Heimat, SchönebergKommentare deaktiviert für Auf Widerruf gestundete Zeit: Schrott
Sep.152025
Ein Bild der Zerstörung bot sich meinen Augen bei der Heimkehr im noch kaum sich lichtenden Dunkel am vergangenen Freitagmorgen. Der Zugang zu meiner Wohnung war nur über Umwege möglich; der Schulhof der Teltow-Grundschule war mit Flatterband abgesperrt. Was war geschehen? Bald erfuhr ich’s: Eine gewaltige Explosion hatte ein vor dem Gashäuschen geparkten BMW zerfetzt. Um etwa 1.30 Uhr zerriss nächtens eine Bombe die Ruhe unserer Heimat. Ein Mann wurde dabei schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Ihm wünschen wir von hier aus rasche Genesung. Bis in den späten Abend hinein ermittelte eine Mordkommission, sicherte Zoll um Zoll die Spuren, erfasste den Tatort mit Drohnen und Präzisionskameras, konferierte, sichtete, sicherte, spürte, befragte.
Es kommen härtere Tage, die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar im Schrott.
Der Ort ist fortan gezeichnet. Einbruch der Gewalt in die brüchige Realität, unvermittelt!
Und zwei Tage später sind Spuren des Geschehenen noch sichtbar:
War es schon immer so, dass die Fertilität der Frauen mit steigendem Einkommen und steigendem Wohlstand abnahm? Was sagen unsere alten Märchen dazu? Hören wir doch einmal, was die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen dazu sagen! Der Anfang einer von ihnen aufgezeichneten Geschichte lautet:
Es waren einmal zwei Schwestern, die eine hatte keine Kinder und war reich, die andere hatte fünf Kinder und war eine Witwe und war so arm, dass sie nicht mehr Brot genug hatte, sich und ihre Kinder zu sättigen. Da gieng sie in der Not zu ihrer Schwester und sprach „meine Kinder leiden mit mir den größten Hunger, du bist reich, gib mir einen Bissen Brot.“
Wir sehen: Dieses Märchen bringt gleich zu Anfang eine in vielen Geschichten und Mythen vorkommende Konstellation: Geschwister, die ungleich reich sind, von denen das reichere keine Kinder und das ärmere viele Kinder hat. Erstaunlich ist hier, dass dieser Unterschied als solcher zunächst einmal hingenommen wird und die arme kinderreiche Schwester erst in höchster Not sich mit ihrer Bitte an die reiche kinderlose Schwester wendet. Was mag wohl die reichere Schwester nun erwidern? Hören wir es gleich an:
Die steinreiche war auch steinhart, sprach „ich habe selbst nichts in meinem Hause“ und wies die Arme mit bösen Worten fort. Nach einiger Zeit kam der Mann der reichen Schwester heim, und wollte sich ein Stück Brot schneiden, wie er aber den ersten Schnitt in den Laib tat, floss das rote Blut heraus. Als die Frau das sah, erschrak sie und erzählte ihm was geschehen war.
Beachtlich ist hier, dass entgegen der landläufigen Meinung im Mann ein stärkeres Erbarmen gezeigt wird als in der Frau. Ein doch recht auffälliger Gegensatz zu dem Weiblichkeitsideal, an das wir uns bei älteren Texten gewöhnt zu haben scheinen! Es ist der Mann, der hier den entscheidenden Schritt der Barmherzigkeit tut. Und so geht es weiter:
Er eilte hin und wollte helfen, wie er aber in die Stube der Witwe trat, so fand er sie betend; die beiden jüngsten Kinder hatte sie auf den Armen, die drei ältesten lagen da und waren gestorben. Er bot ihr Speise an, aber sie antwortete „nach irdischer Speise verlangen wir nicht mehr; drei hat Gott schon gesättigt, unser Flehen wird er auch erhören.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so taten die beiden Kleinen ihren letzten Atemzug, und darauf brach ihr auch das Herz und sie sank tot nieder.
So endet diese traurige Geschichte ohne Moral, die unter dem Titel Gottes Speise in einigen Auflagen der Grimmschen Märchen enthalten ist, aber heute meist nicht mehr mit abgedruckt wird – vermutlich weil sie dem gängigen Schema des mit einem Happy End endenden Märchens überhaupt nicht entspricht und einen schonungslosen Blick auf charakterliche Deformationen wirft, die offenbar seit Menschengedenken mit allzu großem Reichtum einhergehen.
