Kürzlich traf ich im bezirklichen Fahr-Rat mit einer Vertreterin des „Mieterrates Chamissoplatz“ zusammen. Uns kaltschnäuzigen Radlern wurden die Leviten gelesen. Klar. Aber wer war Chamisso? Ich will mehr wissen und versuche heute eine Gesamtausgabe zu kaufen. Fehlanzeige! Es gibt im Handel derzeit keine Ausgabe von Adalbert von Chamisso zu kaufen – ebensowenig wie von Ludwig Erhard.
Erneut stelle ich fest: Die Deutschen verlieren in atemberaubendem Tempo ihre Vergangenheit. Ich habe dies auch bei der Podiumsdiskussion der Adenauer-Stiftung am vergangenen Mittwoch in aller Härte gesagt: „Unsere jungen Männer wachsen in ein kulturelles Vakuum hinein.“ Geht ins Prinzenbad, geht auf die Plätze, sprecht mit den Jungs in den Kiezen! Sie haben keinen echten Bezug zu irgendwelchen kulturellen Hervorbringungen des Landes, in das sie hineingeboren werden. In das kulturelle Vakuum, das wir den Jungen anbieten, stößt sieghaft, nahezu unbezwinglich der Islam vor. Der Islam ist für die muslimischen Jugendlichen eine geistig-moralische Prägekraft allerersten Ranges, vergleichbar allenfalls der Strahlkraft, die das europäische Christentum etwa bis ins 18. Jahrhundert hinein auszuüben vermochte. Fundamentalistische Strömungen erstarken, der moderate, durch die türkische Ditib gezügelte Islam nimmt ab, der kompromisslose, herrische Islam nimmt zu.
Wir verbleibenden Deutschen leben mit unserem Interesse für Ludwig Erhard, Konrad Adenauer, Rosa Luxemburg, Goethes „West-östlichen Divan“ oder auch Adalbert von Chamisso in der extremen Diaspora. Wenn die Verlage einen nach dem anderen importierten amerikanischen Bestseller auf den Markt werfen, aber Stimmen wie etwa die eines Adalbert von Chamisso nach und nach verlöschen, dann zerfasert unser kulturelles Nervengeflecht – es löst sich auf, Präsentismus herrscht. Außer dem gerade Angesagten gibt es dann nichts mehr.
Der über 1000 Jahre alte Text des Koran wird in diese sich auflösenden Nervengeflechte hineinwachsen und tut dies im Alltag der jungen Muslime bereits jetzt. So erschienen am Bayram-Fest in der vergangenen Woche fast keine Schüler zum Unterricht in unserer Klasse. Sie blieben einfach zuhause, begingen das religiöse Fest. Die Schulpflicht ist demgegenüber absolut sekundär. Erst kommt die Religion, dann die Schule.
Gerade Adalbert von Chamisso wäre – wie Goethe – ein idealer Brückenbauer zum Islam (wie auch zum Judentum). Was für eine traurige Verlustmeldung, dass dieser Dichter heute weder gelesen noch auch nur verlegt wird!
Heute las ich das staunenswerte Gedicht „Die goldene Zeit“ von Adalbert von Chamisso. Hört doch folgende Verslein daraus:
Ungeschickt zum Löschen ist
Wer da Öl gießt, wo es brennt;
Noch ist drum kein guter Christ,
Der zu Mahom sich bekennt.
Scheut die Eule gleich das Licht,
Fährt sich’s doch vorm Winde gut,
Besser noch mit Wind und Flut
Aber gegen beide nicht.
Das ist groß, das ist verrätselt, das erregt mir Sensationen, als hätte ich ein Gedicht von Rimbaud oder Verlaine gelesen! „Wer zu Mohammed sich bekennt, ist deswegen kein schlechter Christ!“ So deute ich den Sinn der Verse 3 und 4. Es gab über das gesamte 18. Jahrhundert hin und weit drüber hinaus eine lebhafte Debatte über den Islam, an der sich Voltaire, Goethe, Chamisso und viele andere beteiligten. Nichts davon ist den Menschen heute noch gegenwärtig. DAS ist ein kulturelles Versagen allererster Größe.
