„Se innanzi tempo Grazia a sé nol chiama“ – Tod vor der Zeit, ein Geschenk der Gnade?

 Dante, Freiheit, Hannah Arendt, Liberalismus, Verantwortung  Kommentare deaktiviert für „Se innanzi tempo Grazia a sé nol chiama“ – Tod vor der Zeit, ein Geschenk der Gnade?
Apr. 132021
 
„Der Sinn von Politik ist Freiheit. Hannah Arendt.“ Meinungsäußerung auf der Roten Insel in Schöneberg, Gustav-Müller-Straße. Aufnahme vom 10.04.2021

„Mit diesem Dante musst du dich gut stellen,
kann er dir doch zu langem Ruhm verhelfen,
sofern ein gnädiges Geschick sein langes
Leben nicht vor der rechten Zeit beendet.“

Guter Ratschlag Vergils an den Riesen Antaios! In der Tat, wir sprechen heute noch über diesen Antaios aus dem 31. Gesang in Dantes Inferno. Ohne Vergils Rat täten wir es nicht. Dass Vergil hier den vorzeitigen Tod (la morte innanzi tempo) als Geschenk der Gnade darstellt, ist eine unerträgliche Provokation des geruhsamen Gewissens, wonach ein möglichst langes Leben das erstrebenswerteste Ziel überhaupt sei. Mehr noch: dass alles staatliche Handeln letztlich darauf abzielen müsse, möglichst vielen Menschen das Erreichen eines möglichst hohen Lebensalters und einen planbaren Tod zu gewährleisten, gilt heute als höchste Maxime der Politik. Dem dienen Inzidenzberechnungen, Ausgangssperren, Stotterbremsen, Notbremsen aller Art. Der Staat wacht von ganz oben herab darüber, dass die einfältigen Bürger nicht wissend-unwissentlich in die Falle eines vorzeitigen Todes tappen.

„Ich trage dafür als Bundeskanzlerin immer die letzte Verantwortung.“ Mit diesen Worten hat die Bundeskanzlerin sich am 24.03.2021 eindeutig zu dem überragenden, monarchischen Grundgedanken des quasi göttlich legitimierten Staates, verkörpert in der überragenden Hellsicht und Weitsicht der Herrscherin bekannt. Nicht der einzelne Mensch, nicht die niedrigen Ebenen – also die Stadt, die Region, die Familie – tragen die letzte Verantwortung für Leben und Tod (man nannte dies früher Subsidiarität), ganz zu schweigen von heillos veralteten Instanzen wie „Gnade“ oder „Gott“, sondern der staatliche Souverän, und der Träger der Souveränität, das ist nach eigenem Bekunden die Herrscherin. Ein phantastischer Anspruch, wie ihn im Mittelalter die römischen Kaiser immer wieder zu erheben versuchten!

In Dantes realistischer Weltsicht wäre ein derart übersteigerter Anspruch unhaltbar gewesen. Für ihn zählte stets die Verantwortung des Einzelnen vor Gott mehr als der mit staatlicher Macht bewehrte Wille des Herrschers. Die letzte Verantwortung trägt für Dante immer – wer, ja wer? Der einzelne Mensch! Begriffe wie „Gnade“, „Gott“, „Freiheit – das größte Geschenk Gottes an den Menschen“ deuten darauf hin. Il maggior dono fu della volontà la libertate.

Der Zeitpunkt des Todes entzog sich der bewussten Kontrolle des einzelnen; er lag völlig außerhalb der Kontrolle des Staates. Der Tod war nicht planbar.

Ich meine: Souverän im Dasein ist der einzelne freie Mensch. Souverän im staatlichen Sinne ist in der Bundesrepublik Deutschland die den Staat tragende Bevölkerung, das freie Volk, vertreten durch die frei gewählten Parlamente. In der parlamentarischen Demokratie, so meine ich, tragen immer die Parlamente die letzte politische Verantwortung. Nicht die Regierung. Nicht der Bundeskanzler.

