Jun 232011
 

Gemeinsame Aufmerksamkeit – unter diesem Ausdruck beschreibt Michael Tomasello etwas fundamental Neues, das die Säuglinge im Alter von etwa 9-12 Monaten zu entwickeln beginnen: die Fähigkeit des Menschen, über längere Zeit hinweg mit anderen Menschen ein gemeinsames Objekt des Merkens, des Hinschauens, des Zeigens und Beobachtens zu verfolgen. Durch Gebärden, durch Bewegungen und Zeigehandlungen stellen Babies lange lange vor der Entwicklung von Sprache mehr oder minder dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen her. So kann ein Kind durch Zeigen oder Berühren einer Rassel den Erwachsenen dazu veranlassen, ihm diesen Gegenstand zu reichen. Das Kind „zeigt“ dem Erwachsenen die Rassel. Nur dem Menschen eignet diese Fähigkeit!

Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Englischen von Jürgen Schäfer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, hier S. 84-94

Ich füge hinzu:

Diese Fähigkeit muss durch Erziehung nach und nach über lange Monate und Jahre gepflegt und ausgebaut werden. Tausenderlei Objekte können den älteren Menschen als Brücken dieser gemeinsamen Aufmerksamkeit dienen: gemeinsames Singen eines Volksliedes ebenso wie das gemeinsame Betrachten der Bewegungen einer lederummantelten Gummiblase (adulte Exemplare der Art Homo sapiens nennen es: „ein Fußballspiel“), das gemeinsame Rechnen ebenso wie das Bergwandern.

Es handelt sich bei all diesen Ereignissen nicht um sprachähnliche oder sprachvermittelte kulturelle Tätigkeiten, wie man im Zuge der Wendung zur Sprache ab etwa 1970 glaubte, sondern um originär auftretende, Gemeinsamkeit stiftende Haltungen oder besser „Verhaltungen“ des Menschen, die ihn bereits vor dem Erwerb von Sprache zu einem sozialen Wesen werden lassen.

Die Aufmerksamkeit dauerhaft gemeinsam auf etwas richten  – dies scheint etwas zu sein, was den Menschen doch recht deutlich von anderen Tierarten abhebt.

Wenn dem Kind in den ersten Jahren zu wenig Gelegenheiten gemeinsamer Aufmerksamkeit geboten werden, verkümmern seine sozialen Fähigkeiten. So erklärt es sich, wenn Berliner Grundschullehrer immer wieder klagen: „Dieses Kind kann sich nicht konzentrieren. Sein Geist gleitet gewissermaßen stets ab. Es kann die Augen nicht auf eine Zeile im Heft richten. Es kann nicht länger als wenige Sekunden zuhören.“

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