Mai 092008
 

Wie weit ist Kreuzberg von Berlin entfernt? Mit dieser provokanten Frage eröffnete Thomas de Maizière am gestrigen Donnerstag sein Referat. Keine der üblichen Stammtischreden kündigte er an, sondern einen etwas abweichenden Einblick in die Praxis eines Politikers, der im engeren Sinne zum „Team Merkel“ gehört und als Leiter des Bundeskanzleramts gewissermaßen rechte Hand der Bundeskanzlerin ist. Ort: das Glashaus in der Kreuzberger Lindenstraße. Eingeladen hatten gemeinsam der CDU-Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg und dessen Ortsverband Oranienplatz. Wer aber geglaubt hatte, der Redner werde dem besonderen Flair, dem Sondercharakter unseres Bezirks achtungsvoll-mitleidig Tribut zollen und sich derart einschmeicheln, sah sich getäuscht: de Maizière stellte heraus und belegte durch Zahlen, dass Vielfalt, Unterschiede aller Art geradezu Kennzeichen der jetzigen Bundesrepublik seien. Im Klartext: Alle Gegenden sind irgendwie anders als die anderen – es gibt keine Sonderzonen, weder sind es die alternativen Spielwiesen noch die Hochburgen der Bürgerlichkeit. Kreuzberg, Dingolfing oder Dresden sind bei allen gewaltigen Unterschieden hinsichtlich Einkommen, Beschäftigungssituation und Lebensstil nichts anderes als Facetten eines unübersichtlicher, aber dadurch auch reicher gewordenen Landes.

Daraus ergeben sich aber auch Gefahren: der gesellschaftliche Zusammenhalt droht verlorenzugehen, wenn alle nur aus ihrer eigenen Sichtweise heraus urteilen und handeln. Die Bürger denken dann in Kategorien der Betroffenheit, die Politiker in solchen der Zuständigkeit. Dass ein Vater wegen eines schulischen Ärgers an die Bundeskanzlerin schreibt, zeigt, dass er sich betroffen fühlt, die Angeschriebene wird und darf aber darauf nicht selbst eingreifen: für Schule ist sie nicht zuständig. Aus dem Gegensatz von Betroffenheit und Zuständigkeit ergeben sich häufig Missverständnisse und Entfremdung zwischen der Politik und den Bürgern, zwischen „denen da oben“ und „denen hier unten“. Der Kanzleramtsminister warb leidenschaftlich für den „Blickwechsel“. Beide Seiten sind aufgerufen, sich jeweils in die andere hinzuversetzen. Gelingt dies nicht, drohen den Bürgern Politikerverdrossenheit, den Politikern der Verlust der Bodenhaftung, letztlich lauert gar Legitimitätsverlust.

Was heißt Politik? Geht es darum, bestimmte Vorstellungen davon, wie die Welt auszusehen habe, möglichst unverkürzt umzusetzen? Geht es darum, für das Gute zu kämpfen und des Schlechte zu besiegen? Oder ist es Kennzeichen guter Politik, unerschrocken große Reformvorhaben durchzusetzen und dem Land ein frisches Gesicht zu verleihen? De Maizière wies derartige Vorstellungen nicht rundheraus zurück, legte aber eindringlich dar, dass die Aufgabe der Politik meist darin bestehe, unterschiedliche, für sich genommen berechtigte Interessen in einen vertretbaren Ausgleich zu bringen. Dafür muss der Staat mit seinen Organen sorgen. Er hat das Gewaltmonopol, muss die Sicherheit der Bürger gewährleisten. In diesem Zusammenhang bekräftigte de Maizière, dass er die Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten für ebenso sinnvoll wie das Festhalten am BND, als einem geheim agierenden Nachrichtendienst, erachtet.

