuz lehren können, so vermag es Goethe, die Eigenart des Islam genauso hervortreten zu lassen wie auch sein Strenges und Hartes. Ähnlich wie Kermani gelingt es ihm, in Anziehung und Abstoßung des Eigene und das Fremde geradezu sinnlich spürbar werden zulassen.

Goethe schreibt in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans in dem Mahomet benannten Kapitel:

Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplificationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen  bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt.

Eine der wenigen im echten Sinne erzählenden Suren ist die Sure 12. Sie ist ganz dem Josef (ungarisch: Joschka, arabisch: Yusuf, bairisch: Sepp) gewidmet. Goethe rühmt an der koranischen Umarbeitung der biblischen Josefsgeschichte, sie sei bewundernswürdig.  Die Überlieferungen des Alten Testaments beruhen – so Goethe – „auf einem unbedingten Glauben an Gott, einem unwandelbaren Gehorsam und also gleichfalls auf einem Islam“.

So wie Kermanis Bildmeditationen das beste sind, was ich seit einigen Monaten über das Christentum gelesen habe, so stellen Goethes Meditationen über Mahomet das beste dar, was ich seit vielen Wochen aus der Feder eines Nicht-Muslims über den Islam gelesen habe. Ohne flache Multi-Kulti-Versöhnlichkeit gelingt es Goethe, sich in Lebenswelt und Schriftsinn des Koran hineinzuversetzen, sich in ihn einzufühlen, ohne die eigene, abendländische Denkart preiszugeben.

Der Goethe des West-östlichen Divans ist DER große Anreger für uns in der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er muss gleichberechtigt an die Seite des bekannteren Goethe gestellt werden, der den Faust geschrieben hat!

Schließen wir diese kurze Abendandacht mit einem Zitat aus der 12. Sure, Vers 92-93. Sie kann uns zeigen, wie innig verschwistert Judentum, Christentum und Islam sind und bleiben. Denn alle drei Religionen erzählen in immer neuen Abwandlungen das spannungsreiche Thema der Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Bruder und Bruder. Ob Cat „Yussuf“ Stevens, ob Josef „Joschka“ Fischer sich immer bewusst waren, welche Kraft in ihrem Namen lag? Ihrem hebräischen Namen, der bedeutet: ER fügt hinzu? Denn nachdem Josef von seinen Brüdern verraten und verkauft worden war und der Vater aus Gram und Kummer das Augenlicht verloren hat, führt er zuletzt die große Versöhnung herbei, indem er sein Hemd weggibt und hinzufügt und dabei seinen Brüdern sagt:

„Keine Schelte soll heute über euch kommen. Gott vergibt euch, Er ist ja der Barmherzigste der Barmherzigen. Nehmt dieses mein Hemd mit und legt es auf das Gesicht meines Vaters, dann wird er wieder sehen können.“

Das heißt: Die Versöhnung geht vom Sohn aus, nicht vom Vater. Heißt sie deshalb Ver-söhnung, also Wiederherstellung des Sohn-Seins? Etymologisch nicht, denn das Wort stammt von Sühne ab. Aber in einem tieferen Sinne stimmt dieses Brückenbild. Joseph oder Yussuf – sie stehen im Bilde gesprochen „auf der Brücke“, sie sind die großen Hinzufüger, die großen Schenkenden.

Versöhnung geht in der Josefsgeschichte von dem aus, dem Unrecht angetan wurde, nicht von den Tätern des Unrechts. Und die Versöhnung macht im vollen Umfang „sehend“.

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Quellen:

Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885,  S. 555-557

Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan. Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage, Gütersloh 2007, S. 185

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„Jud‘ und Christ und Muselmann“

 Hebraica, Islam, Koran, Novum Testamentum graece, Religionen  Kommentare deaktiviert für „Jud‘ und Christ und Muselmann“
Apr 232009
 

Lächelt nicht! – Wer weiß?
Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn,
In dem sich Jud‘ und Christ und Muselmann
Vereinigen; – so einen süßen Wahn!

So heißt es im ersten Aufzug bei G.E. Lessing. Auch heute spricht man immer wieder von den „drei abrahamitischen Religionen“, die mehr oder minder miteinander verwandt seien und sich eben deswegen häufig so erbittert bekämpften. Adam, Abraham, Isaak, Gabriel, Zacharias – der Namen sind viele, die die drei Religionen gemeinsam haben. Der Koran etwa mutet über weite Strecken wie ein Blog an, in dem ein eifriger Nacherzähler in einer Art beständigem Abschreiben, Überschreiben, Umschreiben ein kontinuierliches Textband aus den Vorgängerreligionen Judentum und Christentum erzeugt. Lest ihn doch im Wechsel mit der Tora der Juden und dem Neuen Testament der Christen!

Mit Spannung besuchte ich Nathan Messias von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel am vergangenen Samstag im Ballhaus Naunynstraße. Hier taucht man hinein in eine hitzige, von Erlösungshoffnungen erregte Stadt – das heutige Jerusalem. Psychiater erzählen mir, dass der Wahn, selber der Messias zu sein, am häufigsten überhaupt auftrete. Nicht nur in Jerusalem, sondern weltweit.