Hannah Arendt griff diese Hochschätzung der Freiheit auf, wie sie ein Dante, ein Thomas von Aquin, ein Immanuel Kant schon vorformuliert hatten. In schroffem Gegensatz zu den herrscherlichen Ansprüchen der heutigen Politik formulierte sie es so: „Der Sinn der Politik ist Freiheit.“

Zitate: Dante, Commedia, Inferno, canto XXXI, 129; Paradiso, canto V, 19-22. Freie Wiedergabe aus dem Gedächtnis und freie Übersetzungen der Dante-Zitate durch den hier Schreibenden.

 Posted by at 21:03

Leuchtet, ihr strahlenden Nachtkerzen des Gesanges!

 Einladungen, Fanny Hensel, Hannah Arendt, Hebraica, Singen  Kommentare deaktiviert für Leuchtet, ihr strahlenden Nachtkerzen des Gesanges!
Sep. 302017
 

Höre! Hannah Arendt, die 1906 im niedersächsischen Linden geborene große deutsche Philosophin sagt:

Im Deutschen gerade liegt das Volkslied aller Dichtung zugrunde, wenn auch in der eigentlich großen Dichtung so transformiert, daß es kaum noch kenntlich ist. So klingt die Stimme der Dienstbotengesänge durch viele der schönsten deutschen Gedichte.“

Höre! Unwillkürlich kommen dir diese Worte dieser großen jüdischen Philosophin in den Sinn! Denn soeben erreicht dich eine Einladung zu einem verheißungsvollen Konzert, das die 1975 in New York verstorbene große US-amerikanische Philosophin Arendt sicherlich besucht hätte, wenn sie denn noch lebte und zufällig gerade in Berlin weilte:

 

Samstag,  30. September 2017 – 19 Uhr
Gemeindesaal der Jesus-Christus-Kirche Berlin-Dahlem, Thielallee 1-3
Freier Eintritt

Deutsche Volkslieder in Melodie und Geschichte

Projekt-Chor Roland Bader
Mitglieder des früheren Chors der St. Hedwigs-Kathedrale, des Karl-Forster-Chores und Gäste
Leitung und Moderation: Roland Bader
Am Flügel Michael Cohen-Weißert

Die Texte der Lieder liegen offen vor mir. Ich nippe kurz an den Worten wie an einem schäumenden Kelche:

Brüder reicht die Hand zum Bunde Ännchen von Tharau ist’s die mir gefällt rede Mädchen allzu liebes das mir in die Brust die kühle hat geschleudert mit dem Blicke diese wilden Glutgefühle wie sanft sich die Quelle durch die Wiese windet nicht wandle mein Licht dort außen im Flurbereich ich wollt meine Lieb ergösse sich all in ein einzig Wort abends wenn ich schlafen geh in einem kühlen Grunde da steht ein Mühlenrad

Das ist ja jene bunte, abendlich strahlende, wilde und betörende Klanglandschaft, welche einst in deutscher Sprache erklang und erscholl, welche einst Hannah Arendt, Heinrich Heine, der Sänger und Schubert-Herausgeber Max Friedlaender, der Zeichner und Komponist Felix Mendelssohn, der Philosoph Walter Benjamin so beredt priesen und rühmten.  Kehrt doch wieder alle alle! Ihr sollt auferstehen und leben!

Wer kennt die Namen dieser Dichterinnen und Dichter heute noch? Kennst du sie wohl? Adelheid Wette, Wilhelm Ganzhorn, Heinrich Heine, Georg Friedrich Daumer, Adalbert von Chamisso, Fanny Hensel, Johann Gottfried Hientzsch, Joseph von Eichendorff?

Nun, nach dem einen ist immerhin noch (noch!) eine Universität in Düsseldorf benannt, nach einem anderen immerhin noch (noch!) eine Gasse am voll durchkommerzialisierten Potsdamer Platz in Berlin, noch nach einer anderen eine Grundschule in Kreuzberg, und nach einem anderen ein voll im Gentrifizierungswahn lebender Kiez in Kreuzberg.