Politik besteht im Durcharbeiten verschiedener Sachprobleme, im vernünftigen Zusammenführen unterschiedlicher Perspektiven. Der berühmte große Wurf ist nur selten möglich. Als Beispiele dafür nannte de Maizière das Steuersystem und die Sozialversicherung. Ein grundlegender Systemwechsel oder auch nur eine durchgreifende Reform dieser Systeme sei derzeit nicht zu stemmen. Es gehe vielmehr um das Nachjustieren, um behutsame Eingriffe. Ziel sei es dabei, das Funktionieren des Ganzen zu sichern. Selbst vermeintlich einfache Fragen wie etwa Importerleichterungen für amerikanische Hühnchen scheiterten oft an unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie ein Hühnchen zu sein habe: das amerikanische Hühnchen scharrt in einer mikrobendurchsetzten Umwelt, um nach dem Keulen gründlich desinfiziert zu werden. Das europäische Federvieh wächst hygienischer auf, erfüllt aber nach dem Schlachten nicht die strengeren amerikanischen Vorschriften. Amerikaner und Europäer finden keine einvernehmliche Lösung, weil die Züchter sich gegen jeden Vorschlag wehren. Folge: Die Grenzen für Hühnchen werden dichtgemacht. Ist das richtig oder falsch? Wer hat nun recht? Wer ist das gute, wer das böse Hühnchen?

An diesen und anderen Beispielen machte de Maizière sehr anschaulich klar: Es geht in der Politik fast nie um Gut und Böse, ja nicht einmal um Recht und Unrecht, sondern um das beharrliche Zusammenbringen, das Vermitteln unterschiedlicher Seiten und Sichtweisen. Gute Politik besteht also darin, diesen Prozess der Mediation, der Vermittlung zu einem solchen Abschluss zu bringen, dass die Interessen aller Beteiligten auf vertretbare Weise gewahrt bleiben.

Alle diese Thesen unterlegte de Maizière mit einer Fülle an Beispielen aus unterschiedlichen Politikfeldern. Er lieferte eine beeindruckende tour d’horizon quer durch die verschiedenen Baustellen der Politik aus der Sicht eines zentralen Akteurs.

Kennzeichnend für den geschilderten Politikstil sind eine pragmatische, unideologische Grundhaltung sowie Einsicht in das derzeit Mehrheitsfähige und Machbare: „Man sollte nur für das kämpfen, wofür eine Erfolgsaussicht besteht.“ Ich bemerkte: Sprachlich schlägt sich dies in klaren, kurzen Sätzen, angereichert mit Beispielen aus der Praxis nieder. Ich dachte: Ja, wenn nur alle so redeten, wären wir schon weiter!

Der vollständige Verzicht auf gängige Modeworte fiel mir ebenso angenehm auf. Der Sprechzettel des Ministers glänzte durch das Fehlen einiger Hieb- und Stichworte, ohne die der übliche Stammtisch der verschiedensten Parteien meist nicht auskommt! Vier dieser auffallenden Lücken – also Worte, auf die er verzichtete – seien hier gleich angeführt:

„Partei“. Wenn ich mich nicht täusche, kamen politische Parteien in diesem doch grundsätzlich angelegten Referat nicht oder nur am Rande vor. Dies fand ich besonders verblüffend! Die Parteien spielen im Konzert der politischen Kräfte offenbar nicht mehr die dominierende Rolle, die ihnen häufig zugeschrieben wird. Es war, als wollte de Maizière uns sagen: „Denkt an die dringenden Aufgaben, denkt an mögliche Lösungen, denkt nicht zuerst an die Partei.“ Vielleicht meinte er stillschweigend sogar: „Öffnet die Partei für Gesprächsangebote nach draußen, dann wird sie schon größeren Einfluss bekommen. Macht sie zur Plattform für die Diskussionen der gesellschaftlichen Interessen, dann wird sich auch ein schärferes Profil ergeben.“

„Reform.“ Scheint zu stark verbraucht, belastet zu sein durch übertriebene Anspruchshaltung. Oft hört man: „Diese Regierung ist angetreten mit dem Versprechen, das und das und das zu reformieren. Was ist daraus geworden?“ Der Minister schien da eher den Begriff „Vorhaben“ zu bevorzugen. Er erwähnte durchaus die großen übergreifenden Vorhaben der jetzigen Regierung – etwa den Klimaschutz, aber er vergaß nie aus den Augen, dass derartig große Ansätze in das tägliche kleinteilige Arbeiten eingefügt werden müssen.