Die reiche, aber kinderlose Frau ist freilich etwas, was recht häufig im Märchen vorkommt, man denke nur zum Beispiel an Rapunzel, wo die Zauberin in einem schönen weiten Garten, der von einer hohen Mauer umgeben ist, ihre wundertätigen Pflänzlein züchtet – und doch offenkundig unglücklich ist, denn sonst würde sie ja nicht unbarmherzig der armen Nachbarin aus dem Hinterhaus das Kind rauben.
Wir dürfen also festhalten: zumindest in diesem Märchen wird durchaus die auch heute in der Demografie erneut festgehaltene Hypothese ausgesprochen, dass mit steigendem Wohlstand die Zahl der Kinder abnimmt. Sozioökonomischer Status und Fertilität stehen hier, wie die Sozialwissenschaftler sagen, in einer starken negativen Korrelation.
Quellenangabe: 5. „Gottes Speise“, 12. „Rapunzel“ in: In: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, S. 805 (Gottes Speise) und S. 84-88 (Rapunzel)
Bild: Die Grabstätte der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Alter St-Matthäus-Friedhof, Berlin-Schöneberg, Aufnahme vom 26. Juli 2025
DIE POSAUNENSTELLE tief im glühenden Leertext, in Fackelhöhe, im Zeitloch:
hör dich ein mit dem Mund.
Dies ist ein Gedicht Paul Celans aus der postum veröffentlichten Sammlung „Ilana“.
Unter Posaunenstelle ist hier und heute, am Totensonntag des Jahres 2024, wohl die üblicherweise mit Posaunen unterlegte Textstelle
Tuba mirum spargens sonum per sepulcra regionum
zu verstehen.
Hör dich ein mit Mund – Hier meinen wir ein besonderes, ein hörendes Sprechen zu vernehmen. Hören mit dem Mund, das geschieht beim innehaltenden Singen, in dem der gesamte Trakt aus Mund, Rachen und Hals ein Schlot wird, in dem alles versinkt und zugleich hervorquillt. Inalare la voce – die Stimme einatmen, so formulierten das die alten Meister des Belcanto.
Zitat:
Paul Celan: DIE POSAUNENSTELLE, in: ders., Sammlung „Ilana“, in: ders., Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, S. 570, sowie dazugehörender Kommentar S. 1235-1236
Bild (von oben nach unten): Drüsiger Götterbaum (Ailanthus altissima), Hopfen (Humulus lupulus), Eschen-Ahorn (Acer negunda), gesichtet heute im Cheruskerpark an der Turnanlage vor dem EUREF-Campus. Bestimmt durch die App Flora incognita
Close reading, langsam lesen, klingen lassen, vorlesen, hören, zuhören, eintauchen in das dichte Gespinst, das feine Gewebe, den teilweise unentwirrbaren Knaul aus Gedanken, Gefühlen, Erlebtem und Erfahrenem, diesen groviglio, garbuglio, o gnommero, wie es der dottor Ingravallo, von dem uns Carlo Emilio Gadda berichtet hat, immer wieder zu sagen pflegte. Das ist es! Das wäre es!
Darüber, über diesen Knaul der Vielfalt, schreibt Italo Calvino:
„Carlo Emilio Gadda cercò per tutta la sua vita di rappresentare il mondo come un garbuglio, o groviglio, o gomitolo, di rappresentarlo senza attenuarne affatto l’inestricabile complessità, o per meglio dire la presenza simultanea degli elementi più eterogenei che concorrono a determinare ogni evento.“
Nachweis: Italo Calvino: Molteplicità. In: Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millenio. Con uno scritto di Giorgio Manganelli. Milano, Mondadori 2023, Seite 103-122, hier Seiten 103 und 105
Foto: Tagliatelle con ragù alla bolognese – ein unentwirbarer Knaul. Gesehen, gegessen, genossen am 18. Januar 2024 im Talea, Botanisches Bistro, Ebersstr. 27A, Berlin-Schöneberg
Eine Hütte für Kugelmenschen entdeckte ich vor zwei Tagen im Cheruskerpark!