Aber wer kennt diese Lieder noch? Wer singt sie noch? Seid ihr alle verweht, vergessen, verschollen? Nein! Kehrt doch wieder!

 

Bild: Romantisches Abendlicht im Natur-Park Schöneberger Südgelände, 29.09.2017, 18.30 Uhr

Zitat Hannah Arendts hier wiedergegeben nach:
Beatrix Brockman: Scherben im Bachsand. Der Nachlass der Lyrikerin Eva Strittmatter kommt in die Akademie der Künste nach Berlin. In: Ars pro toto. Das Magazin der Kulturstiftung der Länder, 3-2015, S. 25-29, hier S. 26

 

 

 Posted by at 10:17

Dienstbotengesänge

 Deutschstunde, Hannah Arendt, Singen, Theater  Kommentare deaktiviert für Dienstbotengesänge
Nov. 182015
 

„Wir beugen unser Haupt vor den Toten, niemals aber beugen wir uns dem Terror.“ So Bundespräsident Gauck am vergangenen Sonntag. Hier wollen wir uns einmal nicht mit den Reden, sondern mit dem Reden des Bundespräsidenten befassen, also mit seiner Art des Vortragens, Sprechens, mit seiner Wortfindung und Gedankenführung. Völlig zu recht wird ja immer wieder seine besondere rednerische Gabe, sein Geschick und seine Überzeugungskraft gerühmt. Worin gründet die besondere Rednergabe Joachim Gaucks? Was macht Joachim Gauck zu einem herausragenden Redner, was macht einen guten Redner aus?

1) Der gute Redner verfügt über eine gute Ausbildung der Stimme, der Sprechwerkzeuge. Er hegt und pflegt das Wort. Er vertraut dem Wort, und das Wort scheint ihm zu vertrauen. Sein Motto scheint zu lauten:

Lebendgem Worte bin ich gut,
das kommt heran so wohlgemut.

Wenn er redet, fällt das Verstehen leicht. Jeder einzelne Laut wird geformt, jedes Wort wird geformt, jeder Satz wird geformt und gewissermaßen in den Raum auf die Zuhörer hin gesprochen. Insbesondere bringt der gute Redner auch die Konsonanten zum Klingen. Das kann so weit gehen, dass auch die Konsonanten wie „gesungen“ wirken.

2) Der gute Redner lässt jede Silbe, insbesondere auch jede unbetonte Silbe gedeihen. Er verschluckt nichts. Der gute Redner sagt also „beugen“, nicht „beugn“, „aufgegangen“ statt „a’fggangn“, „haben“ statt „habm“, „wir loben dich“, nicht „wir lobm dich“. Ein sehr häufiger Fehler der schlecht ausgebildeten deutschen Schauspieler ist seit jeher – von Goethe in seinen „Regeln für Schauspieler“ bereits getadelt – das Verhuschen und Verschlucken der unbetonten Silben.

Als Hörbeispiel diene ein kurzer Wortwechsel aus Goethes Clavigo (1. Akt, 1. Szene):

Clavigo. Zwar ist mir’s weiter nicht bange; sein Einfluß bleibt – Grimaldi und er sind Freunde, und wir können schwatzen und uns bücken –
Carlos. Und denken und thun, was wir wollen.

Man höre sich diese oder ähnliche Sätze in einer beliebigen Aufführung auf einer heutigen deutschen Bühne an – man wird rasch erkennen: Die Schauspieler machen oft mit dem Wortlaut, was sie wollen; sie sind oft nicht imstande, dem Wort zu dienen, sondern sie denken und tun, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Die Lautung wirkt zufällig, die Konsonanten werden gekappt, die Vokale sind undeutlich, die gesamte Sprechweise wirkt kurzatmig und flachbrüstig.