„Zwänge einer großen Koalition.“ Wird bekanntlich häufig als Erklärung für gescheiterte Reformversuche hergenommen. Zwar sprach de Maizière durchaus von Sachzwängen, aber in keinem Fall verwendete er die bequeme Ausflucht: „Die anderen, also die SPD, lassen uns nicht.“ Wenn es nicht weitergeht – so schien er sagen zu wollen – stecken dahinter einander widerstreitende Interessen, die eben derzeit nicht unter einen Hut zu bringen sind. Beispiel: die Steuerfreiheit für Nachtarbeitszuschläge; dieser als solcher unerwünschte Subventionstatbestand lässt sich derzeit nicht gegen die Interessen des sowieso gering verdienenden Pflegepersonals abschaffen.

„Konservativ“, „links“, „bürgerlich“. Scheinen in der Politiksicht des Kanzleramtsministers eine äußerst geringe oder gar keine Rolle zu spielen. Diese veralteten Begriffe des Blockdenkens werden ersetzt durch wertfreie Fragen wie: „Wie ist der jetzige Zustand? Wer profitiert davon? Was ist schlecht daran? Was spricht dafür, was dagegen, diesen jetzigen Zustand zu ändern? Können wir die angestrebte Änderung durchsetzen?“

Und damit kommen wir zum zweiten Teil des Abends – zur freien Aussprache. Die Fragen an den Minister zielten ohne Umschweife auf die Themen, die besonders auf den Nägeln brennen. Zwei davon seien herausgegriffen:

1) „Wie sieht konservative Politik heute aus?“ Ich hatte den Eindruck, dass Herr de Maizière das vielbeschworene „Konservative“ nicht als den bestimmenden Grundzug einer erfolgreichen CDU ansieht. Er vertrat vielmehr die Meinung, dass ein emphatischer Begriff der Freiheit eher als das eigentlich unterscheidende Merkmal der CDU tragfähig sei. Freiheit verstanden als Gegenbegriff zur größtmöglichen Verteilungsgerechtigkeit, die letztlich nur zu einem üppigeren Staat führen müsse. Und der Staat, somit auch die Politiker, werde derzeit hoffnungslos mit Ansprüchen und Erwartungen überfrachtet.

2) „Wie können wir die nächsten Wahlen gewinnen?“ Hier legte de Maizière nahe: durch fleißige, glaubwürdige Arbeit an Sachproblemen. „Die Wahlkämpfe sind kurz“. Verunglimpfung des Gegners werde zwar mitunter von der Parteibasis gefordert, stoße aber die breiten Wählerschichten ab. Also verwende man besser keine Beleidigungen! Aber dem Wähler müsse klargemacht werden: Wenn ihr Merkel wollt, müsst ihr CDU wählen.

Und wieder einmal wurde die Frage aufgeworfen, warum die überragenden, eigentlich sensationellen Umfragewerte der Kanzlerin Merkel nicht der CDU zugute kämen. Nun, wir hatten genau diese Frage schon einmal in derselben Kneipe und auch in diesem Blog erörtert (siehe Eintrag am 23.11.2007). Hier hätte der Minister meiner Ansicht nach den von ihm vertretenen Politikstil durchaus als nachahmenswert empfehlen können. Er tat es nicht – aus Bescheidenheit?

Mein Versuch einer Bilanz: Wir hörten beeindruckende, mit Hintergrundwissen geradezu getränkte Analysen, vorgetragen mit großer Anschaulichkeit und auch erfrischendem Humor von einem der einflussreichsten Politiker dieser erfolgreichen Bundesregierung. Der von Minister de Maizière überzeugend vertretene Politikstil wird seit einigen Jahren vom Team um Kanzlerin Merkel mit großer Konsequenz in die Tat umgesetzt. In der Berliner Landespolitik hat dieser kooperative, über die alten Kämpfe hinausweisende Politikstil sicherlich an diesem Abend einige neue Freunde gewonnen. Ich selbst – war sowieso schon einer.

Nun gilt es nur noch, dem Minister de Maizière noch deutlicher all die schönen Seiten unseres Bezirks ebenso überzeugend vorzuführen. Es gibt auch bei uns noch viel Gutes zu entdecken, Herr Minister!

Unser Foto zeigt von links nach rechts: Dr. Wolfgang Wehrl, Kreisvorsitzender der CDU Friedrichshain-Kreuzberg, Kanzleramtsminister Dr. Thomas de Maizière, Kurt Wansner MdA. Foto veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Wehrl

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