Jan 292009
 

02012009018.jpg „Das ist ja mal etwas Neues, was Putin da sagt … das ist wie NEP, – Neue Ökonomische Politik„, sagt erfreut die Russin, der ich beim gemeinsamen Frühstück die Titelseite der heutigen Süddeutschen vorlese.

Was hatte sie erstaunt? Lesen wir doch gemeinsam die Losung des Tages, wie sie Wladimir Putin in Davos verkündet hat, und zitieren druckfrisch aus der Frühstückszeitung:

„In der alten Sowjetunion hat der Staat alles kontrolliert und am Ende waren wir bankrott. Das wollen wir nicht noch einmal erleben.“

(Quelle: Süddeutsche Zeitung, 29.01.2009, Seite1)

„Nicht noch einmal“! Das ist ja genau der Einwand, den ich immer wieder gegen all jene erhebe, die mir treuherzig nahezulegen versuchen, man müsse die Idee des Sozialismus von der Wirklichkeit des Sozialismus trennen. So etwa die erfrischend sympathische Halina Wawzyniak oder auch der nette belesene junge Mann Dietmar Dath.

Man mag mir einwenden: „Wie kannst du Putin Glauben schenken – der Mann kommt doch aus dem KGB, der war doch voll integriert im Sozialismus!“ Darauf erwidere ich: Gerade die Männer und Frauen im Zentrum der Macht wussten am besten bescheid, sie kannten doch die Zahlen, sie konnten reisen, sie waren mitunter im westlichen Ausland entsandt. Ich vermute, dass keiner der Führungskader in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion noch an den Sozialismus glaubte, der als gespenstisch ausgehöhltes Pflichtfach Marxismus-Leninismus an den Schulen und Universitäten gelehrt wurde. Es war eine reine Pflichtübung, wie in der DDR auch. Der Systemwechsel in der Sowjetunion konnte in den 80-er Jahren nur von oben und von innen her vorbereitet werden, also von den Spitzen der Partei und der Regierung her. Eine kraftvolle Opposition von der Basis her, wie sie die Kommunistische Partei in den Monaten nach der Oktoberrevolution 1917 blutig zerschmettert hatte, hätte keine Chance gehabt.

Ich bezeichnete oben Putin als Überlebenden des Sozialismus. Wie ist das zu verstehen? Damit meine ich, dass dieses Bewusstsein, noch einmal davongekommen zu sein, das Gefühl, zwei lebensgefährliche Diktaturen überlebt zu haben, bei den Russen weit verbreitet ist.  Ein Blick auf die Zahlen mag dies begreiflich machen. Durch systematische Verfolgung, durch Mord, durch planmäßige Hungersnöte, durch ein weitverzweigtes Lagersystem töteten die sowjetischen Kommunisten in den ersten vier Jahrzehnten der Sowjetunion und darüber hinaus einen bedeutenden Anteil des eigenen Staatsvolkes. Waren es 10 Millionen oder 17 Millionen oder 20 Millionen sowjetischer Menschen, die in den Tod getrieben wurden? Genaue Zahlen gibt es nicht. In jedem Fall hinterließ der Terror seine erwünschte Wirkung: Es gab nach 1930 keinerlei breit organisierten Widerstand mehr.

In den Jahren  1941 bis 1945 wüteten darüber hinaus die deutschen Soldaten und die Einsatzgruppen der SS und der deutschen Polizei noch verheerender und töteten durch Kampfhandlungen und Massaker an der Zivilbevölkerung im Gebiet der Sowjetunion – wieviele? 15 Millionen, 20 Millionen, 25 Millionen Menschen? Auch hier wird man nie zu einer verlässlichen Zahl kommen.

Entscheidend ist: Ein riesiger Anteil der Bevölkerung der Sowjetunion ist durch direkte staaliche Verfolgung von seiten der beiden Diktaturen, also des sowjetischen Kommunismus und des deutschen Nationalsozialismus, ums Leben gekommen. In keinem anderen Staat Europas – wohl mit Ausnahme des von Deutschen und Sowjets besetzten Polen – wurde ein so großer Anteil des Staatsvolkes durch direkte staatliche Gewalt ausgetilgt wie in der Sowjetunion.

Diese Toten mahnen nicht.

Wer mahnt, das sind die Überlebenden. Und als Überlebende muss man all jene betrachten, die es geschafft haben, all jene, mit denen man heute noch sprechen kann. Sie haben überlebt, durch Anpassung, durch symbolische Unterwerfung, durch Unterwanderung des Staatsapparates. Was blieb ihnen auch übrig? Nur ganz wenige konnten den sowjetischen Staat verlassen. Mannigfaltige Kompromisse waren an der Tagesordnung für die, die bleiben mussten.

Einer dieser Überlebenden – ist Putin. Der Mann weiß, wovon er spricht, wenn er sagt: „Bitte nicht noch einmal!“

Und jetzt zum guten Abschluss – ein Witz. Er wurde mir vor einigen Jahren bereits von einem Russen erzählt.

Ein Medizinstudent kommt zum Abschluss des Studiums vor die Prüfungskommission. An einem Ständer hängen zwei Skelette. „Erklären Sie uns dies da! Was sehen Sie? Wo ist das Jochbein?“, fragt streng der Professor. „Ich weiß nicht … ich kenne mich nicht aus, “ stottert der Medizinstudent. „Wo ist das Jochbein?“, fragt der Prüfer unerbittlich. „Ich weiß es nicht“, erwidert der Student. „Ja sagen Sie mal, womit haben Sie sich denn während Ihres ganzen Studiums befasst?“, donnert der Professor. „Huch!“, entfährt es dem Studenten. „Sind das etwa … Marx und Engels?“

Unser heutiges Foto zeigt einen Blick auf das unzerstörte und das zerstörte Kloster Neu-Jerusalem nahe Moskau. Die deutschen Soldaten zerstörten vor ihrem Abzug 1944 die gesamte Klosteranlage. Bis heute ist sie nicht vollständig wieder aufgebaut. Das Foto zeigt die Schautafel, wie sie heute da steht. Die Aufnahme habe ich vor drei Wochen selbst gemacht.

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