In seiner Umarbeitung spinnt Zaimoglu den Grundansatz Lessings fort: Die drei Religionen als im Grunde strukturähnliche, austauschbare Ausprägungen desselben Grundgedankens. Gleichermaßen gegen die Schandpriester aller Religionen wendet sich der selbsternannte Messias. Es wird in dem neuen Text geflucht, verflucht und geschimpft als wäre man im Prinzenbad. Insofern sehr lebensecht!

Die Reden des Nathan Messias erinnern stark an die Erweckungspredigten der Al-Qaida-Führer, soweit sie mir aus Transkriptionen bekannt geworden sind.  Beklemmend.

Meine Sympathie galt dem säkularen Bürgermeister der Stadt Jersualem, der sich redlich bemüht, den Laden so weit zusammenzuhalten, dass er nicht in die Luft fliegt. Und seiner Tochter Rebekka, deren Liebe zu einem Muslim leider scheitert.

Den großen Bogen eines Lessing, das weit ausholende Entfalten eines Gedankens vermag die Umarbeitung allerdings nicht zu halten. Der Spannungsbogen wird vielfach gebrochen. Lessing im Zeitalter des Bloggens!

Und die Religionen erscheinen überwiegend als Geistesstörungen, als Zwangsphänomene, bei denen die eine gefährlicher als die andere ist. Der befriedende Charakter der drei abramitischen Religionen wird nicht gesehen. Und erneut wird die Lessingsche Fabelei von den austauschbaren Ringen aufgetischt. Dem steht – so meine ich – entgegen: Das Judentum war zuerst da. Christentum und Islam kommen danach. Sie stehen unter Begründungszwang, weshalb sie sich für vollkommener als das Judentum halten, nicht umgekehrt. Wir hatten am vergangenen Ostertag an der Johanneischen Thomasgeschichte das Moment der Entscheidung hervorgehoben. Der Grundgedanke des Bundes, des Glaubens besagt ja, dass niemand sich unterwerfen muss, dass jeder Gläubige zu jedem Zeitpunkt die Freiheit der Wahl hat.  Diese Tatsache, dass nämlich sowohl im Judentum wie im Christentum die Entscheidung zum Bund ganz zentral ist, wird bei Lessing wie bei Zaimoglu einfach unterschlagen.

Insgesamt aber: nachdenklich stimmend, sehenswert!

Projekt Gutenberg-DE – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Kultur

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Apr 212009
 

Den obigen Ausruf mögen die älteren unter den Leserinnen noch kennen. Ich hörte ihn in höchster Erregung vorgetragen als Sechstklässler, als wir bildungsfernen Rabauken mal wieder Rabatz schlugen, ehe der erwartete Lehrer endlich erschien, um mit dem Lateinunterricht zu beginnen. Er schalt uns tüchtig: „IST hier jetzt gleich Ruhe, hier geht’s ja zu wie in der JUDENSCHUL!“

Was steckt hinter dieser Redewendung? „Schul“, das ist im Jiddischen der Ausdruck für Synagoge, also für das Versammlungshaus der jüdischen Gemeinde. Das jiddische Wort kommt aus dem deutschen Wort „Schule“, weil die Synagoge selbstverständlich nicht nur Versammlungshaus, sondern auch auch Lernort, eine Stätte der Wissensweitergabe war. Die Judenschul, das war die Synagoge. Unser deutsches Wort Schule wiederum stammt von lateinisch schola, die Schule, ab, welches seinerseits wiederum aus dem griechischen σχολή, die Muße, die freie Zeit stammt.

Die Juden lehren und lernen ihre grundlegenden Schriften bis zum heutigen Tage durch individuelles, halblautes Lesen, durch ständiges wechselseitiges Befragen, es wird häufig in einem vielstimmigen Stimmengewirr rezitiert, geredet,  gestritten. In Rede und Gegenrede wird um die rechte Auslegung gerungen. Der Lehrer schreitet durch die Lernenden hindurch, wird selbst zum beständig Lernenden. Für den draußen Vorbeigehenden ergab sich ein unerträgliches, chaotisches Durcheinander – die Judenschul ist ein vielstimmiges Klanggebilde, aus dem allerlei Unverständliches herausdringt.

Was ist das Ergebnis der Judenschul, dieser Art des vielstimmigen Lernens in einem gemeinsamen Lernort? Man werfe einen Blick auf die Statistik der Nobelpreisträger, der Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler, und man wird erkennen: In allen Bereichen, wo es besonders stark auf die Weitergabe, Vermittlung und produktive Anwendung von Wissen und Erkenntnis geht, sind Juden seit Jahrhunderten weit überdurchschnittlich vertreten.  Ich führe das vor allem darauf zurück, dass bei den Juden seit der Antike höchst effiziente, selbstgesteuerte Formen des gemeinschaftlichen Lernens und Lehrens gehegt werden. Ein besonders beeindruckendes Monument dieses Lernens-Lehrens ist übrigens der Talmud. Und Talmud heißt auf hebräisch nichts anderes als Lernend-Lehren oder auch Lehrend-Lernen.

