C’est dans moi que je trouve …

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Aug. 062015
 

Pascal schreibt: „Ce n’est pas dans Montaigne, mais dans moi, que je trouve tout ce que j’y vois.“ Pensées, Ms. p. 431

Pascal! Ist er ein Autor der Vergangenheit? Hat er wirklich früher, genauer: vom 16. Juni 1623 bis zum 19. August 1662 gelebt? Ich zweifle zwar nicht daran. Und doch gibt es für mich – vielleicht mit Ausnahme von Augustinus – kaum einen anderen älteren Autor, bei dem der zeitliche Abstand so gering wirkt, kaum einen europäischen Autor, bei dem das Ich so schnell zuhause ist, kaum einen Schriftsteller, bei dem das Ich sich so wiederfindet … wie eben Blaise Pascal. Die erstaunliche Konstanz und Unveränderlichkeit des Französischen mag einen nicht unwesentlichen Beitrag zu dieser Erfahrung leisten.
Ich würde also beim Lesen seiner Pensées ohne zu zögern sagen:
Ce n’est pas dans Pascal, mais dans moi, que je trouve tout ce que j’y vois.

Quellenangabe:
Pascal: Pensées. Préface et introduction de Léon Brunschicg. Le livre de poche. Librairie Générale Française, 1972, S. 23 [431]

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Was sagt die Eule Europa?

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Juli 272015
 

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Estne una veritas an plures? Gibt es eine oder mehrere Wahrheiten? Auf 2000 Meter Meereshöhe stellte sich mir heute diese Frage. Ich entnehme sie einem Dialog des Nikolaus von Kues, der ja hier unten in Brixen wirkte. In Europa fliegen derzeit allzu viele Wahrheiten durch die Lüfte. Sie wirken eher wie Steinschleudern denn wie Argumente. Als fundamentum inconcussum Europas taugt heute mehr denn je das Geld. Über den Euro streiten sie alle. Timothy Garton Ash wirft Finanzminister Schäuble in der Repubblica von heute vor, der Vorschlag eines vorübergehenden Ausscheidens eines Landes aus dem Euro bedeute weniger Europa. Der Euro, das ist Europa. Weniger Euroländer, weniger Europa!

Was wohl der Kusaner dazu sagen würde? Nominalismus! Nominalismus des Euro, das heißt, weil der Euro Euro heißt, deswegen ist er Europa. Die Schweiz, Polen, Norwegen z. B. wären kein Europa, da sie den Euro nicht haben und nicht wollen.

Ist das logisch? Nein, der Streit um den Mythos Euro nimmt gespenstische Züge an! Ob Jürgen Habermas, der Schäuble vorwarf, er habe in einer Nacht 50 Jahre europäisches Vertrauen zerstört, oder Ash, der die rationalen Erwägungen Schäubles als europafeindlich abtat, all diese weit überschätzten Intellektuellen erliegen dem nominalistischen Trugschluss, der da lautet, der Euro, das ist Europa. Kläglich das Ganze! Der Euro hat Streit und Zwietracht gesät. Viele haben ihre Rationalität in der Anbetung des Geldes abgegeben. Ils ont perdu la raison.

Zitatnachweis:
Nikolaus von Kues: Der verborgene Gott. Ein Gespräch zwischen einem Heiden und einem Christen. Lateinisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Fritz Stippel. Erich Wewel Verlag, Freiburg im Breisgau, dritte verbesserte Auflage 1952, hier S. 10

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Wofür steht das E?

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Juli 162015
 

Ist dies das Symbol Europas, das E? Das E steht für den Euro. Ist er der Herr Europas, oder steht das E für etwas anderes hier? Elisabeth? Der Weg der Elisabeth ging über die sieben Werke der Barmherzigkeit. Fremde aufnehmen, Kranke pflegen etwa. Elisabeth legte die Krone ab und pflegte die Armen und Kranken in Eisenach. Ist der Elisabethpfad der bessere Weg? Das Foto zeigt die Markierung des Elisabethpfades an der alten Stadtmauer in Eisenach.20150716_190131

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Haben uns Sophokles und die Griechen noch etwas zu sagen?

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Juli 112015
 

Immer wieder tauchen wir hinab in die alte, griechisch sprechende Welt, die Europa zu dem werden ließ, was es heute zu werden verspricht. In den attischen Tragödien des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus werden zahllose Fragen erörtert, die uns bis zum heutigen Tage beschäftigen. Etwa die folgende:

Was hält Europa und die Europäische Union zusammen?