In Chamissos Versen finden wir die prästabilierte Harmonie der Religionen, das ist Goethe, ist Lessing, das ist Navid Kermani, das ist der Geist, den wir heute brauchen! Gerade hier im Chamissokiez und heute in Kreuzberg!
Am kommenden Samstag,19.12.2009, findet folgende Lesung statt:
Tzveta Sofronieva und Adalbert von Chamisso. Weilands Wellfood, Bergmannstraße 5-7, Kreuzberg-Chamissokiez, Beginn 16.00 Uhr. Eine Veranstaltung der neugegründeten Chamisso Akademie.
Da muss ich hin – bin sehr sehr gespannt!
Wird es uns gelingen, den rapiden Gedächtnisverlust aufzuhalten?
3 Responses to “Verlustmeldung: Chamisso!”
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Danke für Ihren Zwischenruf, der mich nachdenklich stimmt. Natürlich sind meine Befürchtungen stark durch meine Alltagserfahrungen geprägt. Die muslimischen Kinder sind nun einmal mit etwa 90% in unserem Umfeld, in unserer Schule die absolute Mehrheit. Sie sind keine Randgruppe – wir sind die Randgruppe, sofern es uns nicht gelingt, ein gemeinsames Leitbild aufzubauen und vorzuleben.
Und die nichtmuslimischen Eltern haben sich fast vollständig zurückgezogen. Diesen Rückzug, diese fast völlige Abschottung der Volksgruppen voneinander, die halte ich für schlecht.
„In das kulturelle Vakuum, das wir den Jungen anbieten, stößt sieghaft, nahezu unbezwinglich der Islam vor.“
Ich glaube, da gehen Ihnen die Adjektive durch wie gescheute Pferde.
Natürlich wenden sich viele junge Leute, die einer ausgegrenzten und angefeindeten Minderheitenkultur angehören, einem vitalen Glaubensangebot zu, wenn es zur Verfügung steht.
Aber glauben Sie im Ernst, dass das die kulturverwahrloste nicht-muslimische Jugend ihnen nachmachen wird? Und nicht einmal die muslimische Jugend wird es mehrheitlich durchhalten in unserer verführerisch verkommenden Welt.
Der Islam in Deutschland wird nicht siegen. Im Gegenteil – wie die deutsche Geschichte zeigt.
Wir Deutsche übernehmen Döner und vielleicht noch das Minarett, aber doch niemals die Werte und Normen der Muslime. Wenn das mal einer macht, ist das die seltene Ausnahme, die es fast immer gibt.
Und die Vorstellung, dass die Muslime etwa 2050 demographisch die Mehrheit stellen würden, halte ich für abenteuerlich. (Haben Sie nicht behauptet. Ist nur eine Ergänzung mit Bezug auf andere, die sich Sorgen machen.)
Ich halte es für möglich, in der schwer krisengeschüttelten Zukunft wird die muslimische Minderheit in Deutschland – und wenn sie mehrheitlich noch so aufgeklärt und integriert sein sollte – ein ähnliches Schicksal erleiden wie die Juden: pauschales Ressentiment, staatlich sanktionierte Diskriminierung, Ausgrenzung, schließlich Vertreibung. (Ich bin mir fast sicher, dass es nicht zum letzten Schritt kommen kann, dem Massenmord.)
In unserem Blog charakterisiere ich die angeblich sieghafte Minderheit so:
„Eine vitale kleine an den gesellschaftlichen Rand gedrängte bedrohte diskriminierte ausgegrenzte mit sich selbst uneinige ziemlich verunsicherte um Integration, Arbeit und Wohnung ringende Minderheit versucht heroisch etwas von ihrem Eigenen in einer ihr feindlichen Umwelt zu bewahren.“