Soll irgendwann Schluss ein? „Für mich ist das Thema durch!“, erklärte mir kürzlich ein junges Mitglied der Linkspartei. „Wen interessiert das denn alles noch?“, fragte mich kürzlich ein Mann auf der Straße. „Das ist doch alles 20 Jahre her!“ Soll man historische Ereignisse irgendwann abhaken? Nun, man wird im Herbst 2009 sehen, dass die Varus-Schlacht, die 2000 Jahre zurückliegt, auch heute noch unterschiedliche Deutungen, ja sogar Meinungsstreit gebiert! Gleiches gilt für Kaiser Karl den Großen, dessen historische Leistungen und beispiellose Verbrechen gegen Andersgläubige meines Erachtens im Zeitalter der neu entstehenden Weltkultur dringend einer erneuten Aufarbeitung bedürfen. Und auch Bismarcks Sozialreformen erscheinen heute in etwas anderem Lichte als noch zu Zeiten eines Ludwig Erhard. Ihr seht schon: Ich bin ein Revisionist durch und durch!
„Ich bin erschüttert, was da in Einzelfällen herauskommt, bei Menschen, bei denen ich das nie vermutet hätte“, so wird Ministerpräsident Wolfgang Böhmer auf S. 172 in einem neuen Buch zitiert, das Uwe Müller und Grit Hartmann im Mai 2009 veröffentlicht haben. Ein neues Buch? Nicht mehr so ganz … tja, tut mir leid, liebe Autoren, es ist schon wieder ein bisschen veraltet, weil die Kurras-Enttarnung offenbar kurz NACH Fertigstellung des Manuskripts erfolgte. Aber dennoch ist den Autoren zu bescheinigen, dass sie mit zahlreichen ihrer Behauptungen richtig liegen dürften, nämlich dass eine Art westöstliches Verschwiegenheitskartell die systematische Aufarbeitung der im Namen der DDR-Staatssicherheit begangenen Verbrechen verhindert.
„Der Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen begnadigte exzessiv. In nie dagewesenem Umfang korrigierte die Exekutive die Entscheidungen der Judikative“, schreiben die Autoren auf S. 74 und liefern auch gleich noch ein paar „Rechnungsbelege“ nach: „je Totschlag drei Monate Haft“.
Wie äußert sich Diepgen selbst zur Stasi-Unterwanderung? Er berichtet ohne Umschweife, dass auch seine Partei von einzelnen Stasi-Spitzeln unterwandert worden sei – darunter auch ein Redenschreiber von ihm persönlich. Allerdings lehnt er eine systematische Einzelpersonenüberprüfung ab. Zitieren wir ihn doch wörtlich! In einem hochbedeutsamen Interview mit der Morgenpost wird er am 5. Juni 2009 so wiedergegeben: „Die Forderung nach neuen massenhaften Überprüfungen halte ich zwar für verständlich, politisch aber für falsch und rechtlich für fraglich.“
Ich halte Diepgens Argumentation für politisch nachvollziehbar, dennoch neige ich der Ansicht zu, dass die gesamte West-Berliner Politik der letzten Jahrzehnte überprüft werden sollte, mindestens die Mandatsträger in den Parlamenten und den Parteien. Nennen Sie es „massenhaft“ oder „systematisch“. Der Verdacht, dass die Wahrheit möglicherweise mit manipulativen Methoden unterdrückt werden soll, ist nun einmal in die Welt gesetzt. Er lässt sich nur ausräumen, indem man die möglicherweise fortbestehenden kriminellen Netzwerke enttarnt.
Denn wer schweigt, obwohl er weiß, macht sich erpressbar. Wenn herausgehobene Vertreter des öffentlichen Lebens bewusst keine Aufdeckung von Verbrechen wünschen, dann verlieren sie an Glaubwürdigkeit. Kriminelle Netzwerke werden auch unter veränderten Bedingungen zusammenhalten, die Arme ausstrecken, neue Verbindungen knüpfen.
Buchtipp: Uwe Müller/Grit Hartmann: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur. Rowohlt Verlag Berlin, Mai 2009, 316 Seiten, 16,90
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