“Die Wirtschaft!” werden die meisten sagen. “Der freie Austausch an Waren und Dienstleistungen sichert den Zusammenhalt!”.

“Der acquis communautaire!” schallt es aus Brüssel zurück. “Die etwa 100.000 Seiten gemeinsamer Rechtstexte über Ansprüche und Rechte der Mitgliedsstaaten sind eine unlösbare institutionelle Klammer!”

“Der Euro!”, werden wieder andere einwerfen. “Nur durch die Gemeinschaftswährung werden die Schicksale der Staaten so unlösbar verknüpft, dass Wohlstand, Wachstum und soziale Gerechtigkeit gesichert sind.”

Kaum ein Zweifel darf bestehen, dass die Europäische Union und überhaupt europäische Politik auf der Wirtschaft und auf dem Geld begründet ist. Das Geld und die Wirtschaft sind – nach der aktuellen Politik zu urteilen – die eigentlichen Fundamente und der Maßstab der Europäischen Union.

“Lernt doch erst mal griechische Texte lesen”, begehre ich auf, wenn wieder einmal derartige Reden geführt werden. “Habt ihr nicht die Antigone des Sophokles gelesen?”

Erstaunlich etwa, was König Kreon in der Antigone des Sophokles über das Geld sagt:

οὐδὲν γὰρ ἀνθρώποισιν οἷον ἄργυρος

κακὸν νόμισμ᾽ ἔβλαστε. τοῦτο καὶ πόλεις

πορθεῖ, τόδ᾽ ἄνδρας ἐξανίστησιν δόμων·

τόδ᾽ ἐκδιδάσκει καὶ παραλλάσσει φρένας

χρηστὰς πρὸς αἰσχρὰ πράγματ᾽ ἵστασθαι βροτῶν·

Meine deutende Übersetzung in modernes Deutsch lautet:

“Denn keine so schlimme Gesetzesgrundlage erwuchs für Menschen wie das Geld. Es zerstört sogar Städte, es vertreibt Männer aus den Häusern, Geld prägt Mentalitäten um, so dass die an sich richtige Gesinnung zum Niederträchtigen gewendet wird.”

In diesen Versen (295-299), die wohl um das Jahr 442 vor Christus entstanden, schreibt Kreon dem Geld eine unterminierende, gemeinschaftsszerstörende Kraft zu. Keine schlechtere Grundlage für Gesetze als das Geld gibt es. Fremdes Geld zerstört den Zusammenhalt der Polis, Geldgier führt zu Hader, Zank und Zwietracht in der Stadt, die Gier nach Silber brachte die griechischen Städte gegeneinander auf.
Ich meine: Der Ansatz, die Europäische Union vornehmlich auf dem Geld begründen zu wollen, hat uns alle in die Irre geführt.

Die Europäische Union muss stattdessen auf anderen, auf kulturellen Werten, vor allem auf dem freien Wort stets von neuem begründet werden!

Weit geschmeidiger, weit moderner als der Kreon des 5. Jahrhunderts v. Chr. drückte dies kürzlich ein Schriftsteller, der unter uns lebende Petros Markaris in folgenden Worten aus:

Wir haben mit der Einführung des Euro diese Werte vernachlässigt und Europa mit dem Euro identifiziert. Und jetzt, mit der Rettungsaktion für den Euro, werfen wir die gemeinsamen Werte, die Diversität der europäischen Geschichte, die verschiedenen Kulturen und Traditionen als Ballast über Bord. Europa hat viel in die Wirtschaft investiert, aber zu wenig in die Kultur und die gemeinsamen Werte.

Quellen:

Sophoclis fabulae. Ed. A.C. Pearson, Oxonii 1975, Ant. vv. 295-300

Süddeutsche Zeitung, 26.01.2012:

http://www.sueddeutsche.de/politik/reise-des-schriftstellers-petros-markaris-die-krise-hat-das-letzte-wort-1.1267452

The Little Sailing: Ancient Greek Texts

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Europa an sich: „Gib dich doch nicht verloren nur des Geldes wegen!“

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Juli 092015
 

„Dice Angela Merkel che se fallisce l’euro, fallisce anche l’Europa. È vero.“
Zu deutsch also:
„Angela Merkel sagt, dass wenn der Euro scheitert, auch Europa scheitert. Das ist wahr.“
So schreibt es wörtlich Antonio Polito unter dem Titel „Una questione di sopravvivenza“ auf Seite 1 im italienischen Corriere della sera am 30. Juni 2015.