Neben der Akademie Platons halte ich die Judenschul für eines der großen wegweisenden Modelle des selbstgesteuerten, in Rede und Gegenrede sich entfaltenden Lernens, wie es neuerdings seit einigen Jahrzehnten wieder vermehrt gefordert wird. Zwischenfrage: Wieso sagt das Blog hier „neuerdings, seit einigen Jahrzehnten“? Antwort: Wir denken hier selbstverständlich in Jahrtausenden, nicht in Legislaturperioden. Selbst 30 Jahre taz sind noch nicht so arg viel. Wodurch wir zum gestern erwähnten taz-Forum über das heilige deutsche Gymnasium zurückkommen. Immer wieder wurde dort verlangt, die Schülerinnen sollten einander lehren, die Stärkeren sollten die Schwächeren mitnehmen und ähnliches mehr.

Mehrere Lernvorgänge sollen gleichzeitig ablaufen: Binnendifferenzierter Unterricht, so lautet das Gebot der Stunde. Der binnendifferenzierte, auf den indivduellen Lernfortschritt abgestimmte Unterricht wird unabweisbar, wenn Kinder aus verschiedenen Milieus aufeinandertreffen: der Schüler, der stundenlang an der Video-Konsole Ego-Shooter spielt, der deutsche Jugendliche mit seinen statistisch nachgewiesenen 213 Minuten täglichem Fernsehkonsum trifft auf die Schülerin, die mit 7 Jahren selbständig ganze Bücher in den beiden Erstsprachen Polnisch und Deutsch flüssig vorlesen kann.

Genau das scheint auch der Autor und Journalist Christian Füller, der sich gestern zu meiner großen Freude in diesem Blog zu Wort meldete, mit seinem Buch Die Gute Schule im Sinn zu haben. Denn es gibt gute Schulen! Füller schreibt:

Leseprobe Die Gute Schule
Die guten Schulen haben ihr Kerngeschäft reformiert: das Lernen der Schüler. Ihr großes Ziel ist es, die Machtverhältnisse des Lernens zu verändern. Sie versuchen, ihre Schüler aus der Rolle von Objekten der Beschulung zu befreien – und zu Subjekten ihres Lernens werden zu lassen. Schüler werden dort als kleine Forscher gesehen, die ihren Wissenserwerb, ihre Kompetenzfortschritte und ihre Lernprojekte selbst mitsteuern sollen. Dieser neue Lernstil hat einen Namen, er heißt individuelles und selbständiges Lernen. …

Da haben wir’s! Unabhängig davon, ob wir diesen Lernstil neu oder uralt nennen, ob wir ihn binnendifferenzierten Unterricht nennen oder in die alte Spruchweisheit Docendo discimusDurch Lehren lernen wir – kleiden: Immer geht es darum, dass die Lernenden in die Freiheit des selbstständigen Fragens, Redens und Widerredens hinein entlassen werden.

Letzte Frage: Was kostet das? Antwort: Diese neue, uralte Art des Lernens ist viel billiger als der einseitige Frontalunterricht, weil sie weniger Räumlichkeiten erfordert, weil die Lernenden weniger Betreuung brauchen, weil insgesamt weniger „angeboten“ und mehr „verlangt“ wird. Ein üppiges Medienangebot ist ebenfalls nicht nötig.

Die entscheidenden Arbeitsmittel sind: geschriebene Texte, also Bücher und Hefte. Ferner: der eigene Kopf. Weitere Arbeitsmittel: Schreibwerkzeuge, also Papier und Stift. Wichtigste Techniken des Arbeitens: Vorlesen, Lesen, Einprägen, Erinnern, Schreiben, Zuhören, Sprechen, Fragen, Antworten. Wichtigste Grundhaltung: Aufmerken – Mitmachen – Selbermachen. Die neue Schule ist nicht teuer. Sie ist arm und sie soll arm sein. Mindestens in den Augen der heute allesamt sehr reichen Schüler mit ihrem vielfältigen Zerstreuungsangebot: Handys, Internet, I-Pod. Die heutigen deutschen Schulen sind unvorstellbar reich und teuer im Vergleich zu den Schulen anderer Länder und anderer Zeiten, die mit wesentlich weniger Geld bessere Lern-Erfolge erzielten (etwa in der multiethnischen Sowjetunion).

Also – ja zur Judenschul, ja zur Akademie, ja zum binnendifferenzierten Unterricht! Meinem Lateinlehrer aus der sechsten Klasse, einem Benediktinerpater, danke ich noch heute. Denn er hat meine Neugierde für Latein geweckt und gepflegt – und auch für die Judenschul. Er hätte nicht in Zorn geraten müssen ob unseres Rabaukentums. Denn es steht geschrieben in Psalm 112: Wenn Schlimmes gehört wird, so braucht er sich nicht davor zu fürchten. 

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Wer mahnt besser – die Überlebenden oder die Toten?