Und dann versuche man einmal, eben diese Sätze zuhause für sich, oder mit einer Partnerin gemeinsam, einzuüben. Nach und nach wird das Ineinandergreifen, dieses florettartige „botta e risposta“, dieses Schlag auf Schlag eines gut vorgetragenen Dialoges hervortreten. Dann erwächst auch allmählich die Freude am Sprechen wieder.

3) Der gute Redner liest nicht nur ab, er hört die Sprache auch, er hat die Sprache gehört, er vernimmt das Singen im Hintergrund, er hat mindestens eine gewisse Zeit mit der Poesie verbracht, er trägt all die Kinderreime aus Küche und Keller, die Märchenverse, die Rätsel und Lautmalereien mit sich herum. Im guten Redner klingt immer etwas von der Dichtung nach, in ihm klingen die Lieder nach, die er gesungen hat. Seine Stimme wurde durch Poesie gekräftigt.

4) Die 1906 im niedersächsischen Linden geborene deutsche Philosophin Hannah Arendt sagt: „Im Deutschen gerade liegt das Volkslied aller Dichtung zugrunde, wenn auch in der eigentlich großen Dichtung so transformiert, daß es kaum noch kenntlich ist. So klingt die Stimme der Dienstbotengesänge durch viele der schönsten deutschen Gedichte.“

5) Atmen – Singen – Reden! Eine unersetzliche Übung für jede zukünftige Rednerin, einen unerschöpflichen Schatz zum Erwerb einer guten deutschen Aussprache – gerade auch im Unterricht mit Kindern und Lernenden nichtdeutscher Muttersprache – stellen die 100 oder 300 wichtigsten deutschen Volkslieder der letzten 300 Jahre dar, etwa das unsterbliche „Der Mond ist aufgegangen“. Wer mag und die Religion seiner Vorfahren nicht fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, der kann und soll ruhig auch die 100 oder 300 wichtigsten geistlichen Lieder der letzten 700 Jahre hören und singen.

Empfehlung für alle Redner, Schauspieler, Sprachlehrer und Menschen, die in der Öffentlichkeit reden müssen:
Der Mond ist aufgegangen, In: 100 deutsche Kinderlieder. Für Klavier mit Liedertexten. Bearbeitet von István Máriássy. Illustriert von Claudia Faber. K 148. Könemann Music Budapest 2000. € 5,95, S. 40-41

Zitat Hannah Arendts hier nach:
Beatrix Brockman: Scherben im Bachsand. Der Nachlass der Lyrikerin Eva Strittmatter kommt in die Akademie der Künste nach Berlin. In: Ars pro toto. Das Magazin der Kulturstiftung der Länder, 3-2015, S. 25-29, hier S. 26
http://www.kulturstiftung.de/scherben-im-bachsand/

Empfohlen sei auch:
Egon Aderhold/Edith Wolf: Sprecherzieherisches Übungsbuch. Henschel Verlag Berlin 2013

 Posted by at 13:05

Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?

 Hannah Arendt, Krieg und Frieden, Russisches, Ukraine, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?
Juni 032015
 

Auffällig an den zahlreichen Gedenkreden, Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum 8. Mai 2015 war in Deutschland wie auch in Europa überhaupt eine fast völlige Nichtbefassung mit der Geschichte Russlands, der Geschichte der Sowjetunion, eine Nichtbefassung mit der kleinteiligen, durch rechts- und linksextreme Diktaturen aller Art geprägten osteuropäischen Staatenwelt der Jahre 1918-1939, – und ein obsessives Starren auf das Deutsche Reich und nur auf das nationalsozialistische Deutsche Reich, das bekanntlich den 2. Weltkrieg entfesselt hat, – was wir alle genug und übergenug wissen und was aus diesem Grunde auf Schritt und Tritt wiederholt wird.