Schön aufgeschlichtet aus sauber behauenen Planken Von hellem Holz erhebt sich nun ein kleines Büdchen Mit freundlichem Schornstein mitten auf kahlgetret’ner Wiese. Wer mag darin wohnen, für wen ist das Hüttchen bestimmt? Ein Blick auf die hell leuchtende Tür gibt Auskunft: die Kugelmenschen Sind’s, von denen schon Aristophanes in Platons Symposium erzählt. Denn ursprünglich gab es ja nicht die Unterscheidung in Mann und Frau, Sondern die ersten Menschen besaßen Kugelform, bewegten sich In alle Richtungen, rollten umher und gaben sich allerlei Freuden hin. Drei Gattungen gab es, das männliche und das weibliche und auch das Gemischtgeschlechtliche. Und so schillerte eine bunte Palette an Unterschiedlichsten Mengungen. Keiner war eindeutig festzulegen. Selige Vorzeit, als die schroffe Scheidung in männlich und weiblich Noch nicht eingeführt war! An diesen Urzustand knüpft der heutige Geschlechterdiskurs erneut an. Und so mag denn In diesem Hüttchen zugleich Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte Verkörpert sein. Inizio heißt ja auf italienisch Anfang. Fine dagegen Heißt Ende, und so ist auf wundersame Weise Anfang und Ende In diesem kleinen Büdchen symbolisch vereinigt, und der Name des Büdchens Lautet: Finizio. Trefflich gesagt, zu finden im Cheruskerpark zu Berlin, Schöneberg.
Der Schulhof der Teltow-Grundschule, Aufnahme vom 20.08.2019
Nachdenklich, fast traurig stimmt mich die Betrachtung des neuen Zustandes, in den der Schulhof der Schöneberger Teltow-Grundschule versetzt worden ist. Wir erinnern uns: Der Schulhof dient eigentlich der unbeschwerten Nutzung durch die Kinder in den Pausen, doch war er stets allen anderen Bürgern als Durchgang freigegeben. Die Radfahrer durften nicht durchfahren, sondern mussten zum Schutz der herumtollenden Kinder absteigen. Der Autoverkehr war ganz ausgeschlossen.
Doch nur die wenigsten Radfahrer hielten sich an das Durchfahrverbot, die meisten fuhren durch, sehr zum lauten Missfallen der Kinder. Über mehr als zwei Jahre versuchte man alles, um die Herren und Damen Radfahrer zum Absteigen und Schieben zu bewegen: Lustige bunte Plastikmännchen wurden aufgestellt, Blumenkästen verwandelten die frühere Rennstrecke der Radfahrer in einen Hindernis-Parcours. Gelegentlich kontrollierten Mitarbeiter des Ordnungsamtes oder auch Polizisten und ermahnten die fahrenden Radfahrer. Nichts half.
Im Gegenteil: Die Kinder lernten auf dem Pausenhof Tag um Tag von den Erwachsenen, dass man sich nicht an Verkehrsregeln halten muss, dass die Erwachsenen das nicht einhalten, was sie den Kindern immer wieder predigen.
Ich meine: Schon hier in der kleinen Welt des Schulhofes funktioniert das Zusammenleben nicht so richtig. Achtsamer, schonender Umgang miteinander, Einhaltung der Regeln sind eine Grundvoraussetzung für das gemeinsame Wachsen und Gedeihen der Gesellschaft. Wenn bereits hier immer wieder Rücksichtslosigkeit vorgelebt wird, wie soll dann das große Ganze klappen? Hat es dann einen Sinn von Klimaschutz, von der „Rettung der Welt“, von der Solidarität mit den Schwachen (also in dem Fall mit den Kindern) zu reden?
Ich meine: nein! Das ganze scheppernde Gerede von der Rettung der Erde, von der Klimarettung, von der klimaneutralen Wirtschaft und was dergleichen hochtrabende Reden mehr sind, hat doch keinen Sinn, solange nicht Tag um Tag, Mensch für Mensch vorgelebt wird, dass es uns ernst ist mit dem, was lauthals vorgeplärrt wird über alle Kanäle!
Nun, jetzt ist der ehemalige gemeinsame Raum, der „Shared Space“, wo spielende Kinder, schiebende Radfahrer, erwachsene Spaziergänger schiedlich friedlich hätten miteinander auskommen können, in eine „Gated Community“, eine umzäunte Gemeinde umgewandelt worden. Zäune schützen jetzt die Kinder in einem umhegten Raum, ein letztes schmales Band wird für die Radfahrer an der Seite freigehalten, die zusätzlich durch mächtige, aufgerüstete Blumenkasten-Balken am Durchbrettern gehindert werden. Die Postbotin muss nunmehr ihren Hänger vom Fahrrad abkuppeln, um überhaupt durchzukommen.