 Hebraica, Opfer, Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Wer mahnt besser – die Überlebenden oder die Toten?
Jan 272009
 

Der Ausdruck Holocaust gefällt mir nicht. Ich kenne ihn aus der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Tora,  als Bezeichnung für das Opfer, bei dem das Tier ganz verbrannt wird – das „Ganzopfer“. Nein, ich ziehe den Ausdruck Schoah bei weitem vor – wie in Israel üblich.

Mein erstes KZ besuchte ich im Alter von 16 Jahren – es war Majdanek bei Lublin. Ich reiste zusammen mit einer Gruppe des BDKJ – des Bundes Deutscher Katholischer Jugend.  Wir wurden durch das Lager geführt – durch einen polnischen Überlebenden. Er zeigte uns die Baracken, die Reste der Öfen, er deutete in bestem Deutsch einiges an von den Schrecken, die er erlebt hatte. Anschließend lud er uns zu sich nachhause ein, wir wurden bewirtet, wir sangen gemeinsam einige Lieder und spielten auch auf dem Klavier, das da stand.

Warum ich das erzähle? Ich meine: Es ist ein Privileg, mit Überlebenden sprechen zu dürfen. Es ist noch ein größeres Glück, von ihnen bewirtet zu werden. Und am schönsten ist es, mit ihnen zu singen. Und ich meine: An jeden KZ-Besuch, an jede Gedenkveranstaltung sollte sich eine „Rückführung ins Jetzt“ anschließen. Irgendetwas, eine Geste, eine gemeinsame, fast rituelle Handlung, die zeigt: Wir erkennen die Vergangenheit an – aber das Jetzt ist stärker. Das kann ein Lied sein – oder sogar ein Witz.

Immer wieder bin ich danach in meinem Leben Überlebenden begegnet – verschiedenen KZ-Überlebenden, aber ich begegnete auch im Kreis meiner russischen Verwandten Menschen, die die Belagerung Leningrads überlebt hatten. Und ich habe Menschen kennengelernt, deren Angehörige durch den sowjetischen Terror in Russland vernichtet worden sind.

Bei all diesen Begegnungen war es für mich entscheidend zu erfahren: Wir sind im Jetzt, – die Schrecken der Vergangenheit sind hinter uns und diese Überlebenden sind Menschen aus Fleisch und Blut wie ich auch. Was mir immer wieder auffiel: Sie wirkten in der Erinnerung viel befreiter und … sogar humorvoller als wir Nachgeborene. Nur ganz wenige habe ich kennengelernt, deren ganzes nachfolgendes Leben zerstört war.

Zurück zur Frage: Wer mahnt besser? Ich meine: Die Toten mahnen uns nicht wirklich – nur die Lebenden können uns etwas sagen. Wir, die Lebenden, die Nachher-Lebenden müssen uns selbst mahnen.

Eklat um Holocaust-Gedenken – “Überlebende wie Zaungäste“ – Politik – sueddeutsche.de
Bundespräsident Horst Köhler hat dazu aufgerufen, die Erinnerung an das Verbrechen des Holocaust zu bewahren. „Wer sich der eigenen Vergangenheit nicht stellt, dem fehlt das Fundament für die Zukunft. Wer die eigene Geschichte nicht wahrhaben will, nimmt Schaden an seiner Seele“, sagte Köhler zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Die Verantwortung aus dem Völkermord an den Juden sei Teil der deutschen Identität. „Die Trauer über die Opfer, die Scham über die furchtbaren Taten und der Wille zur Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und den Kriegsgegnern von einst sie führen uns zu den Wurzeln unserer Republik“, sagte Köhler in der Gedenkstunde des Bundestages.

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Phobie … aus Angst kann Hass entstehen

 Angst, Griechisches, Hebraica  Kommentare deaktiviert für Phobie … aus Angst kann Hass entstehen
Dez 022008
 

41ref48q3xl_sl125_.jpg Im Tagesspiegel erscheint heute ein Artikel über die Ablehnung der Homosexualität. Diese Haltung wird häufig als Homophobie bezeichnet. Heißt aber Phobie nicht Angst? Heißt Homophobie also „Angst vor dem Gleichen“? Ich greife das Thema auf und antworte auf einen Leserkommentar von Leser „netter“. Er schreibt im Tagesspiegel:

„Da kommt die Lesbe“
Phobie?
Klaustrophobie, Arachnophobie usw..

Das sind doch Ängste.
Ich denke, Homophobie triffts denn dann doch nicht. Ich glaube nicht, dass diese Leute Angst vor „Homosexuellen“ haben.
Das klingt ja beinahe so, als würde jemand gleich einen hysterischen Anfall bekommen, wenn er mit einem H. im selben Zimmer ist oder so.