Dafür, für diese Unwilligkeit also, sich mit der Geschichte der Sowjetunion zu befassen, greifen wir nur einige zufällige Beispiele heraus, die nahezu beliebig ins Unendliche erweiterbar sind:
„Das Zeitalter der Weltkriege“, eine fundamentale, mit dem Segen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Preis von € 4,50 ausgegebene Überblicksdarstellung, erwähnt in der Zeitleiste fein säuberlich alle Angriffsfeldzüge des Deutschen Reiches und die meisten Angriffsfeldzüge der anderen europäischer Diktaturen in den Jahren 1914-1945. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Krieg gegen die soeben unabhängig gewordene Ukraine, den die neue russisch-sowjetische Regierung am 17.12.1917 entfesselt hat. Und doch fehlt der Hinweis auf die gemeinsame Siegesparade, die sowjetrussisch-kommunistische und nationalsozialistische Truppen am 22. September 1939 in Brest abhielten. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Finnisch-Sowjetischen Krieg, den „Winterkrieg“, also den Krieg, den die Sowjetunion am 30. November 1939 gegen das viel kleinere Finnland entfesselt hat.

Warum fehlt hier und auch sonst die Sowjetunion fast überall in den Gesamtdarstellungen? Warum verschweigen gerade unsere lieben Landsleute, die Deutschen immer, dass im Zeitalter der Weltkriege auch andere Staaten, insbesondere die Sowjetunion ab 1917 eine waffenstarrende, mörderische Unterdrückungspolitik gegen das eigene Volk betrieben und gegen benachbarte Staaten räuberische Angriffskriege entfesselten? War der finnisch-sowjetische Winterkrieg etwa kein Bestandteil des Zeitalters der Weltkriege? Waren die von der Sowjetunion ab 1917 bis 1941 gegen die Ukraine, gegen Finnland, gegen Polen, gegen Lettland, Litauen, Estland entfesselten Kriege und Terrormaßnahmen keine Kriege und keine Terrormaßnahmen?

Selbst der glänzende Historiker Heinrich-August Winkler, der doch die Geschichte Deutschlands so kenntnisreich wie kein zweiter zu erzählen vermochte, hat über die beispiellos mit Aggressivität aufgestaute, von wechselseitigen Angriffs- und Vernichtungsdrohungen geprägte europäische Staatenwelt der sogenannten Zwischenkriegszeit kein Wort verloren, als er die Feier des 8. Mai 2015 im Deutschen Bundestag maßgeblich prägte. Auch er stellte in seiner großartigen Rede letztlich die politische Entwicklung Deutschlands ausschließlich als endogenen Prozess dar, der von sich aus, aus der Tiefe der deutschen Nationalgeschichte heraus Elend, Not, Mord kurzum das Böse schlechthin über den Rest Europas gebracht habe.

Man möchte geradezu theologisch in lateinischer Sprache fragen: Estne Germania unica origo et vera incarnatio mali XX. saeculi? Ist Deutschland der einzige Urquell und die wahrhaftige Verkörperung des Bösen in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts? Geht man durch die Straßen Berlins mit dem düsteren Denkmal, diesem faszinierenden Touristenmagnet an der Hannah-Arendt-Straße, möchte man dies so glauben!

Woher kommt dieser auffällige moralische Bonus, den die Sowjetunion Lenins, Trotzkis, Berijas, Swerdlows, Jeschows und Stalins in weiten Teilen der deutschen Historikerzunft und der deutschen Politologen genießt? Warum spricht man in Deutschland tagein tagaus vom Holocaust und fast nie vom Holodomor, der diesem doch vorausging? Speist sich der prosowjetische Bonus der Deutschen aus völliger Unvertrautheit mit den Grundtatsachen der Geschichte Osteuropas? Speist er sich aus einem tiefsitzenden, nagenden Schuldgefühl der Deutschen angesichts des Leides, das DIE Deutschen und nur DIE Deutschen (unter ihnen auch der Deutsche Albert Einstein, auch die Deutsche Hannah Arendt, auch der Deutsche Karl Jaspers, auch die Deutsche Margarethe Buber-Neumann, auch der Deutsche Thomas Mann, auch der Deutsche Bert Brecht, auch der Deutsche Walter Ulbricht) durch die Entfesselung der Weltkriege über den gesamten Rest der Menschheit gebracht haben?

