2 Wochen nachdem der weltweit gelesene Economist über unseren Bezirk berichtet hatte (dieses Blog war am 05.04.2008 dabei), richtet nun auch der aktuelle Spiegel (Nr. 17/21.04.2008) seinen Scheinwerfer auf unseren Ost-West-Bezirk. Auf S. 31 der gedruckten Ausgabe berichtet er von Eltern aus dem grün-alternativen Milieu, die derzeit versuchen, „eine private Schule zu gründen:
Die dafür zuständige Politikerin des Bezirks kommt ebenfalls von den Grünen, möchte die Kinder aber auf einer staatlichen Schule sehen, schon um den Ausländeranteil zu senken. Doch die Eltern sind nicht bereit, sich auf das Multikulti-Experiment einzulassen. Wenn ihnen der Bezirk keine eigene Schule erlaubt, werde man aus Kreuzberg wegziehen.“
Bereits letztes Jahr konnte man die Einzelheiten dieses Kulturkampfs um die Schule im Tagesspiegel nachlesen.
Wer aber ist die dafür zuständige „Politikerin des Bezirks“? Hierzu schlage ich eine vortreffliche Publikation auf, die ich mir heute kostenlos aus dem Bürgeramt im Rathaus Kreuzberg geholt habe: die Bezirksbroschüre „Friedrichshain-Kreuzberg. Ein Bezirk mit vielen Gesichtern. 2007/2008“. Ein Brevier über unseren Bezirk, das alle wichtigen Adressen enthält, ein buntes Panorama all der Gruppen und Vereine bietet, die unserem Bezirk seinen unvergleichlichen Charme verleihen. Daneben wird unser Bezirksamt sehr übersichlich und nachvollziehbar dargestellt. Sehr gut aufgemacht, das Heft sollte in keiner Friedrichshain-Kreuzberger Privatbibliothek fehlen! Die im Spiegel leider nicht namentlich erwähnte Bezirkspolitikerin heißt – so lese ich auf S. 70 der Broschüre – Monika Herrmann, sie hat Politische Wissenschaften studiert und ihr Hobby ist – Kommunalpolitik. Sie amtiert als „Bezirksstadträtin für Jugend, Familie und Schule“. Sind diese Ämter für Bezirksstadträtinnen also nebenamtlich, oder ist das ein falscher Schluss?
Das Wandkartenproblem habe ich heute ebenfalls zum Teil gelöst: In der Buchhandlung Anagramm am Mehringdamm erstand ich für 10.70 Euro die „Karte von Berlin. Friedrichshain-Kreuzberg“, herausgegeben vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin. Ein vortreffliches Werk im Maßstab 1:10 000, das unter anderem auch Bundesstraßen, Hauptverkehrsstraßen und Nebenstraßen gesondert ausweist – beste Grundlage also für Gespräche mit Behörden! Als ich den Plan entfaltete, fiel mir gleich das Wort des Aristoteles über seine Heimatstadt Athen ein – er sagte nämlich, nur in einer Polis, die der Größe nach „eusynoptos“, also übersichtlich sei, könne sich echte Demokratie im Sinne eines fraglosen Zugehörigkeitsgefühls und im Geiste der Freundschaft entfalten. Die Großreiche waren ihm verdächtig – sein Schüler Alexander hat den Meister in vollem Umfang bestätigt, denn in seinem Weltreich konnte von Demokratie nicht einmal im Ansatz mehr die Rede sein. Und unser Bezirk ist kartographisch wahrhaftig überschaubar – beste Voraussetzungen für gelebte Demokratie! Nebenbei: mit rund 263.00 Einwohnern ist er etwa so volkreich wie der Stadtstaat Athen zur Zeit des Aristoteles.
Mehr Demokratie mahnt auch die Initiative ICAT zum Erhalt des Flughafens Tempelhof in der heutigen Wurfsendung in einer unsterblichen Formulierung an:
„Die Politik hat sich in eine Argumentation verrannt, aus der sie jetzt keinen Ausweg mehr weiß“.
Berlins erster Volksentscheid soll also „die Politik“ aus ihrer Unfähigkeit erlösen! Ein kluger Schachzug, so zu argumentieren. Denn politikverdrossen sind wir irgendwie ja alle, da tut es nur gut, es denen da oben mal so richtig zu zeigen. Auch der Spiegel bringt diese Woche auf S. 50 ein paar interessante Betrachtungen zur Blüte des Volksentscheids. Ich selbst vermute deshalb, dass der Volksentscheid am Sonntag zu einem Erfolg, einem numerisch knappen Erfolg der Befürworter der Offenhaltung führen wird, und zwar aus dem Grunde, weil die ICAT gerade in diesen Tagen kommunikativ geschickter, unübersehbar weit besser agiert als die Gegner, deren dröge Anti-Haltung kaum einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken kann. Die ICAT spielt in diesen Tagen die Karte der direkten, partizipativen, aufsässigen „Wir-sind-die -Bürger-Haltung“ aus, wählt frische, starke Farben, und vor allem: sie formuliert ihre Aussagen stets positiv, nach vorwärts gerichtet. Klug auch: Sie haut nicht mehr auf den Regierenden Bürgermeister Wowereit ein, sondern auf „die Politik“; das sind rote Teppiche für noch alle unentschlossenen SPD-Wähler. Das sind die Trümpfe, die bei einer derart diffusen Mal-hü-mal-hott-Argumentationslage, wie sie sich jahrzehntelang und parteiübergreifend über dem Flughafen Tempelhof zusammengebraut hat, vermutlich den Ausschlag geben.