So weit ist es also gekommen. Kein bucklicht Männlein winkt uns mehr zu. Dann braucht man aber auch nicht mehr von Rettung der Welt oder vom Erreichen des 2-Grad-Zieles zu sprechen. Was im Kleinen, im Schulhofmaßstab nicht funktioniert, wird auch im Großen, im globalen Maßstab nicht gelingen.
„In der Ökologie werde kein Deutscher über seinen Willen hinaus zu irgend etwas verpflichtet!“ Die Berliner oder auch die Deutschen sind nicht bereit, freiwillig die verhängten Parkverbote einzuhalten und damit einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Die Hauptstraße in Schöneberg, die ich gelegentlich entlangradele, weist über einige Kilometer eine Busspur aus. Es geht darum, die verordnete 30-km/h-Höchstgeschwindigkeit in ihrer Wirkung auf die Luftqualität zu überprüfen und zugleich den Busverkehr als weniger luftbelastende Verkehrsform zu beschleunigen. Denkste, Pustekuchen, trotz ständiger Überwachung ist die Busspur ständig zugeparkt! Dieses Foto zeigt drei Fahrspuren der Schöneberger Hauptstraße: ganz rechts die wie üblich dauernd zugeparkte Busspur, in der Mitte die vorübergehend zugeparkte erste Fahrspur, ganz links die zweite Fahrspur, auf der sich wie so oft ein Stau gebildet hat.
Ich meine, es hat überhaupt keinen Sinn, irgendetwas zum Thema Klimaschutz oder Luftreinhaltung von uns deutschen Bürgern zu erwarten. Beweis: Die Starts und Landungen an deutschen Flughäfen nehmen seit 5 Jahren mit wachsenden Wachstumsraten zu.
Dabei ist nachgewiesen, dass der Flugverkehr unter allen vermeidbaren CO2-Quellen die größte Last an klimabeeinflussenden Abgasen emittiert! Ein einziger Mittelstreckenflug emittiert pro Passagier so viel CO2 wie ein kleiner PKW, der das ganze Jahr über genutzt wird.
Die Deutschen wollen mehrheitlich einfach keinen Klimaschutz, jedenfalls sind sie nicht bereit einen eigenen Beitrag zu leisten.
Gedenktafel und Graffito an der Hauptstraße 155 in Schöneberg, aufgenommen heute
Boah, ist das heute ein unablässig prasselnder, galaktisch sprühender Nebelregen! Nach einem Friseurbesuch pilgere ich passend zu diesem nebelfeuchten spacigen Dunstschwadenwetter einen kurzen Abstecher zur Hauptstraße 155, zu dem Haus, in dem von 1976-78 David Bowie wohnte. Er wurde ja an einem 8. Januar geboren!
Die Immenstädter Autorin Barbara Frey führte mich kürzlich an diese Stelle, als sie auf Forschungsreise in Schöneberg vorbeikam und mich in das Leben und Schaffen Klaus Nomis einführte. Der außerhalb seiner Geburtsstadt sehr bekannte Countertenor Klaus Nomi, der in Immenstadt/Allgäu geboren wurde, in Berlin eine Gesangsausbildung durchlief und oft im Schöneberger Kleist-Casino auftrat, unter anderem mit der berühmten Arie der Dalila aus „Samson et Dalila“, war während seiner New Yorker Jahre (ab 1973) eine wesentliche Anregungsquelle für den 3 Jahre jüngeren David Bowie, der wesentliche Elemente von Nomis Bühnenerscheinung übernahm und produktiv weiterentwickelte. Insbesondere die Bühnenkostüme Nomis dürften maßgeblich die späteren Outfits von Bowie beeinflusst haben, wovon das oben zu sehende Graffito Zeugnis ablegt. Am 24. Januar 2019 veranstaltet das Literaturhaus Allgäu in Immenstadt mit Barbara Frey eine Soirée auf den Spuren Klaus Nomis.