Ist jeder Vergleich zwischen den beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts, zwischen der kommunistischen Staatenwelt unter Führung der Sowjetunion und der faschistisch-nationalsozialistischen Staatenwelt unter Führung des Königreiches Italien und des Deutschen Reiches unangemessen?

War die Sowjetunion ein Phantom? Müssen wir lernen, mit der Lücke zu leben, so wie die Deutschen und die Russen und die nationalsozialistisch-sowjetisch beherrschten Völker Osteuropas damals lernten, mit der Lüge zu leben?

Wachen wir Deutschen eifersüchtig darüber, dass keine andere Nation auch nur im mindesten an unsere Schuld und Schuldigkeit heranreicht?

Woher kommt der so deutlich ausgeprägte antideutsche Affekt bei einem großen Teil der deutschen Historiker und Politologen?

So viele Fragen!

Beleg:

„Zeittafel“, in: Ernst Piper (Hrsg.): Das Zeitalter der Weltkriege. Helmut Lingen Verlag, Köln 2014. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 1553, Bonn 2015, S. 280-296

 Posted by at 13:59

Ein Volk, eine Einzigartigkeit, kein Gott: Deutschland

 Einzigartigkeiten, Hannah Arendt, Jesus Christus, Johannesevangelium, Philosophie, Religionen, Weihnacht  Kommentare deaktiviert für Ein Volk, eine Einzigartigkeit, kein Gott: Deutschland
Apr. 222015
 

Der Mönch Adso von Melk berichtet in dem Namen der Rose von dem einzigen Ereignis, das unbestreitbar und unleugbar sei – die unumkehrbare Wahrheit, la verità incontrovertibile, von dem das süße Psalmodieren der Mönche im Kloster summt und singt. Welches ist nun dieses Ereignis, die einzige ereignete Wahrheit, auf der der Glaube dieser Mönche in der Erzählung Umberto Ecos gründet?

Wir vermuten: Es ist die Botschaft von Gottes eingeborenem Sohn, der filius unigenitus, Jesus Christus, dieses für die Christen aller Zeiten so einzigartige Ereignis, die Geschichte von Leben, Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi, welche nach den Worten des Geschichtsphilosophen Hegel die Weltgeschichte in ein Vorher und ein Nachher trennt.

Für die gläubigen Christen aller Zeiten (sie sind stets eine Minderheit gewesen und sind es in Deutschland heute mehr denn je) gibt es dieses eine, einzigartige große Ereignis – die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die Menschwerdung Gottes in jedem einzelnen Menschen, der heute und morgen geboren wird: Weihnachten.

Die Kreuzigung Jesu ist für die Christen das exemplarische Menschheitsverbrechen schlechthin: schuldlos und grundlos hingerichtet wegen seines So-Seins, wegen seines Anders-Seins: Karfreitag.

Christus ist auferstanden: Die Auferstehung Jesu Christi ist das einzige einzigartige Ereignis für den Adso von Melk, für Johannes den Evangelisten, ja sogar für den Apostel Petrus: Ostern.

Alle anderen Ereignisse erscheinen im Spiegel dieses Heilsgeschehens wie ein Reflex, wie eine Steigerung, Wiederholung, Abwandlung oder Anverwandlung dieser einzigartigen biblischen Geschichte. Abwendung von Jesus Christus bedeutet Leugnung der Einzigartigkeit dieses Ereignisses. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wurde im Christentum hunderttausendfach besungen, bebildert, verankert, seine Botschaft der Einheit und Einzigartigkeit von Gottes- und Menschenliebe wurde von früh bis spät gesungen, gepredigt, vorgelebt und nachgeahmt. Das ganzkörperliche Opfer Christi (im Judengriechisch also der Holokaust Jesu Christi) wird gedeutet als Vorspiel und Nachspiel jeder anderen Hinmetzelung von Menschen.

