„Nur wo du bist sei alles“: der Ratschlag der Carlsbader Elegie

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Dez. 222015
 

„Verschlossen in sich selbst, als hätte dies Herz sich nie geöffnet“, so eingekerkert in lastender schuldhafter Verstrickung, in endloser Trauer: der Goethe des Septembers 1823 erinnert in manchem an die büßenden, mit Felsbrocken beladenen Künstler und Reiter im elften Gesang von Dantes Purgatorio!

Das Herz krampft sich zusammen
„Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
Belasten’s nun in schwüler Atmosphäre.“

Es gibt wohl kein anderes lyrisches Gedicht Goethes, das so verzweifelt, so abgründig endet wie die sogenannte „Marienbader Elegie“. Entstanden ist das Gedicht unterwegs, zwischen 5. und 17. September 1823 auf der Heimreise vom böhmischen Karlsbad (oder „Carlsbad“, wie Goethe schreibt) nach Weimar, wobei Eger als Zwischenstation diente. Genauer wäre es also, das Gedicht „Carlsbader Elegie“ zu nennen, wenngleich die schicksalhaften Geschehnisse, die ihr zugrundelagen und die sich über die Jahre 1821, 1822 und 1823 hinzogen, in Marienbad stattfanden.

Erstaunlich, verblüffend bleibt aber zu lesen, wie ein gütiges Wesen folgenden Ratschlag an den Unglücklichen gibt:

„Stund um Stunde
Wird uns das Leben freundlich dargeboten,
Das Gestrige ließ uns geringe Kunde,
Das Morgende, zu wissen ist’s verboten;
Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute,
Die Sonne sank und sah noch, was mich freute.

Drum tu wie ich und schaue, froh verständig,
Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben!
Begegn‘ ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
Im Handeln sei’s, zur Freude, sei’s dem Lieben;
Nur wo du bist sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich
.“

Weisheit des Kindes! „Das Gestrige ließ uns geringe Kunde“, – das ist Traumabewältigung, das ist das Abschütteln der ferneren Vergangenheit; ein sehr kluger Ratschlag, den insbesondere Überlebende von Katastrophen immer wieder zu beweisen scheinen. Zu beweisen scheinen! Ganz so einfach ist es ja nicht. Der Schluß der Carlsbader Elegie belegt dies schmerzhaft.

Quellenangabe:
„ELEGIE“ in: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Herausgegeben von Karl Eibl. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 457-462; ferner hierzu der aufschlußreiche Kommentar im selben Band, S. 1050-1057

Bild:
Blick von Goethes Gartenhaus auf sein Wohnhaus in Weimar, Aufnahme von unserer Radtour im Juli 2015
Goethes Gartenhaus 20150719_154349

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Mai 152010
 

Auf etwa 50 Quadratmetern lebten in den 70er Jahren im Moskau der Sowjetunion etwa 1-2 Familien mit 5-8 Menschen zusammen. Das galt auch für Akademiker, Künstler, Ingenieure. Umzug, Wohnungswechsel gehörten zur Normalität. Niemand murrte darüber. Das Wichtigste war: Man lebte in der Hauptstadt. Dafür war man bereit, mit weniger Wohnraum auszukommen als ein Bauer in Taschkent.

Heute hat in Berlin ein Sozialmieter oft schon ein Drei- bis Vierfaches der gutverdienenden Moskowiter an Wohnraum zur Verfügung. Dies ist ein nachgereichter Beleg für die Überlegenheit der Westberliner Mischform aus  Kapitalismus und Klientelismus! Und was einmal so ist, muss auch immer so bleiben. Die Bau- und Wohnungswirtschaft, die politischen Parteien, die öffentliche Verwaltung und die Sozialstaatsklientel – sie alle lebten prächtig von den Steuermillionen, die die reiche Bundesrepublik aus dem Westen herüberscheffelte. Wenn wieder einmal 500.000 D-Mark fehlten, genügte oft schon ein Griff zum Telefonhörer und ein Gespräch mit dem zuständigen Abgeordneten.

Mir wurde das von Berliner Politikern etwa so berichtet: „Kannst du uns mal bitte einen Haushaltsposten für 550.000 D-Mark lockermachen? Ja? Danke, wir laden dich dann zu unserem nächsten Empfang ein.Tschühüß!“ Und die 50.000 D-Mark Überschuss? Die waren Verfügungsmasse, mit denen konnte man sich weitere Klientelgruppen heranzüchten. Hier ein Pöstchen, da ein Mandätchen.

So hat man in Berlin über die Jahrzehnte hin eine satte, üppige Versorgungslandschaft erblühen lassen. Samt passender Versorgungsmentalität und Verteilungs-Ideologie. Ein Schlamm. Ein richtiger Faulschlamm. Dieser Schlamm baute sich über Jahre und Jahrzehnte auf. Das Gute daran ist: Schlamm ist fruchtbar. Im Schlamm gedeihen Geschöpfe, die anderswo nicht überleben würden.