David Bowie – 8.1.1947 London – 10.1.2016 New York City Klaus Nomi – 24.1.1944 Immenstadt – 6.8.1983 New York
Herrlicher, herzerwärmender Gastauftritt von Marlene Dietrich in einer der ersten Folgen von „Babylon Berlin!“ Allein schon wegen dieses trotzigen Aufbegehrens der großen deutschen Diseuse lohnt sich das Ansehen dieser prachtvollen Serie unbedingt! „Ja, damals!“ Damals hatten die deutschen Sängerinnen Mumm in den Knochen. Dietrichs Diktion war vorbildlich. Diese große deutsche Diseuse traf die Töne rein und klar und unverzerrt, auch ohne elektronische Implantate und Korrekturen, wie sie sich heute breitgemacht haben. Sie formte die Wörter der deutschen Sprache verständlich bis in die feinste Faser hinein. Ja, sie KONNTE noch GUTES DEUTSCH singen. Sie bot den Produzenten die Stirn. Sie widerstand!
Wie einigen anderen deutschen Sängern und Sängerinnen der leichten Muse heute auch noch (etwa der ebenfalls sehr sauber singenden Helene Fischer) schlug und schlägt ihr aus Teilen des Feuilletons dumpfe Ablehnung, stumpfe Ignoranz, ja roher Neid entgegen. Die Bilder mit der Aufschrift „Marlene go home“, zu sehen bei ihrer Rückkehr nach Berlin im Jahre 1960, sind ein beredtes Zeugnis dessen. Dennoch stammt sie von hier, sie gehört auch hierher nach Schöneberg!
Unser Bild zeigt einen Blick auf den Himmel über der heutigen Leberstraße, genau an der Stelle, wo Marlene Dietrich am 27.12.1901 das Licht der Welt erblickte! 280m entfernt von der Stelle, wo dieses hier jetzt niedergeschrieben wird.
Kurzes Innehalten auf dem Fahrrad heute beim Befahren der Bamberger Straße, beim Nachsummen einiger Wortgleichungen verschiedener Sprachen. Nachsinnen über einige Probleme der sprachanalytischen Philosophie.
Alfred Tarski sagt: „If the domain A is infinite, then a sentence S of the language L is correct in A if and only if S is deducible from T and the sentences saying that the number of elements of A is not any finite number.“ Tarskis Wahrheitsbegriff scheint also axiomatisch von einer Mehrheit von Sprachen auszugehen. Wir könnten nur dann von Wahrheit begrifflich sprechen, wenn wir von einer Mehrheit an Sprachen ausgingen? Und ohne Übersetzbarkeit bliebe jede Aussage über etwas Nichtsprachliches sinnlos?
Hmmm. Du hältst dein Fahrrädle an. Wolltest du hier in Schöneberg nicht noch jemandem einen Besuch abstatten, der nicht mehr hier wohnt? Wer war dies doch, hier um die Ecke in der Haberlandstraße 5, der heutigen Haberlandstraße 8? Was würde der ehemalige Bewohner wohl zu dem Wahrheitsbegriff Alfred Tarskis sagen?
Von September 1917 bis Dezember 1932 wohnte er hier. Vor hundert Jahren wäret ihr Bezirksnachbarn gewesen.
Eines ist sicher: Sein Deutsch ist eine der besten deutschen Sprachen, die du letzthin gelesen hast. Seine persönlichen Briefe, die du gerade liest, bersten von Heiterkeit, funkeln vor Ironie, bisweilen unflätig wie Mozarts Bäslebriefe, sie sind durchtränkt von unvordenklicher, unauslotbarer Schwermut. Sein wissenschaftliches Deutsch hingegen ist streng und trocken, dabei in Satzbau und Genauigkeit des Wortschatzes durchaus ebenbürtig dem Lateinischen eines Titus Livius, eines Marcus Tullius Cicero. Professorendeutsch im besten Sinne! Sowohl in seinen Briefen wie in seinen wissenschaftlichen Schriften ist der Vf. auch heute noch durchaus empfehlenswert. Lesenswert und hinreißend!