Genau diese Einzigartigkeit eines Ereignisse wollen nun die Fraktionen von CDU und SPD vereinnahmen für ein Ereignis des 20. Jahrhunderts: den Holokaust, besser die vielen, vielleicht 6 Millionen Holokausts der europäischen Juden in den Jahren 1942-1945. Diese 6 Millionen Holokausts werden durch diese neuartige pseudopolitische Ersatztheologie des Bundestages zum Substitut des früheren Glaubens der Christen an die Einzigartigkeit von Kreuzestod und Auferstehung!

Die Holokausts (der Holokaust) werden zum begründungslosen, nicht befragbaren, unhintergehbaren Kristallisationspunkt deutscher Identität. Der Holokaust wird in Deutschland immer stärker zum übergeschichtlichen Ereignis verklärt, wird tausend- und abertausendfach beschworen, bebildert, wiederholt und rituell verteidigt, durch strafrechtliche Leugnungsverbote eingehegt.

Wir zitieren beispielhaft aus dem neuesten Beschlussentwurf des Bundestages (Hervorhebung durch uns):

In dem neuen Text von Union und SPD im Bundestag steht nun, 1915 habe das damalige türkische Regime mit der planmäßigen Vernichtung von mehr als einer Million Armenier begonnen. Wörtlich heißt es: „Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen und der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt.“

Auffallend: Nicht Nazi-Deutschland, nicht die deutschen oder besser europäischen Mörder von damals trugen nach Meinung des Bundestags individuelle Schuld, sondern ganz Deutschland trug damals und trägt auch heute und fürderhin weiterhin Schuld. So sehen das die Fraktionen von CDU und SPD im Deutschen Bundestag. Also tragen alle Deutschen Schuld am Holokaust – auch Thomas Mann, auch Paul Gerhardt, auch Albert Einstein, auch die deutschen Juden von damals und heute, auch Margot Käßmann, alle alle alle Deutschen sind schuldig in alle Ewigkeit.

Es ist eine reizvolle Aufgabe nachzuvollziehen, wie der ehemals verstandene Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes nunmehr in der deutschen Gesellschaft und im Deutschen Bundestag durch einen universal durchgesetzten, nicht mehr bezweifelbaren Holokaust-Bezug ersetzt werden soll.

Eine Gesellschaft wie die unsrige, die mit dem Gedanken der Einzigartigkeit der Menschwerdung Gottes nichts mehr anfangen kann, hat sich eine felsenfeste Ersatzgewissheit gesucht und gefunden und schickt sich an, an diesem Freitag durch den deutschen Bundestag die Einzigartigkeit deutscher Schuld, die Unvergänglichkeit der Schuld Deutschlands auf alle Zeiten in Stein zu meißeln.

Während das Judentum und das Christentum Religionen des Lebens sind, möchte der Deutsche Bundestag offenbar eine absolute Religion des Bösen, eine dauerhafte Fixierung an die Gewissheit kollektiver, völkischer Schuld verkünden: die Holokaustbindung der Bundesrepublik Deutschland wird so zur leibhaftigen Religion des Todes.

Es ist reizvoll zu erkennen, dass der Bundestag ein zutiefst reliöses Wort aus dem alexandrinischen Judengriechisch übernimmt, um dem Holokaust eine abgründige, sakrale Würde zu verleihen. Diese Sakralisierung des abgrundtief Bösen ist spiegelbildlich verkehrt zur Banalität des Bösen, von der Hannah Arendt sprach.

Für den Deutschen Bundestag tritt wohl am Freitag der Holokaust des europäischen Judentums als Ersatzmythos an die Stelle des weithin verdrängten und vergessenen früheren Glaubens an den Menschen Jesus Christus. Statt an den auferstandenen Menschen Jesus Christus glauben sie an den immer zu besiegenden Teufel, sie glauben, dass Deutschland die Inkarnation des Bösen darstellt.

via Genozid: Merkel nennt Massaker an Armeniern nun doch Völkermord – DIE WELT.

 Posted by at 22:51