Na endlich … finde ich erneut einen Hinweis auf jene Umfrageergebnisse, die ich in diesem Blog am 10.12.2008 zitierte – und die ich anschließend nicht mehr nachweisen konnte, weil ich mich nur auf eine knappe Meldung im ZDF bezog, die offenkundig wegen zu großer Brisanz nicht mehr wiederholt oder als unstatthaft ausgesondert wurde. Ein Fall von Zensur? Ich zweifelte schon an meiner Erinnerung! Sind die Deutschen mehrheitlich in Ost wie in West wirklich so unzufrieden mit dem wiedervereinigten Deutschland, dass sie meinen, es sei ihnen vor 1989 besser als heute gegangen? Ja, es ist so, mein Gedächtnis trog nicht! Diese – oder eine ähnliche – Umfrage wird heute in der Berliner Zeitung erneut während eines Gesprächs mit Wolfgang Tiefensee angesprochen:
Wir haben die soziale Einheit noch nicht vollzogen – Berliner Zeitung
Zum Jahresanfang hat eine Forsa-Umfrage ermittelt, dass die Deutschen, Ost wie West, mehrheitlich enttäuscht über die Einheit sindTiefensee: Ich kann und ich will nicht glauben, dass die Hälfte der Menschen in Ostdeutschland behauptet, dass sich ihre Lebenssituation nicht verbessert hat. Ich würde diese Menschen daran erinnern, dass wir eingesperrt hinter einer Mauer gelebt haben.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Russland fiel mir wieder einmal auf, wie stark die Bindung der Russen an ihr Land ist – die siebzig Jahre Sowjetunion sind vorüber, also darf man jetzt auch offiziell wieder auf die gesamte russische Geschichte zurückgreifen. Die Sowjetunion, das sind in der Rückschau siebzig Jahre in der Geschichte einer Nation, die ihren Ursprung auf das Jahr 882 datiert, als „die Rus“ sich keimhaft als eine Art Herrschaftsverband bildete. Alle Russen kennen klassische Gedichte eines Puschkin, eines Lermontow, russische Schulklassen werden durch die Tretjakow-Galerie geführt und erfahren so etwas über den gesamten Umfang der russischen Geschichte, die Russen kennen und können russische Lieder und Chansons auswendig, sie verstehen geheime und geheimste Anspielungen auf kulturelle und politische Ereignisse der letzten dreihundert Jahre. Bei aller lebhafter Erinnerung an Unterdrückung, Zensur, Terror, Lagersysteme, staatlich verordnete Massenmorde und verheerende Kriege – die Zugehörigkeit zum russischen Volk, zu der großen Kulturnation Russland wird nicht in Frage gestellt. Ich hörte am Silvesterabend in einer größeren Gesellschaft die Ansprache des Präsidenten Medwjedew, hörte die Nationalhymne, und ich spürte: Die Russen fühlen, dass sie zueinander gehören. Sie kennen ihre Geschichte besser – als wir Deutschen die unsrige. Und ich meine, wenn es in der neuen russischen Nationalhymne heißt: „Wir sind stolz auf dich!“ dann ist darin kein übersteigerter Nationalismus zu sehen, sondern eben dieses Gefühl des Kennens, des Schätzens und der Bindung an das eigene Heimatland.
Um wieviel anders wir Deutsche! Erst kürzlich sprach ich mit Berliner Jura-Studenten. Ich hub artig und höflich an: „Also, ich finde euer Fach ein ganz wichtiges Fach … denn der Rechtsstaat, die Herrschaft des Rechts, das ist doch etwas, was wir hochhalten müssen. Wenn jeder das Recht in die eigene Hand nimmt, dann kann sich das alles böse hochschaukeln. Selbstjustiz! Wie bei Michael Kohlhaas.“ Da kam die Rückfrage: „Michael … wer? Kohlhase? Kennen wir nicht.“ Ich musste feststellen: Sie kannten die Erzählung von Heinrich von Kleist weder dem Titel noch dem Inhalt nach.
