Um Griechenland zu verstehen, muss man mit den Griechen selbst, mit kenntnisreichen Auslandsgriechen, aber auch mit Reisenden und Kaufleuten anderer Nationen sprechen, die das Land gut kennen, dort gelebt und gearbeitet haben, die Sprache sprechen. Man muss Griechenland bereisen, sich buchstäblich ins kαφενεíο setzen und den Menschen zuhören – wie es wohl Herodot einmal bei den fernen Skythen und den Ägyptern machte. Tut man dies, so wird man – als Herodot unserer Tage – etwa folgende Geschichte erzählen können, wie sie die Menschen, die sich auskennen dürften, auf den Tisch der Tavernen legen:
1) In Griechenland, so wurde mir erzählt, herrsche seit vielen Jahrzehnten eine kleine, begüterte Oberschicht, bestehend aus nicht mehr als 20 Familien, die den Großteil des privaten Vermögens besäßen und über die Verteilung staatlicher Mittel entschieden. Die beiden großen Parteien ND und PASOK seien ebenfalls im Besitz dieser Familien. Es herrsche ein unbeschreibliches Maß an Korruption und Vetternwirtschaft. Eine gute chirurgische Operation bekomme man nicht ohne vorher 20.000 Euro schwarz und in bar auf den Tisch des Chirurgen zu legen. Alle Chirurgen besäßen – trotz offiziell bescheidenster Gehälter – Luxus-Jachten. Die Korruption sei endemisch und durchziehe das ganze System.
2) Die demokratischen Gremien – Parlament, Regierung, Gewerkschaften, Parteien – seien mehr oder minder Staffage für interne Ressourcenverteilungskämpfe. Es herrsche in ganz Griechenland ein nahezu unbeschreiblicher Klientelismus.
3) Die griechische Gesellschaft sei weiterhin zutiefst gespalten, der verheerende Bürgerkrieg von 1946-1949 sei übertüncht, aber nicht aufgearbeitet. Vom italienischen Überfall auf Griechenland an, der Griechenland in den Weltkrieg gerissen habe, über die Besetzung durch Deutschland werde die gesamte Zeitgeschichte in lügenhafter Verzerrung dargestellt, die darauf abziele, Griechenland als Opfer fremder Mächte statt als bürgerkriegsgeschüttelte Gesellschaft zu zeigen. Selbst Besatzung und Widerstand seien in Wahrheit teilweise als innergriechischer Bürgerkrieg zu sehen.
4) Seit Jahrzehnten, so wird erzählt, würden immer wieder die Deutschen als Sündenböcke für eigene Unzulänglichkeiten und Staffage für eigene Großmannsträume hergenommen.
5) Die Deutschen wiederum hätten sich durch kaltherzige Besserwisserei und Schulmeisterei im Griechenland unbeliebt gemacht. Sie hätten kein Zeichen der Empathie gesetzt. In London kauften die Superreichen Griechenlands mit EU-Mitteln ganze Straßenzüge auf, zuhause in Griechenland wüchsen Arbeitslosigkeit, Verschuldung und gerechter Zorn, und die Deutschen setzten den Griechen jetzt die Daumenschrauben an.
5) Hauptursache der Staatsverschuldung in Griechenland scheine nicht so sehr der Staatshaushalt zu sein als vielmehr die durchweg akzeptierte Mitnahme- und Selbstbereicherungsmentalität der griechischen Oberklasse, die von ganz oben bis nach ganz unten durchsickere. Die politische Klasse des Landes sei nicht vertrauenswürdig.
6) Die griechische Oberklasse, so wird berichtet, schaffe in diesen Wochen verstärkt in riesigen Mengen staatliches Geld, vor allem auch EU-Geld beiseite, investiere dies in Immobilien im Ausland, namentlich in Deutschland, Großbritannien und USA.
7) Die bisherigen EU-Hilfen schienen dieses durch und durch korrupte System zu stützen und zu verstetigen.
8) Derartige Wahrheiten würden aber öffentlich kaum ausgesprochen, da jeder Grieche, der dies täte, sofort als Nestbeschmutzer verschrieen würde.
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Καφενεíο
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