Ja, hier war es, und du kannst es dir vorstellen. Über das Turmzimmer in der Haberlandstraße kannst du lesen:
„Regale voller Bücher, Zeitschriften und Seperatdrucken, ein wenig erhöht auf einem Podest vor einem der beiden kleinen Fenster ein Schreibtisch und ein Stuhl, und an den Wänden Drucke von Isaac Newton und Michael Faraday. Dies war sein war sein Reich, wo nicht aufgeräumt werden durfte, sondern nur vorsichtiges Staubwischen erlaubt war. Hier hat er gearbeitet, die ihm genehmen Gäste empfangen, und hier residierte auch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik.“
Bei kaltem Frost und strahlendem Sonnenschein warfen wir am vergangenen Samstag einen großartigen, erkenntnisreichen Blick in die Geschichte unserer Schöneberger Wohnumgebung! Geführt durch Bürgermeisterin Angelika Schöttler durchstreiften wir unseren Bezirk. An jedem dritten Samstag im Monat wird in der Regel mit der Bürgermeisterin ein neues Gebiet erkundet – sehr löblich, sehr empfehlenswert! Thema des Kiezspazierganges war dieses Mal das Bayerische Viertel.
Für die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie stellt zwar das heutige Schöneberg kein Ruhmesblatt dar, denn die Schöneberger Kohlenhandlung, in der die mutigen SPD-Politiker Annedore Leber und Julius Leber ihre konspirativen Treffen abhielten, ist in ihrem jetzigen Zustand nur noch als trauriges Denkmal für das Vergessen zu bezeichnen.
Aber es war mir um so mehr eine große Genugtuung, dass der maßgebliche Begründer des Revisionismus, der große Sozialdemokrat Eduard Bernstein, immerhin noch im Gedächtnis zumindest unserer kleinen Wandergruppe verankert wurde. Ja, wir kamen an der oben zu sehenden Gedenktafel in der Bozener Straße vorbei. Gelegenheit, dieses mutigen, unbeugsamen Theoretikers, der als einer der ersten SPD-Politiker öffentlich an den marxistischen Dogmen zweifelte, zu gedenken!
Bernsteins Grab besuchte ich übrigens am 4. Juni 2017 auf dem Friedhof an der Eisackstraße, der sich im Zuge der Auflösung befindet, umtost von der Stadtautobahn A 100, ebenfalls in Schöneberg. Dort dämmert Bernsteins Ehrengrab unter tiefschattenden Bäumen dem Ende alles Irdischen entgegen.
Die Schriftsteller Gottfried Benn und Arno Holz zählten ebenfalls zu den Schönebergern. Wir kamen an ihren ehemaligen Wohnungsadressen vorbei.
Besonders dankbar war ich dafür, dass sich endlich mein quälender Zweifel bezüglich der im Bayerischen Viertel überall ausgehängten nationalsozialistischen Verordnungen und Gesetze klärte, mit denen ab 1933 die Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung der Schöneberger Juden juristisch abgesichert wurde. Das kann doch nicht sein! Sollten diese Gesetze und Verordnungen immer noch oder gar wieder gelten? So durchzuckt es mich immer wieder, wenn ich durch das Bayerische Viertel radle. Warum hängen diese schändlichen Unrechtsparagraphen Tag um Tag im Schöneberger Straßenraum herum? Ist es denn schon wieder so weit?
Weit gefehlt! Es handelt sich um ein Erinnerungsmahnmal, die Orte des Erinnerns, wie ja auch aus kleinen, nachträglich angehängten Täfelchen hervorgeht. Starker Tobak, nichts für empfindliche Nerven ist das; diese Erinnerungsorte wirken vermutlich re-traumatisierend für die Menschen, die jene Unmenschlichkeit der durch die Nationalsozialisten beherrschten Gesellschaft gerade hier in der Schöneberger „jüdischen Schweiz“ erleiden mussten. Auf mich entfalten offen gestanden die Täfelchen weiterhin eine nachhaltig verstörende, deprimierende Wirkung.
Insgesamt jedoch fand ich den Rundgang mit Bürgermeisterin Schöttler eine wunderbare Sache. Sie liebt ganz offensichtlich den Bezirk. Sie möchte all die schönen und weniger schönen Geschichten, die hier geschehen sind, weitererzählen und weitergeben. Und wir gerieten sogar ins persönliche Gespräch mit einem Mitwandernden, der tatsächlich ab 1952 hier am Bayerischen Platz seine Kindheit erlebt hatte. Er schilderte uns seine Erlebnisse und Erfahrungen. Wir hörten zu, lauschten, froren, nickten, fragten.
Mein Dank geht in diesem Augenblick an Frau Schöttler und alle, die uns erzählt, geführt, begleitet haben. Und an die Märzensonne! Sie wird es im Laufe der Tage schaffen. Der alte Winter wird sich ohnmächtig in seine Berge irgendwo hinter Bayern zurückziehen. Sie wird die Oberhand über den Frost behalten.
