Jun 162014
 

Bedenkenswerter, sehr offenherziger Brief des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog, in dem er den verheerenden Vertrauensverlust der Europäischen Union bei den Völkern der EU ungeschminkt anspricht:

http://www.stern.de/politik/deutschland/roman-herzog-fuer-abwehrrechte-gegen-eu-institutionen-2117195.html

Auffällig finde ich, dass Herzog vor allem die Selbstanmaßung der EU-Institutionen geißelt, die sich zunehmend in Belange einmischten, die eigentlich eher den nationalen Parlamenten zustünden.

Dies gilt – so meine ich – insbesondere für die EZB, die bereits heute wie die Notenbank eines Staates auftritt. Kein Finanzminister eines EU-Staates, geschweige denn der zuständige EU-Kommissar kommt ihr an Machtfülle auch nur annähernd gleich. Die EZB gebärdet sich wie ein Staatsorgan oder ein Staat in einem Staate, der kein Staat ist. „Draghis Wille geschehe!“, so tadelte dies vor kurzem knapp doch nicht falsch die Süddeutsche Zeitung.

Dabei ist die Europäische Union ausweislich ihrer Gründungsverträge kein Staat, sondern ein Zusammenschluss von Staaten, der „auf eine immer engere Union“ hinarbeiten soll. Selbst diese Klausel (Art. 1 Abs. 2 EU-Vertrag) bedeutet aber meines Erachtens keineswegs, dass die die EU als zukünftiger Staat angelegt ist.

Was soll die EU einmal werden? Ich denke, die beste Antwort darauf lautet: Sie soll das werden, was die Menschen der EU-Staaten wollen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger aller EU-Staaten eindeutig und mit großer Mehrheit ihren Willen bekunden, sich zu einem Staat zusammenzuschließen, dann soll dies geschehen. Darauf deutet aber zur Zeit nichts hin. Im Gegenteil, die letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger schon seit langem nicht mehr das Gefühl haben, „Herrinnen und Herren der EU-Verträge“ zu sein.

Allerdings gilt ebenso: Vor einer schleichenden Entmachtung der Staaten, insbesondere einer schleichenden Entmachtung der repräsentativ gewählten Parlamente zugunsten der EU-Kommission und schlimmer noch der EZB muss weiterhin eindringlich gewarnt werden. Bundespräsident Herzog spricht eine solche Warnung aus.  Dafür gebührt ihm der Dank aller Demokraten, denen der Zustand der EU graue Haare bereitet.

Maßgebliche Parteien haben sich in grotesker, nicht mehr zu überbietender Anmaßung nicht entblödet, das Votum der europäischen Bürger als „Rechtspopulismus“ oder als „Europafeindschaft“ abzukanzeln. Sie bestätigen damit aufs schönste das tiefe Misstrauen, das sie selbst in den Bürgerinnen erzeugt haben, als berechtigt.

Bundespräsident Herzog hat recht, wenn er die zunehmende Kluft zwischen EU-Politik und Bürgerinnen und Bürgern beklagt. Man sollte seinen Einspruch ernstnehmen und ihn diskutieren.

Lese-Empfehlung zur Einführung:

Matthias Herdegen: Europarecht. 13. Auflage, C.H. Beck Verlag, München 2011, hier insbesondere: § 5: „Die Rechtsnatur der Europäischen Union“, S. 63-76

 

 

 Posted by at 00:02

Sorry, the comment form is closed at this time.