Zja, und dass unsere armen Migrationshintergründigen was gegen H’s. haben, das liegt ja nun an deren Kultur und dass die sich dieses Political Correctness NICHT aufpressen lassen

Auf diesen Kommentar antworte ich so:

Aus Angst vor dem Fremden kann Hass entstehen
@ netter: Diese Zusammensetzungen mit -phobie gehen auf griechisch phobos zurück. „Phobos“ heißt vieles: Fliehen, In-die-Flucht-Schlagen, Furcht, Angst. Das Fremdartige kann Flucht und Angst auslösen. Bereits in der griechisch-römischen Antike wurden Komposita mit „-phobia“ gebildet, die dann neben der „Angst vor …“ auch die „Ablehnung von…“ oder den „Haß auf …“ bedeuten, z.B. „iudaiophobia“, also die Ablehnung des Jüdisch-Christlichen durch das römische Imperium und dann der Hass auf das Jüdische (und auch das Christliche), der in gewalttätigen Verfolgungen gegen Juden (und auch Christen) seinen Ausdruck fand. Hierzu gibt es ein höchst lesenswertes Buch des Judaisten Peter Schäfer: „Judeophobia“. So auch bei Arachno-Phobie usw. Die Angst vor Spinnen (arachnoi) etwa kann in blinde Gewalttätigkeit gegen Spinnen umschlagen, also den Willen, alle Spinnen aus dem Haus zu vertreiben. Sinnlose Gewaltakte haben ihren Ursprung häufig in Angst vor Unbekanntem, das zu einem selbst gehört.

Was kann man dagegen tun? Wichtig scheint mir: Das Umgehen miteinander lernen. In einem geschützten Raum, wie ihn unser Rechtsstaat bereitstellt. Das ist schwer, aber es ist möglich.

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Reform an Haupt und Gliedern – eine offene Forderung aus dem Juli 2008

 Hebraica  Kommentare deaktiviert für Reform an Haupt und Gliedern – eine offene Forderung aus dem Juli 2008
Okt 082008
 

Man reibt sich verwundert die Augen. Forsa-Chef Güllner kommentiert die neuesten Berliner Umfrageergebnisse seines Instituts laut taz unter anderem mit folgender Aussage:

Eine bürgerliche Koalition aus CDU und FDP kommt bei Forsa zwar gerade einmal auf zusammen 28 Prozent.

Was soll das denn heißen? Bedeutet dies, dass 72% der Berliner keine Bürger sind? Oder keine richtigen Bürger? Oder gibt es zwei Klassen an Bürgern? Gibt es unbürgerliche Parteien? Wann wird dieser Unsinn endlich aufhören, dass man die Parteien in bürgerliche und unbürgerliche einteilt? Die Linkspartei, die SPD, vor allem aber die Grünen – die neue Partei der Akademiker und Besserverdienenden – sind doch so bürgerlich, wie sie sich das nie erträumen konnten! Sie sind Teil des staatsbürgerlichen Systems, sie vertreten einen Teil des Bürgertums, nämlich all die Bürger, die sie wählen, ebenso wie CDU und FDP einen Teil des Bürgertums vertreten.

Es lohnt sich gleichwohl, den ganzen taz-Artikel zu lesen. Denn nach unserem gestrigen 7-Punkte-Programm “Die lernende Partei”, also dem Vorschlag einer grundlegenden Umgestaltung der Berliner CDU “an Haupt und Gliedern”, liegen nun zwei weitere Vorschläge auf dem Tisch: Generalsekretär Henkel schlägt eine Schärfung des Profils vor, insbesondere auf den angestammten Politikfeldern Arbeit, Bildung, Sicherheit. Forsa-Chef Manfred Güllner rät zu einem personellen Revirement.

Es wird sicherlich spannend zu sehen, welchen Weg die Partei wählt. Drei ganz unterschiedliche Vorschläge sind vorgelegt. Möge die innerparteiliche Demokratie obsiegen!

taz.de – Neue Umfrage von Forsa: Pflüger führt die CDU tiefer ins Tal

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Am Karfreitag: Purim-Budenzauber

 Hebraica, Theater  Kommentare deaktiviert für Am Karfreitag: Purim-Budenzauber
Mrz 212008
 

helmi_21032008.jpg An diesem regnerischen Karfreitag des Jahres 2008, dem 14. Adar des Judentums, also dem Purim-Fest, beschließen wir nach reiflichem Erwägen, das Puppentheater im Jüdischen Museum zu besuchen. Wir verlieren uns zunächst unrettbar im verwinkelten Gegänge des Libeskind-Baus in der Lindenstraße, doch nach zahlreichen Rückfragen erreichen wir die Kinderinsel. Dort warten schon die drei Spieler des Theaters Helmi mit ihren drolligen, aus Schaumstoff geschaffenen Puppen auf die Kinder. Gegeben wird Purim, eine theatralische Umsetzung der Ester-Geschichte, die ja sowohl in der hebräischen wie in der christlichen Bibel zu finden ist. Worum geht es? Am persischen Hofe zu Susa herrscht ein recht kläglicher, allen Einflüsterungen seines korrupten Höflings Haman ausgelieferter König namens Ahaschverosch. Aus gekränkter Eitelkeit heckt Haman einen Vernichtungsplan gegen das gesamte jüdische Volk aus, doch die mutige und schöne Jüdin Ester erringt das Vertrauen des Königs und vereitelt diesen Anschlag.

Wie bei diesem jüdischen Fest heute üblich, erhalten die Kinder Ratschen und allerlei Klangwerk, um den missgünstigen Haman bei jeder Namensnennung zu übertönen und zu vertreiben.

