„Mein Vater kennt mich nicht, die Mutter liebt mich nicht.“ So heißt es im Popsong Waldeslust, 2. Strophe.
Ein furchtbares Schicksal erlebte May Ayim, zu deren Andenken heute eine Gedenktafel enthüllt wurde: Ihr Vater, ein Ghanaer, verließ die Mutter bei der Geburt, die Mutter gab das Kind ins Heim. Es gibt kaum etwas Schrecklicheres für ein Kind, als wenn es beide Eltern verliert. Ein Leben lang wird das Kind dann fragen: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich?
Die Väter, die die Mütter verlassen – das ist ein riesiges Problem, auf das gerade Präsident Obama immer wieder mahnend hingewiesen hat. Was hierzulande niemand weiß: Gerade in den USA verlassen 50% der Väter in manchen Communities die Mütter. Ein sozialer Sprengsatz des Elends!
May Ayims Gedichte, wie sie etwa heute vorgetragen wurden, sind für mich Zeugnis einer unrettbaren Traurigkeit, aber auch eines unbändigen Lebenswillens. Immer wieder versank sie in abgründige Schwermut.
In dem Gedanken, dass sie Opfer des Rassismus geworden war, mochte May Ayim vor ihrem Selbstmord so etwas wie Trost finden. Im Grunde eine reine Schutzbehauptung, denn das riesige, das nicht wiedergutzumachende Trauma ist die massive Gewalt, die Verlassenheitserfahrung, denen May im Heim und in der Pflegefamilie ausgesetzt war. Man lese doch einmal ihre Gedichte durch – immer und immer wieder kehrt der Gedanke, schuldig-unschuldiges Opfer ihrer Eltern, ihrer Umwelt geworden zu sein.
Die Gedenkgemeinde spann heute eifrig an dieser trügerischen Schutzbehauptung weiter: „Überall gibt es Rassismus in Deutschland. Wir alle können Opfer werden. Nie wieder Rassismus!“ So der Tenor. Ich sehe da ritualisierte Opferdiskurse am Werk. Das große Risiko liegt darin, dass Menschen eingeteilt werden nach Opferkategorien. „Du bist schwarz in Deutschland – also begreife dich als Opfer jahrhundertelanger Unterdrückung!“ Das halte ich für gefährlichen Unsinn, dem ich aber immer wieder begegne. Er ist nichts anderes als Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen.
Fast jährlich tauchen unter dem Vorzeichen des umgekehrten Rassismus, also des perpetuierten Opferdiskurses, neue Opferkategorien auf: DIE Homosexuellen, DIE Transgender-Menschen, DIE Menschen mit Migrationshintergrund, DIE letzten Deutschen in Wedding usw. usw.
Leider fehlte mir auch nur der geringste Hinweis darauf, dass wir heute eben nicht mehr im Kolonialismus leben. Wir haben heute zum Glück in Deutschland eine diskriminierungsfreie Rechtsordnung.
Gerade die herrlich selbstbewussten Reden über Selbstermächtigung belegen, dass wir in Freiheit von staatlichem Zwang und rassistischer Unterdrückung leben. Rassismus ist keine Konstante der deutschen Geschichte.
Nie wieder Rassismus? Ich würde eher sagen: Nie wieder darf es vorkommen, dass Kinder solcher Herzenskälte, solch verheerender, solch liebloser Behandlung ausgesetzt werden. Was May Ayim angetan wurde, darf sich nicht wiederholen. Wir alle sind aufgerufen, den Kindern ein wärmendes, hegendes Nest zu bieten.
Allerdings muss ich das hohe Reflexionsniveau der Veranstaltung loben! Geschichte aus der Sicht der Opfer – ein sehr guter Ansatz. Die vielen Straßen in Kreuzberg, die nach Militärs und Generälen benannt sind, gehen auch mir schon lange auf den Senkel. Wo bleiben die Komponisten, die Dichterinnen, die Heiligen und die reuigen Sünder? Aber soll man jetzt alle Straßen umbenennen?
Ich denke, ein historischer Lernpfad zu bestimmten Themen wie etwa Kolonialismus oder Rassismus täte es auch. Straßenumbenennungen sind sehr teuer, ziehen Geld von Schulen, Kitas, historischen Lehrpfaden und Radwegen ab. Dabei leugne ich nichts: Selbstverständlich gibt es auch heute rassistische Haltungen in Deutschland, gegen die wir angehen müssen wie etwa gegen Alkoholismus, Kindesvernachlässigung, Magersucht und Faulheit auch.
Aber Rassismus ist nicht endemisch, wie er dies früher im 19. Jahrhundert war. Ich erlebe eine ungute Inflation der Rassismus-Diagnosen, die den Begriff fast sinnlos gemacht haben. Es gilt jeden Menschen in seiner unvergleichlichen Einzigartigkeit, in seiner unzerstörbaren Würde anzunehmen und zu lieben. Ihn in Opferkategorien und Opferdiskurse zu stecken, ist das Gegenteil davon.
Bild: Joshua Kwesi Aikins, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Er hielt eine brillante, sehr gut formulierte, sehr gut vorgetragene Rede.
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