Unser heute geschossenes Bild zeigt Filmaufnahmen am Potsdamer Platz, und zwar an einer Stelle, die leider gerade nicht mehr zum Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gehört, aber nur50 Meter von da beginnt schon unser Gebiet. Auch bei uns werden oft Filme gedreht – meist vom Leben selbst!
2 Responses to “Die Welt schaut auf Friedrichshain-Kreuzberg”
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Lieber Herr Wehrl, vielen Dank für Ihren Beitrag! Die Bezirks-Stadträte haben hauptberuflich tüchtig zu ackern, bis zu 60 Stunden Arbeit pro Woche, das hat mir nach Ihnen ein BVV-Mitglied bestätigt. Der erste Volksentscheid und die weiteren geplanten Volksentscheide bringen in der Tat Bewegung in die Landschaft. Auch ich finde das gut! Denn die Parteien, die ja tatsächlich eine Zeitlang eine Art Quasi-Monopol auf die politische Willensbildung beansprucht haben, „werden sich noch umsehen müssen“, vor allem natürlich diejenigen, die das Sagen haben. ProReli verdient Unterstützung, und genauso der laufende Antrag zum Kita-Volksbegehren. Den Versuch, das Rauchverbot in Gaststätten durch ein Volksbegehren auszuhebeln, werde ich aber nicht mittragen, zumal viele Parteiveranstaltungen in Gaststätten stattfinden, und daran sollen doch auch Schwangere, Herzkranke, Allergikerinnen und Allergiker ohne Beeinträchtigung der Gesundheit teilnehmen können! Allerdings meine ich: Die Parteien sollten sich – wenn sie überhaupt aktiv eingreifen – bei Volksentscheiden eher als „Dienerinnen der Sache“ oder „Gesprächsforen“, nicht als „Motoren“ oder „Kampagnenführer“ verstehen. Ganz im Sinne des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Ich kenne Wähler der jetzigen Senatsparteien, die einfach deswegen nicht mit „Ja“ zu Tempelhof stimmten, weil die ganze Auseinandersetzung ihnen zu stark personalisiert und instrumentalisiert vorkam. Als wäre es hier darum gegangen, sich prinzipiell gegen oder für den regierenden Senat in Stellung zu bringen. Das konnte eigentlich nicht Sinn und Zweck eines Volksbegehrens sein. Beste Grüße, Johannes Hampel
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in der Debatte um die private Schule, der von der zuständigen Politikerin laut Presse auch thematisiert wurde: In der evangelischen Schule soll es – natürlich – evangelischen Religionsunterricht für alle geben.
Und eben der wurde von Rot-Rot, mit Billigung vieler aus dem grünen Umfeld, im Land Berlin als Wahlpflichtfach abgeschafft. Pflicht ist jetzt stattdessen der Ethikunterricht. Schwer nachzuvollziehen, daher noch einmal mit anderen Worten: Jede(r) MUSS am Ethikunterricht teilnehmen, Religion ist nur zusätzlich und damit in der Freizeit möglich.
Die Wahlmöglichkeit zwischen „Ethik“ und „Religion“ haben die sich so aufgeklärt und modern generierenden Politiker einfach abgeschafft.
Deshalb wird es nach dem ersten Volksentscheid zu „Tempelhof“ demnächst einen zweiten geben, „ProReli“, und auch hier darf man auf den Eiertanz des Senats gespannt sein.
Wenn die Regierung durch ideologische Scheuklappen die Realität nicht mehr wahrnimmt (die ELEMENT-Studie zur Effizienz des gymnasialen Unterrichts ab Schulklasse 4 ist hier ein weiteres, aktuelles Beispiel), muss eben der Souverän, das Volk, ein wenig nachhelfen.
Frau Herrmann ist übrigens eine engagierte, couragierte und fähige Kommunalpolitikerin – das heißt natürlich nicht, dass man nicht auch mal anderer Meinung sein kann.
(Und Stadträte werden in Berlin ganz gut – ihrer Verantwortung in der Verwaltung angemessen – bezahlt, sind also mehr als ein Inhaber eines Ehrenamts.)