Bei vielen Reden stockte mir schier der Atem. Wie konnten die Vernichtungsgesetze des persischen Trunkenbolds ausgerechnet im Jüdischen Museum, in dem die Shoah eine so beklemmende Vergegenwärtigung erfährt, mit derart leichtsinnigem Tand und mutwilligem Treiben als ein Art Kasperletheater mit bösem Krokodil und lieber Prinzessin ins Werk gesetzt werden? Durfte diese maßlose Rache- und Zerstörungsphantasie denn an diesem Ort so unverhüllt noch einmal ausgesprochen werden? Immerhin entwirft das in der Bibel wiedergegebene Gesetz des Perserkönigs zunächst einmal eine Art Grundsatzprogramm des „eliminatorischen Antisemitismus“, wie dies Daniel Goldhagen etwa 2.500 Jahre später nennen sollte: Vernichtung und Tötung aller Juden im Reich, Enteignung und Umverteilung ihrer gesamten Habe, Bereicherung der Staatskasse durch Einzug des herrenlos gewordenen Vermögens.

Ich habe mich nach der Aufführung mit einem der Puppenspieler unterhalten, habe aber sogleich gesagt, dass ich diesen Versuch nicht nur künstlerisch höchst gelungen, sondern auch pädagogisch wertvoll finde: immerhin gehen Kinder häufig mit Todes- oder Rachephantasien um, diese Bilder des Bösen sind ein häufiger Gegenstand von Märchen und Träumen; die Bilder spielen ferner auch eine gewisse Rolle in den Kämpfen der Kinder untereinander. Das lustige Puppentheater erlaubte es den Kindern, sich mit „den Guten“ zu identifizieren, Vertrauen in die Kraft der Gemeinschaft zu fasssen, die sich auch in bedrückender Unterlegenheit durch Witz und Klugheit den rettenden Weg aus höchster Gefahr schafft. Das Helmi, dieses Berliner Puppentheater, verdient höchstes Lob! Lob verdient auch die Leitung des Jüdischen Museums, die sich getraut hat, einen derart explosiven Stoff den spielerischen Händen einer buntgewürfelten Truppe von Bajazzos und Komödianten anzuvertrauen.

Beim Nachschauen in der Bibel fällt mir noch einmal auf, eine wie schlechte Presse doch das Perserreich in der Antike hatte! Wir hatten schon einmal in diesem Blog Gelegenheit, dieses zähe antipersische Vorurteil bei der Betrachtung der Perser des Aischylos anzusprechen (dieses Blog, Eintrag vom 08.01.2008). Die heutige Bibelwissenschaft freilich scheint die Darstellung des Perserhofs im Buch Ester mehrheitlich als Karikatur aufzufassen; so schreibt etwa Annemarie Ohler in ihrem sehr kundigen, hilfreichen Bibel-Atlas:

Das Buch Ester übertreibt satirisch Luxus und Willkür des Perserkönigs. Der Günstling Haman, den es ärgert, daß ein Jude nicht vor ihm niederfällt, erhält die Erlaubnis, alle Juden im Reich umzubringen. Zum Glück verbraucht der König Wein und Mädchen in Mengen, denn so gerät er an Ester. Todesmutig nützt sie ihre Schönheit, lädt ihn zum Trinkgelage und stimmt ihn um. Der Freibrief zu töten wird Haman entzogen; wörtlich denselben erhalten nun die Juden (8,11 = 3,13).

Regierungsamtliche Judenverfolgung war im Perserreich undenkbar; das Buch setzt sich mit Vorgängen in hellenistischer Zeit auseinander. Es ermutigt Verfolgte; doch es warnt auch: Gewinnen Ohnmächtige Macht, gehen sie nur zu leicht mit ehemaligen Verfolgern so um, wie diese zuvor mit ihnen (9,12 ff.).

zitiert aus: Annemarie Ohler, dtv-Atlas Bibel, Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Auflage, München 2006, S. 133

Mir fällt auf, dass Buch Ester ausdrücklich hervorhebt, dass die Erlasse des Königs jeweils in den verschiedenen Sprachen der Volksgruppen übersetzt wurden. Das Perserreich war zweifellos ein multikulturelles Gebilde, in dem sich keine „Leitkultur“ dominierend über die andere legte, sondern die Macht des Königs die zentrale Achse war, um die herum sich Politik, Recht und Herrschaft anordneten. Immer wieder tritt es freilich in der vernichtend harten Kritik etwa des Aischylos oder auch der Bibel hervor: Wo kein überpersönliches Recht herrscht wie etwa im alten Israel, wo keine starke, von allen getragene Identifikation mit dem Gemeinwesen ausgebildet wird wie etwa in der attischen Demokratie, da geht diese personalisierte Reichsvorstellung an sich selbst zugrunde. Tyrannei, also Macht ohne Legitimität, so kommen Aischylos und Buch Ester überein, hebt sich selbst auf, geht an Übertreibungen und Genusssucht zugrunde.

Es besteht mehr als ein Anlass, dieses Buch erneut zu lesen und sich einen Reim aus heutiger Sicht darauf zu machen! Das Theater Helmi im Jüdischen Museum zu Berlin – was für eine mutige, fruchtbare Zusammenstellung!

