„Die Vaterstadt, wie find ich sie wieder …?“ fragte einst Bert Brecht bei seiner Rückkehr in seine zerbombte Heimatstadt Augsburg. War sie zerbombt, als ich vergangenen Samstag zurückkehrte? Nein, im Gegenteil! Verändert, gewandelt – ja, aber immer noch dieselbe aufgeräumte, maßvolle, überschaubare und im Grunde wohlgeordnete Welt! Die Wiederbegegnungen mit den Klassenkameraden offenbarten eine über all die Jahrzehnte hinweg eher noch vergrößerte Nähe – vermutlich ist uns allen klar, dass keine Zeit so prägenden Einfluss auf den Menschen ausübt wie die ersten zwanzig Lebensjahre. Das hält zusammen, auch wenn die Wege sich stark entfernen.
In der Predigt des Gottesdienstes hob Prior Pater Theodor hervor, wie fundamental das Christentum durch die Kultur der Erinnerung geprägt sei. Ich fügte in Gedanken hinzu: Das gilt auch für Judentum und Islam. „Ich bin mein Erinnern“, so Augustinus. In der Kirche durfte ich auf der Geige zwei Soli spielen: Das berühmte Air von Bach aus der Orchestersuite Nr. 3 D-Dur, und zusammen mit Irina Potapenko Vivaldis „Gloria patri“, Willi Hafner spielte die Orgel.
Bezeichnend der folgende Dialog mit dem neben mir stehenden Kameraden beim Gruppenfoto im Seminarhof: „Und wer bist du?“, fragte ich den neben mir Stehenden, der mir freundlich die Hand angeboten hatte. … Es war der Schuldirektor – also ein Großer, ein Mann, der sechs Jahre vor mir das Abitur gemacht hatte! Er erlaubte mir gleich, beim Du zu bleiben.
Dieses „Du“ ist bezeichnend für den Wandel: All die kirchlichen und weltlichen Autoritäten und Amtsträger von heute sind weit weniger distanziert, als ich sie damals erlebte. Sie sind zum Anfassen, man kann sie sozusagen duzen. Ich halte das für einen gesellschaftlichen Wandel, der nicht nur dadurch erklärbar ist, dass ich selber mittlerweile in die Altersgruppe der „Erwachsenen“ eingerückt bin.
Im St.-Gallus-Kirchlein, das wir unter kundiger Führung von Pater Theodor besichtigten, beeindruckte mich die Geschichte des Rochus von Montpellier: Er kümmerte sich um die Aussätzigen und Pestkranken, wurde angesteckt und durch Narben und Blattern entstellt. Bei der Rückkehr in seine Vaterstadt Montpellier, nach langen Wanderjahren, erkannte ihn niemand. Man warf ihn unter dem Vorwurf der Spionage ins Gefängnis. „Das ist ein Migrant ohne Personalausweis und ein Spion, den brauchen wir hier nicht!“, sagten die Bürger von Montpellier. Er schmachtete 5 Jahre in der Haft. Dann starb er.
Erst nach seinem Tode erkannten sie an einem bezeichnenden kreuzförmigen Muttermal: „Das ist einer von uns!“
Unser Bild zeigt die Statue des Rochus von Montpellier in der Sankt-Gallus-Kirche in Augsburg.
„Das ist einer von uns!“, „Das gibt es bei uns auch!“ Unter dieses Motto stelle ich auch meine Tischrede im Ratskeller von Augsburg. In uralten Gewölben erhebe ich meine Stimme. Wie der mythische Antaios verspürte ich neue Kräfte beim Betreten der alten Erde! Wer hat hier, in diesem Prachtbau von Elias Holl, vor mir schon alles gegessen und geredet? Ich spreche über Persien in der Antike und den Iran heute, zitiere aus den „Persern“ des Aischylos und dem Buch Ester der Bibel. Kulturen bedrohen einander mit wechselseitigen Vorwürfen und Unterstellungen: „Ihr wollt uns alle vernichten!“ So damals wie heute. Aber die attische Tragödie des Aischylos versetzt sich in das Leid der ehemaligen Feinde hinein. Durch Erschütterung, Schmerz, Trauer bewirkt Aischylos eine befreiende Erfahrung: Wir können miteinander sprechen, uns ineinander hineinversetzen. Griechen und Perser – so unterschiedlich sie sind – erfahren einander als die „nächsten Fremden“. Gesang, Tanz, religiöse Erfahrungen wie etwa die Tragödie verbinden die Feinde von ehedem. Wir brauchen diese Haltung auch heute. Es lohnt sich, diese uralten Texte wieder und wieder zu lesen. Mein Griechischlehrer von damals sitzt unter den Zuhörenden, kommt nachher auf mich zu und pflichtet mir bei. Einen Heiterkeitserfolg erziele ich, als ich ein paar griechische Verse austeile und in Gruppenarbeit übersetzen lasse. Die Auflösung wird für das nächste Jahrgangstreffen angemahnt. So sei es, gute Sache das Ganze, danke an die Organisatoren, in zehn Jahren sehen wir uns wieder!
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