Strahle hell und warm! Im Zuhören, Lauschen, Nicken, Fragen, ja auch im Frieren entsteht allmählich das Gefühl der Zugehörigkeit, das Gefühl der Gemeinschaft. Und zuletzt erscheint, wie immer vorübergehend, wie fröstelnd und gefährdet auch immer, tatsächlich das Bewusstsein von Heimat.
Was ist der Unterschied zwischen einer Gedenkstätte und einem Denkmal? Nun, ein Blick auf die Schöneberger Annedore-Leber-Gedenkstätte mag dies verdeutlichen: Hier, in dieser Kohlenhandlung, an diesem Ort trafen sich namhafte Mitglieder des deutschen Widerstandes. Sie, diese Deutschen, wollten den Krieg beenden, sie wollten Hitler stürzen, sie kämpften konspirativ gegen die verbrecherische Regierung der Nationalsozialisten. Mitglieder des Kreisauer Kreises, Annedore Leber, Julius Leber, Vertreter des sozialdemokratischen deutschen Widerstandes, des kommunistischen deutschen Widerstandes, des christlichen, des bürgerlichen und des adligen deutschen Widerstandes kannten und nutzten diese Kohlenhandlung. Ernst von Harnack, Ludwig Schwamb, Helmut James Graf von Moltke, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Claus Schenk Graf von Stauffenberg gehörten zum weiteren Umfeld der deutschen Männer und Frauen, die hier aus und ein gingen. Auch wenn die meisten dieser Deutschen heute vergessen sind, würden sie sich als mögliche Vorbilder für die deutsche Jugend eignen.
Gedenkstätten wie etwa diese Annedore-Leber-Gedenkstätte stehen und entstehen an den Orten des Geschehens. Sie erinnern an das, was hier „einst geschah“. Dass alle Bauwerke „echt“ sind, wird dabei nicht verlangt. So finden sich in zahlreichen KZ-Gedenkstätten kaum noch originale Ausstattungsstücke; Hütten, Baracken, Zäune und Stacheldraht sind häufig nachgebaut oder rekonstruiert. Dennoch hat sich eine blühende KZ-Gedenkstättenlandschaft entfaltet; diese häufig nachgebauten KZs innerhalb und außerhalb Deutschlands sind heute der Stolz der deutschen Erinnerungskultur. Sie dienen der Abschreckung und der Bestätigung dessen, was „wir immer schon geahnt haben“. Die deutsche Jugend wird an ihnen zu intensiven Gefühlen der Scham und der Verachtung erzogen: „Schaut her, so schlimm sind wir Deutschen gewesen!“, lautet der Cantus firmus. Man verlässt diese Orte mit dem Gefühl, dem Verbrechen selbst ins deutsche Antlitz geblickt zu haben.
Anders dagegen das Denkmal! Denkmäler sind losgelöst von dem Ort, an dem sie stehen. Das Holocaustdenkmal, so stolz man in Deutschland auch auf es sein mag, steht nicht am historischen Ort. Weder wurde an diesem Ort einer der vielen Beschlüsse zu den zahlreichen Massenmorden gefasst, noch wurden sie hier ausgeführt. Und dennoch, gerade deswegen ist es tipp topp in Schuss gehalten. Es bündelt und konzentriert den Kern deutschen Geschichtsdenkens auf einzigartige Weise. Es zieht die Massen an, es ist zu Recht eine Touristenattraktion ersten Ranges.
Das 12-KZ-Erinnerungsschild am Schöneberger Kaiser-Wilhelm-Platz ist ebenfalls keine Gedenkstätte, sondern ein Denkmal – ein Erinnerungszeichen an die genau 12 deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager, die „wir nie vergessen dürfen“. Derartige Denkmäler der Erinnerungskultur stehen vielfach verteilt im Berliner Stadtraum; sie bilden das Rückgrat der weltberühmten deutschen Vergangenheitsbewältigungserinnerungskultur.
Sie bilden deutsche Identität wie nichts anderes sonst ab. Sie sind der Kern der deutschen Kultur der Jetztzeit.
Das Bild zeigt die Annedore-Leber-Gedenkstätte am 17. Januar 2018, Ort: Berlin-Schöneberg, Torgauer Straße, Annedore-Leber-Park
Das Video zeigt den Zustand der Annedore-Leber-Gedenkstätte am 17. Januar 2018.