Freunde, Blogger: Ich halte das für ein schweres Versäumnis, wenn in 13 Jahren Deutschunterricht so überragende Werke wie etwa die Erzählungen Kleists, die Gedichte Goethes oder die Dramen Schillers weder gelesen noch gelernt noch wenigstens im Überblick vorgestellt werden. Mehr noch: Wer liest an unseren allgemeinbildenden Schulen noch Immanuel Kant, wer liest Hegel oder Heine, wer kann etwas anfangen mit Namen wie J.G. Herder, Karl Marx, Alexander und Wilhelm von Humboldt, Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud, Franz Kafka? Machen Sie den Test und Sie werden sehen: Eine ganze Nation – wir Deutschen – droht sich abzukoppeln von der reichen kulturellen Überlieferung, die uns als Nation zusammenhalten könnte. Wer weiß, wo das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen wurde? Wer besucht aus diesem Grunde Herrenchiemsee? Fast niemand! Ich habe mich oft gefragt: Was machen die Deutschlehrer und die Politiklehrer eigentlich in den 13 Jahren bis zum Erreichen des Abiturs?
Auch das heutige Interview mit Wolfgang Tiefensee belegt: Die deutsche Einheit ist ein schwer zu fassendes Phantom. Sie wird landauf, landab definiert über Zahlen, über Durchschnittseinkommen, über die berühmte „Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West“. Im Klartext: Erst wenn alle gleich viel Geld in der Tasche haben und über gleich gute Autobahnen möglichst ohne Tempolimit fahren dürfen, erst wenn die Arbeitslosenzahlen in Bayern-Süd und Berlin-Ost einigermaßen gleich sind, wird die deutsche Einheit vollendet sein. Freunde, Blogger: Was für eine grandiose Enttäuschung ist hier vorprogrammiert! Was ist das für ein Armutsbericht!
Doch wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen! Umgekehrt weise ich nämlich ebenfalls schwere Bildungslücken auf. Ich bin ein Armer im Geiste. Bis vor wenigen Tagen kannte ich z.B. die Serie Californication nicht. Das heißt, ich konnte bei wichtigen Entwicklungen in der schönen neuen Medienlandschaft nicht mitreden. Darauf wies mich in Moskau ohne den geringsten Vorwurf mein medienpolitischer Berater hin. Doch hatte ich die Chance, eine Folge dieser bedeutsamen Serie in Moskau zu mitternächtlicher Stunde im unverschlüsselten Free-TV zu sehen, und zwar im englischen Original mit eingesprochener russischer Übersetzung. Inhalt: Ein kalifornischer Autor erlebt nach der Trennung von seiner Frau allerlei Lustiges in verschiedenen Sportautos und Betten. In dieser Folge stand auf dem Spielplan: fornicatio a tergo, wie der Lateiner sagt, bzw. fornication doggy-style, wie der Brite sagt, samt Verzierung eines originalen Ölgemäldes durch eructatio a stomacho, durch Kotzen, wie der Deutsche sagt. Nett anzusehen, diese hübsche nackte vollbusige Frau, sehr spannend, sehr geistreich die Dialoge, man muss das kennen, um mitreden zu können.
Und nun zurück zur Frage aus unserem Titel! Haben wir die deutsche Einheit vollzogen? Meine Antwort ist ein deutliches Njet! Wir haben sie noch nicht, die deutsche Einheit. Es gibt noch sehr viel zu tun. Die deutsche Einheit wird sich nicht in klingender Münze beziffern lassen und nicht in den Statistiken der Volkswirtschaftler niederschlagen, sondern sie wird sich bemessen neben anderem daran, ob wir unsere gemeinsame kulturelle und politische Überlieferung schätzen, pflegen und daran weiterarbeiten. Dazu gehört auch die deutsche Sprache und die deutsche Literatur.
Und deshalb – wir sind ja ein freies Land: Ich werde lieber den Michael Kohlhaas ein drittes Mal oder die Jugendbriefe Schillers zum ersten Mal lesen als mir eine zweite Folge von Californication anzuschauen. Auch wenn ich deshalb nie so recht werde mitreden können in unserer schönen neuen Gernsehwelt.
Unser Bild zeigt einen Blick auf den Notentisch im Hause Leo Tolstois. Ich entdeckte dort am 3. Januar 2009 im untersten Fach die gleiche Ausgabe der Sonaten Beethovens, die sich auch in meinem Besitz befindet und aus der ich noch gelegentlich spiele, wenn kein Musiker in der Nähe weilt.
Sorry, the comment form is closed at this time.