Ist das wahr? Stimmt das? Und vor allem: Sollen wir das glauben? Ist der Erhalt des Euro in seiner jetzigen Form eine Überlebensfrage für die Europäische Union oder gar für unseren Kontinent? Ist das so? Ist das Euro-Geld der Richter über Wohl und Wehe unseres Kontinents, der sich seit etwa 2700 Jahren als etwas mehr oder minder Zusammengehöriges betrachtet?

Nein, nein, nein. Ochi. Lassen wir uns das doch nicht einreden. Der Europäischen Union ging es vor der Einführung des Euro besser als danach. Der europäischen Wirtschaft ging es vor dem Euro besser. Nie herrschte mehr Zwietracht und Uneinigkeit in der Europäischen Union als seit der Einführung des Euro. Das Geld, oder weniger das Geld an sich als vielmehr vor allem der geradezu wahnhafte Glaube an die zentrale Symbolkraft der Einheitswährung, hat Streit und Hader nach Europa getragen. Der Streit um das Geld untergräbt die Einigkeit der Nationen.

„Also sind Sie gegen den Euro, Kreuzberger?“

Nein, ich bin nicht gegen den Euro als solchen. Er könnte und sollte bleiben, denn die Menschen wollen ihn und glauben irgendwie an seinen Wert und seine Haltbarkeit, wenn sie auch sonst nicht wissen, woran sie glauben sollen. Ich beklage aber mit aller Leidenschaft, dass wieder und wieder die Einheitswährung als symbolischer Werteanker der Europäischen Union oder schlimmer noch Europas beweihräuchert wird. Ich halte das für einen gefährlichen, wahnartigen Mythos. Hier ist Umdenken gefordert. Und dann sind die nötigen Schritte schnell, rasch und entschlossen zu tätigen. Zaudern zögert den Tod heran.

Ich meine im Gegenteil: Eintracht im Geiste ist wichtiger als Einheit im Gelde. Ja: Einigkeit, Eintracht sind wichtiger als Einheit! Europa steht und fällt nicht mit dem Euro. Europa blühte besser vor der Einheitswährung. Ja: Die Europäische Union steht und fällt nicht mit dem Euro. Die Europäische Eintracht, die Europäische Union stehen und fallen doch nicht mit dem Geld. Das sollten wir uns doch nicht einreden lassen. Da sollten wir drüber stehen. Ja: Freiheit, Recht und Einigkeit sind wichtiger als Macht, Wohlstandskonvergenz und Einheit unter dem zentralistischen Mythos der Einheitswährung.

Der aus dem sächsischen Hartenstein gebürtige Dichter Paul Fleming, der die beispiellosen Verwüstungen eines mörderischen gesamteuropäischen Krieges, – dieser forderte prozentual gesehen mehr Menschenopfer als selbst der Zweite Weltkrieg – gesehen hatte, spricht uns in dieser verfahrenen Lage Mut zu. Hören wir – mit geringen zeitbedingten Abwandlungen – was er uns heute zu sagen hat:

Sei unverzagt, Europa. Gib dich doch nicht verloren.
Weich doch dem Gelde nicht. Steh höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir, und halt es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Geld, Bank und Macht verschworen.
Was dich betrübt und labt, das hast du selbst erkoren,
Nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut.
Tu, was getan sein muß, und eh man dirs gebeut.
Was du erhoffen kannst, das wird dir auch geboren.
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist sich ein jeder selbst. Schau alle Sachen an.
Dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn
und eh du weiter gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.

Hier das Gedicht Flemings in der Fassung des Erstdruckes von 1642:

Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh‘ höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
hat sich gleich wieder dich Glück‘ / Ort / und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß‘ alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.
Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /
und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan /
dem ist die weite Welt und alles unterthan.

