Mai 032008
 

subbotnik260420081.jpg schneiderhampellucas_097.jpgAm Freitag, 25. April, besuchte ich die zweite Auflage von „Doppelgedächtnis„, der verdienstvollen Vortragsreihe, die die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ anbietet. Diesmal versammelten wir uns im Deutschen Historischen Museum. Monika Flacke, die Gastgeberin des Hauses, warf in ihrer Begrüßung gleich einen Stein ins Wasser. Sie stellte fest: Es fehlt uns in Europa ein gemeinsames Narrativ. Wir können wohl einzelne Erzählstränge aufarbeiten und prächtig ausstellen, aber es gibt keinen gemeinsamen Faden, keinen gemeinsamen Gedächtnisraum.

Tibor Pichler von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften legte den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf einen ganz besonderen Raum europäischer Geschichte: das Habsburgerreich mit seinen Nachfolgestaaten. Es sei diesem Gebilde nicht gelungen, aufkommende nationale Bestrebungen und den Wunsch nach demokratischer Repräsentation auszubalancieren. TomᚠGarrigue Masaryk habe sich exemplarisch an der Aufgabe abgearbeitet, den Eigenwert eines neuen, aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns hervorgegangen, ethnisch begründeten Nationalstaates, der Tschechoslowakei, „im Dienste des Rechts“ zu verankern. Hierbei habe er im Spannungsfeld zwischen im eigentlichen Sinne „politischen“ und „holistisch-tribalistischen“ Grundauffassungen von Staatlichkeit gestanden.

Der Beitritt der zweiten slowakischen Republik zur Europäischen Union kam dabei fast einer zweiten Staatsgründung gleich.

Ich hätte gern mehr über die Gründe dafür erfahren, weshalb die Slowaken zwei Mal, im Jahr 1939 und im Jahr 1993, die Tschechoslowakei so eilig verließen. War die Staatskunst etwa eines Masaryk auf Dauer doch nicht ganz ausreichend, um die zahlreichen ethnisch grundierten Missverhältnisse und Misstöne zwischen Tschechen einerseits und Slowaken, Deutschen, Ungarn und anderen Minderheiten andererseits auszugleichen? Wie kam es, dass die beiden Staaten Slowakei und Ungarn sich ab 1939 bzw. 1940 als willfährige Bündnispartner des kriegführenden Deutschen Reiches etablierten? An solchen Detailfragen, die normalerweise ausgeblendet bleiben, würde sich Wert und sachlicher Erkenntnisgewinn derartiger verdienstvoller Vortragsveranstaltungen bemessen. Immer wieder schlägt – so meine ich – stattdessen bei den Völkern im östlichen Mitteleuropa ein Hang zur Viktimisierung durch, zu jener Haltung also, die konsequent und über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg für sich beansprucht, Opfer der beiden Großmächte Deutschland und Sowjetunion gewesen zu sein. Aber mindestens für die Tschechoslowakei gilt: sie war bis 1939 ein demokratischer Staat, dem es gleichwohl an Zustimmung bei wesentlichen Bevölkerungsgruppen fehlte. Warum das? Was können wir aus den giftigen Animositäten der ethnischen Gruppen lernen?

O ihr Ungarn, Slowaken, Ukrainer, Slowenen und ihr anderen Völker: erzählt uns mehr von euch, sagt, wie es war, gleitet nicht allzu schnell, allzu ungenau über die lächelnden Oberflächen der Begriffsbildungen hinweg, seid weniger Philosophen, seid mehr Berichterstatter, Erzähler, – wir in Deutschland, Frankreich oder Italien wissen viel zu wenig von euch! Schildert doch mal bitte eine einzige Situation, aus der wir lernen können, was in euch vorgeht, „wie ihr tickt“! Wer war Horthy, wer war Hlinka, wer war Hácha, wer war Tiso? Selbst Historiker in Deutschland wissen mit diesen und anderen Namen kaum etwas anzufangen. Kroaten, Serben, Ruthenen: Seid kein Buch mit sieben Siegeln, ihr seid doch genauso Kerneuropa wie wir! Zeigt uns Bilder, gebt uns Fäden in die Hand, mit denen wir euer Schicksal verstehen können!

Einen meisterhaften Querschnitt durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts lieferte Edward Lucas vom Economist ab. Profunde Detailkenntnisse, gepaart mit einem unerbittlichen Blick auf die zahlreichen Ungereimheiten, Heucheleien und Halbwahrheiten, mit denen die zahlreichen europäischen Völker sich ihre eigene Geschichte mehr oder minder selbstgefällig zurechtlegen. Lucas sparte niemanden aus, weder Großbritannien noch Russland, noch die baltischen Staaten. Und endlich, endlich, brach auch heftige Kritik am aktuellen Regierungshandeln durch: so etwa, wenn er Deutschlands mit den europäischen Partnern nicht abgestimmtes Vorgehen bei den Gasgeschäften mit Russland angriff. Der Machtwille des Kreml dürfe auf keinen Fall unterschätzt werden, und durch Uneinigkeit schwäche sich die Europäische Union gegenüber den Verhandlungsführern im Kreml auf empfindliche Weise.