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Jan 072008
 

Anhand der neuesten Forschungsliteratur überprüfe ich meinen aus dem Kopf verfassten Eintrag vom 30. Dezember, in dem das in Augsburg entdeckte hebräische Graffito יהוה dokumentiert und besprochen wurde. Ein vortreffliches, neu erschienenes Handbuch lege ich hierzu auf meinen Schreibtisch:

Jan Christian Gertz (Hg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. 2., durchgesehene Neuauflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007 [=UTB 2745]

Auf Seite 122 lese ich dort zum Problem des Augsburger Graffito:

Nicht unerheblich ist die Frage nach der Bedeutung des Namens: Nach Ex 3,14 in masoretischer Vokalisation liegt eine Ableitung von der hebräischen Wurzel HYY „sein, werden“ im Grundstamm vor, doch wird seit Julius Wellhausen die arabische Wurzel HWY „wehen“ als plausibler angenommen, u.a. weil sie dem theologischen Profil des Jhwh als eines urspünglichen Wettergottes (vgl. Ri 5,4f; Hab 3,3; Ps 68,8f.; Dtn 33,2) eher entspricht. Philologisch ist von der Basis HWY aus beides möglich. Daraus ergibt sich für den Namen Jhwh die Alternative einer Deutung als finite Verbalform des Langimperfekts 3. P. m. Sg. im Grundstamm „er wird/ist“ oder „er weht“. Bei JHW handelt es sich um die entsprechende Form im Kurzimperfekt bzw. Iussiv „er sei/werde“ oder „er wehe“. Nimmt man anstelle des Grundstammes einen Kausativstamm an, erweitern sich die Deutungsmöglichkeiten (Jhwh: „er lässt sein“ bzw. „schafft“ [s. W. F. Albright] oder „er lässt wehen“. Die Übersetzung der LXX von Ex 3,14 „Ich bin der Seiende“ ist der griechischen Ontologie verpflichtet.

Für einen derartig gedrängten, mit mannigfachen Belegen untermauerten semantischen Abriss des hebräischen Gottesnamens kann man gar nicht dankbar genug sein. Ich empfehle das genannte Werk allen jenen, die die Hebräische Bibel (oder, wie manche sagen: das Alte Testament) mit Handreichungen durch die moderne Wissenschaft neu entdecken wollen.

Was ich allerdings in dem Band bisher nicht gefunden habe, ist eine fundamentale kritische Auseinandersetzung mit dem sicherlich anfechtbaren Begriff „Altes Testament“. Der Buchtitel „Altes Testament“ ist der Sammlung antiker Schriften nachträglich angeheftet und höchst problematisch. Manche Juden meinen mit gutem Grund, schon durch den Namen „Altes Testament“ werde ihnen ihre Schrift, ihre Bibel gewissermaßen enteignet. Selbst die frühen Christen nannten die Sammlung ihrer verbindlichen Schriften (Tora, Ketubim, Nebiim), zu denen nach und nach frühe Bekenntnisschriften der Jesusgemeinden hinzutraten, bis weit ins zweite Jahrhundert hinein nicht Altes und Neues Testament. Das hier angezeigte Buch hält sich übrigens dankenswerterweise von der früher häufig vorherrschenden rein christologischen Lesart der Hebräischen Bibel weit entfernt.

Nebenbei: Der Eintrag vom 30. Dezember in diesem Blog bedarf keiner sachlichen Korrektur.

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Nachrichten aus einer befestigten Siedlung

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Dez 302007
 

Wir melden uns aus Hochzoll-Nord, einem gutbürgerlichen Wohnviertel Augsburgs. Hier besuchen wir meinen Vater und Angehörige. Soeben kehren wir von einem Spaziergang zurück. Da ich hier aufgewachsen bin, kann ich die Veränderungen über die Jahrzehnte hin gut feststellen. Wir waren 2 Stunden auf den Beinen und sind nur fünf Menschen begegnet. Von Kindern keine Spur mehr! Stattdessen nimmt die Größe und Wuchtigkeit der vor den Türen geparkten Automobile von Jahr zu Jahr zu: ich zähle mehrere Mercedes der S-Klasse, zahlreiche SUVs (also massige Geländewagen), zahlreiche Schilder: „Ausfahrt freihalten – auch gegenüber“. Ein anderes Schild: „Vorsicht – Hund beißt manchmal.“ Aha! Es gibt auch hier einen Anflug von Humor. Wo sind die Menschen zu den Autos, wo sind die Leute zu den beißenden Hunden? Wo sind die Kinder? Ab und zu huscht eine Gestalt vorbei, packt etwas ins Auto. Ich grüße die wenigen verbleibenden Menschen freundlich und ernte aus Blicken zunächst Erstaunen darüber, dass: da grüßt jemand!