Dann kam 2001. Der Bankenskandal. Die riesige Chance!  Jetzt konnte man den Schlamm richtig ausräumen. Besser: Man hätte den Schlamm ausräumen können. Man konnte die Gatter öffnen, konnte die alte Westberliner Verteilungsmentalität hinausspülen. Die gesamte alte Westberliner Machtelite konnte nach vorne treten und sagen: „Ja, wir sind Teil dieses Systems gewesen. Ja, wir waren dabei. Ja, wir haben uns an dieser Stadt und am Haushalt dieser Stadt versündigt. Die Väter haben Trauben gegessen – und den Söhnen werden die Zähne stumpf! Wir wissen, dass an unseren politischen Sünden die Stadt noch jahrzehntelang zu leiden haben wird. Zum Zeichen der Umkehr ändern wir unsere Politik grundlegend. Wir haben uns versündigt.“

Das alles wäre damals möglich gewesen. Es kam anders, wie wir alle wissen. Teile der Berliner Parteien betreiben Politik weiterhin, als hätte es „2001“ nie gegeben. Die Erfahrungen des Jahres 2001 werden als singuläres traumatisches Ereignis abgetan. Als wäre dieser Skandal der einzige gewesen! Also eine Art Tabubruch, für den man keine Erklärung liefert und aus dem man keine Lehren zieht.

Es wird weiterhin munter Geld verteilt. Jede Partei findet einen eigenen Berechtigungsgrund für das Geldverteilen: Mal sind’s die Investoren, mal sind es die Sozialschwachen, mal die Mieter, mal die Vermieter, mal die Klimaschützer. Dann die Klimaschutzindustrie, dann die Elektro-Auto-Industrie. Dann die Sozialindustrie. Dann die Antifa-Industrie.

Ausnahme: Für Kindererziehung gibt es keine Industrie. Deshalb fehlen in Berlin Lehrer, fehlen Erzieher. Sie sind nicht ausgebildet worden. Ausgerechnet da, wo staatliches Geld am dringendsten benötigt wird, fehlt es – schlimmer noch: Es kann mangels Masse nicht ausgegeben werden. Lehrer und Kita-Erzieher kann man sich in Berlin nicht kaufen. Es gibt sie nicht mehr zu haben.

Man verteilt Geld um an seine Empfängergruppen. Teile aller Parteien machen das so bei uns im Bundesland Berlin, selbstverständlich auch der ehemaligen Alternativ-Partei, der heutigen Grünen. Jeder holt sich vom Staat ab, was er kriegen kann. Auf dass kein Wandel eintrete!

Gibt es Ausnahmen? Ja. Selbstverständlich. In allen Parteien gibt es Zeichen des Umdenkens. Umstiege, Ausstiege aus satten, faulmachenden Verteilungssystemen. Der jetzige Finanzsenator und auch sein Amtsvorgänger bemühen sich redlich, die alte Versorgungsmentalität zu brechen. Sie haben oder hatten es schwer. Was Sarrazin über Migranten vom Stapel gelassen hat, lag daneben. Aber als Fachpolitiker hat er sich kein X für ein U vormachen lassen. Absolut untypisch für Berlins Parteienlandschaft! Ein Fremdling, ein migrantisch-erratischer Block. Gleiches gilt für den jetzigen Amtsinhaber Nußbaum. Ebenfalls erratisch, von außen eingeflogen und obendrein parteilos. Dass stets migrantische Politiker zu Finanzsenatoren werden, lässt tief blicken. Es ist doch offenkundig, dass eine solide Haushaltspolitik von denen, die vor 2001 ihr politisches Handwerk in Bundesland Berlin erlernt haben, vorerst nicht unbedingt zu erwarten ist. Also müssen Migranten aus anderen Bundesländern ran.

Es beweist, dass das jahrzehntelang angezüchtete finanzpolitische  Versorgungsdenken in Berlins Parteien noch keineswegs überwunden ist.

Letzter Beleg: Das inständige Flehen um eine Wiedereinführung der staatlichen Mieterförderung im großen Stil. Es darf sich nichts ändern! Die alten Kartelle sollen über die Hintertür wieder entstehen. Es soll ja alles so bleiben, wie es immer war. Hauptargument neuerdings gegen das Umziehen: „Wir haben hier unser gewachsenes Umfeld.“ Und das gewachsene Umfeld, die herrlichen Sozialkieze, der Traum jedes Moskowiters,  – das alles muss der Staat hegen und pflegen.

Wie in den guten alten Zeiten vor 2001. Zurück ins alte West-Berlin!

Post für den Problemmieter – 15.05.2010 – Berliner Zeitung

Man verfolge schließlich dasselbe Ziel: „Wenn die Politik auf massiven Druck oder per Richterspruch die Förderung wieder einführt, hilft das ja auch uns Eigentümern.“ Mit der Erhöhung hat Fitzke seinem Problemmieter sogar ein Wohnungsangebot der Konkurrenz aus der Nachbarschaft mitgeschickt: „Die Wohnung dort wäre billiger, dafür sogar größer“, sagte er.

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