Gesamteindruck: Anregende, wichtige Gedanken, denen kaum zu widersprechen war, bei denen ich aber gerne an vielen Stellen nachgehakt hätte. Die Fragestellung war jedoch zu umfassend, als dass sie wesentliche neue Einsichten hätte erbringen können. Daraus sollte man niemandem einen Vorwurf machen, am allerwenigsten den Vortragenden.

Entschiedenen Widerspruch muss ich dagegen einlegen, wenn wieder und wieder Russland als diejenige Macht dargestellt wird, vor der wir in Europa etwa Angst haben müssten. Russland – so meine langjährige Erfahrung – ist heute ein zutiefst europäisches Land, das mit vielen anderen Ländern Europas gemeinsame Züge trägt: darunter ein starkes nationales Sonder- und Sendungsbewusstsein, gekoppelt mit einer tiefgreifenden Überformung durch kirchliche, in diesem Falle ostkirchliche Legitimationsbestrebungen. Wir in der westlichen Hälfte Europas haben nicht den mindesten Grund, unsere Geschichte als etwas grundlegend Besseres auszugeben. Es gab Despotie, Unrechtsregime, Brutalitäten über mehr als 2 Jahrtausende hinweg in ganz Europa. Wir erleben nur derzeit, seit etwa 1945 bzw. 1990 einen historisch gesehen kurzen Moment, in dem Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenwürde ein größeres Gewicht haben – zu unserem Glück sind wir vereint, und diese Einheit haben wir nur durch tatkräftige Hilfe der USA und der Sowjetunion erringen können. Aber wir sollten ganz Europa „wohnlich, sturmfest, gastfreundlich“ ausgestalten. Dazu gehört, dass wir Russland, den Islam und die Türkei als Bestandteile unserer gesamteuropäischen Geschichte ernstnehmen und vom hohen Ross unserer Überlegenheit herunterkommen.

Unser heutiges erstes Bild zeigt drei junge Litauer, die wir einen Tag später, am 26. April, bei unserer Radttour durch Kreuzberg trafen. Sie hatten sich am Kreuzberger Ufer der Spreee, dem Gröbenufer, mitten in Berlin, zu einem tatkräftig-fröhlichen Subbotnik zusammengefunden. Sie räumten den Müll und Unrat weg, den andere über Wochen hinweg achtlos weggeschmissen hatten. Was für ein Bild: Diese jungen Balten, die sich zu einem Gastaufenthalt bei uns Berlin befinden, räumen unseren deutschen Dreck weg! Die Veröffentlichung des Bildes in unserem Blog erfolgt mit freundlicher Zustimmung der Abgebildeten.

Das zweite Bild zeigt Frau Schneider, stellvertretende Direktorin der Katholischen Akademie Berlin, den Blogger und  Edward Lukas.

10 Minuten nach der Begegnung mit den Litauern trafen wir übrigens an jenem Samstag einen Trupp etwa acht junger Deutscher, die sich nach einer durchgezechten und durchgekifften Nacht an der Brommybrücke häuslich niedergelassen hatten: es fehlte nicht an behaglichen Decken, weiterem Bölkstoff, Musik und würzigem Geruch afghanischen Krautes. Zur Begrüßung drehten sie erst einmal den CD-Player so laut auf, dass wir uns kaum mehr verständigen konnten. Die Botschaft der Deutschen an uns Kreuzberger Radwanderer war klar: „Wir sind hier zuhause, diese Brücke gehört uns, ihr seid hier nicht willkommen!“

 Posted by at 20:34

  2 Responses to “Was ist Europas Vaterland? Ist’s Griechenland, ist’s Britenland? Ist’s Russenland?”

  1. Persönlich finde ich es gar nicht wünschenwert, dass Europa mehr wird als eine Handelsunion. Aber selbst die politische Union bedingt in keiner Weise das Aufarbeiten einer gesamteuropäischen Geschichte. Selbst die meisten Mitgliedsstaaten sind nicht in der Lage eine für jede ihrer Volksgruppen akzeptable Geschichte darzustellen.
    Ich halte es für sehr viel sinnvoller das Augenmerk auf wirtschaftliche Prosperität und allgemeinen Wohlstand zu richten, als zu klären wer wann wo und warum Täter oder Opfer war. Und dass man seine Geschichte kennen müsse, damit sich Fehler und Tragödien nicht wiederholen, ist eine Binsenweisheit. Sind bestimmte Voraussetzungen gegeben, wird in bestimmter Weise gehandelt, Geschichte hin oder her. Die Gründe für Auseinandersetzungen zwischen Völkern oder Volksgruppen sind letztlich immer wirtschaftlicher Natur. Also ist das allgemein erfolgreiche Wirtschaften wesentlich eher als Garant für Frieden und Freiheit geeignet als das Aufarbeiten der Geschichte.

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