Wanja bekommt einen Schreianfall, kaum dass wir die Kirche Heiliggeist erreicht haben. Er hat Hunger, möchte sofort nachhause! Eine ältere Frau, bei der mein Vater sich für seinen schreienden Enkel entschuldigen zu müssen glaubt, schimpft verständnisvoll: „Ja, bei uns im Haus gibt es auch SO ETWAS. DAS führt sich auch so auf. Zu unserer Zeit hat’s ja SO ETWAS nicht gegeben.“ Ich schweige. Die Hausbesitzer in Hochzoll-Nord staffieren ihre Häuser zunehmend mit festungsartigen Trutz- und Schutz-Elementen aus: hier ein Türmchen, da ein neuer, höherer Zaun, dort eine krönende Zinne – ein unglaubliches stilistisches Durcheinander mit lauter Anleihen an die Zeit, als die Kleinadligen sich noch mit Wimpeln, Kutschen, Karossen und Zugbrücken hervortaten! Das ganze Geld scheint heute in PS-starke Autos, Häuser und Warnschilder zu fließen.

An der Wand der Heiliggeist-Kirche hat jemand insgesamt vier gleichlautende Graffiti aufgesprüht: Das hebräische Tetragramm, also die Selbstbezeichnung Gottes aus dem Tanach. Das rabbinische Judentum vermeidet etwa seit dem 1. Jahrhundert, diese vier hebräischen Buchstaben auszusprechen und verwendet im Kult stattdessen Bezeichnungen wie Adonaj („mein Herr“) oder Ha-schem („der Name“).- Mein erstes Empfinden: Großartig – es gibt also noch Menschen mit Sinn für Unordnung. Diese Geste, die Botschaft dieser Graffiti bleibt aber für mich schwer zu deuten. Was mag wohl in dem Menschen vorgegangen sein, der in hebräischer Quadratschrift den hebräischen Namen G’TT auf die Wand sprühte? Dachte er etwa: „Gott der Juden und Christen und Muslime, erbarme dich dieses ganzen Viertels!“? Oder wollte er die Christen daran erinnern, dass sie nur ein Abkömmling, ein Reis vom Stamm des alten Israel sind? Ferner: Wird der Hausherr die Anordnung zur Löschung des „Namens“ geben? Er ist da ganz schön in Tsores geraten! (Tsores ist übrigens ein altes jiddisches Wort für Drangsal, Zwickmühle).

Aufnahme: Graffito an der Außenwand der Heilig-Geist-Kirche, Augsburg-Hochzoll, aufgenommen am 30.12.2007

Wir gehen mit Vater spazieren, der seinen Rollator mit Mühe durch die engen Bürgersteige steuert. Im Vergleich zu Berlin weist dieses Viertel noch sehr viele bauliche Barrieren auf. Kein gutes Pflaster für Gehbehinderte! Kinder und Jugendliche gibt es hier allem Anschein nach nicht mehr. Ich komme zu dem Schluss: Das ist eine mögliche Zukunft der deutschen Gesellschaft mit ganz wenigen Kindern, vielen Straßen, Autos und Verbotsschildern. Wollen wir das?

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Ernest Bloch Simchas Torah

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Sep 282007
 

Radelte in strömendem Regen von der Arbeit nachhause. An meinem guten Abus-Schloss hatten sich „Interessenten“ zu schaffen gemacht und die Plastikumhüllung tatsächlich schon abgeschnitten! Weiter sind sie nicht gekommen. Nach zwei Tagen fand ich endlich wieder Zeit, um Geige zu spielen. Griff zu der fast schon vergessenen Reinel-Geige von 1937, da meine Leib- und Magengeige gerade zwecks Einstellung und Überholung beim Geigenbauer ist. Die Reinel-Geige zeigt sich verschnupft und muss erst wieder aufgetaut werden. Ich arbeite dazu an Ernest Bloch, Baal Shem, Three Pictures of Chassidic Life. Am besten passt mir heute das dritte Stück daraus, Simchas Torah – es ist der Abschlusstag von Sukkot, dem Laubhüttenfest. Eine schwelgerische, kraftvolle, eindringliche Musik, aufgebaut aus einfachen Elementen. Geigerisch weniger schwierig, aber sehr wirkungsvoll! Nehme mir vor, am Thema „Wiederholung“ zu arbeiten. Ein Motiv, das mehrfach vorkommt, verändert sich. Versuche, spannend zu spielen, auch wenn die Klavierbegleitung fehlt. Habe kein Kolophonium im Haus; das ist eine gute Übung – ich versuche, den Boden so innig in Kontakt zur Saite zu bringen, dass er geradezu festklebt, auch ohne Bogenharz.

Im Jüdischen Museum in der Lindenstraße gibt es ja das neue Glasdach, mit dem Architekt Libeskind auf das Laubhüttenfest hinweist, in dem das Wohnen des Menschen im Angesicht des Gartens Eden beginnt. Möchte am Wochenende unbedingt hingehen! Zum Laubhüttenfest wird das Gebet um Regen gesprochen. Und Regen kam! Regen pladderte um die Beine, kroch in die Kleidung, durchnässte die Schuhe. Flüchtige Blicke, aufgelöste Haare, dicker BMW hält hart am Randstein und versperrt den Radlern das Weiterkommen. Aber er hat keine Chance, ich umkurve ihn. So geht es voran im strömendem Regen, heute. Und das war der Tag.

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