Quelle: An Sich. In: Paul Flemings Teütsche Poemata. Lübeck Jn Verlegung Laurentz Jauchen Buchhl., Lübeck 1642, S. 576

http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN719573971&DMDID=DMDLOG_0020&LOGID=LOG_0023&PHYSID=PHYS_0595

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Schritte zur europäischen Eintracht (Szene 1)

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Juli 022015
 

Trainspotter 20150701_220000Zwei europäische Bürger – einer aus Kreuzberg, der andere aus Schöneberg – stehen auf der Monumentenbrücke zwischen Kreuzberg und Schöneberg, nachdem sie Basketball auf dem Court unterhalb der Brücke trainiert haben.
Schöneberger:
Lass uns eine Pause einlegen. Das Basketballspiel fordert echt den ganzen Körper. Und der Mond scheint voll schön im Abendsonnenschein über den roten neuen Wohnungen. Siehst du dort das Café Trainspotter? Mensch, die Bewohner können den Abend genießen!
Kreuzberger:
Ja. Dort im Café Trainspotter habe ich heute eine Kartoffelsuppe gegessen. Puh, man kommt beim Basketball so was von aus der Puste. Lass uns quatschen!
Schöneberger:
Gut. Worüber? Welches Thema schlägst du vor?
Kreuzberger:
Alle Welt spricht doch in diesen Tagen von Griechenland – so lass uns ebenfalls von Griechenland sprechen.
Schöneberger:
Gut, einverstanden. Wo fängst du an?
Kreuzberger:
Beim Wasser, beim Meer. Beim Anfang von allem. Die Griechen sind ja ein Seefahrervolk. Höre doch die folgenden Verse, die ein Schiffbrüchiger sprach. Sein Name? Errate ihn! Ein Grieche, schlau und listig. Er war rettungslos gescheitert. Allein, im Stich gelassen! Du kannst doch Griechisch? Nein? Falls nicht, ich werde dir helfen! Höre erst einmal zu!
Schöneberger: OK. Leg los!

Der Kreuzberger rezitiert:

σοὶ δὲ θεοὶ τόσα δοῖεν ὅσα φρεσὶ σῇσι μενοινᾷς,
ἄνδρα τε καὶ οἶκον, καὶ ὁμοφροσύνην ὀπάσειαν
ἐσθλήν: οὐ μὲν γὰρ τοῦ γε κρεῖσσον καὶ ἄρειον,
ἢ ὅθ᾽ ὁμοφρονέοντε νοήμασιν οἶκον ἔχητον
ἀνὴρ ἠδὲ γυνή: πόλλ᾽ ἄλγεα δυσμενέεσσι,
χάρματα δ᾽ εὐμενέτῃσι, μάλιστα δέ τ᾽ ἔκλυον αὐτοί.

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Abschied vom Tage, vom heut gewesenen Tage

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Mai 142015
 

„Gelassen stieg die Nacht ans Land“ – dieses Gedicht verströmt etwas unfassbar Tröstliches – es ist ein Ausbalancieren des Dunklen und Hellen in ihm zu spüren, wie es sonst vielleicht nur im Flug eines Reihers über einer trüben Teichfläche zu finden ist:

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

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Apr. 172015
 

Die Benennung und Bewertung geschichtlicher Ereignisse wird immer wieder zum Gegenstand offizieller Sprachregelungen, ja mitunter werden falsche – oder als falsch deklarierte – Meinungen sogar strafrechtlich verboten.

Plato hat deswegen Dichter – mit der alleinigen Ausnahme Homers – völlig aus seinem Idealstaat verbannt, weil sie ja soviel Lügen auftischten und lauter Trugbilder erzählten.

Soll man Lügen und Leugnen, Dichten und Phantasieren strafrechtlich verbieten? Die französische Nationalversammlung hat dies mit Bezug auf Armenien getan – wobei bezeichnenderweise nicht die Leugnung von im französischen Namen begangenen einzigartigen Massakern (Indochina und Algerien im 20. Jahrhundert, Afrika und Europa in Napoleonischer Zeit) unter Strafe gestellt wird, sondern die Leugnung des armenischen Genozids.

Belgien hat das Leugnen der auch von Belgiern begangenen, ungeheuer grausamen Kolonialgreuel in Belgisch-Kongo nicht unter Strafe gestellt, wohl aber das Leugnen der ungeheuer grausamen von den Deutschen begangenen Greuel usw. usw. Jeder Staat scheint diejenige Lüge unter Strafe zu stellen, die ihm aus Opportunitätsgründen gerade in den Kram passt.

Ich persönlich bin freilich gegen derartige Wahrheitsfeststellungen durch die Politik. Beispielsweise wird immer wieder gesagt: „Alle Rassisten sind Verbrecher. Denn Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Dann müsste man aber auch Sigmund Freud als Verbrecher bezeichnen, denn wie zahlreiche frühere andere bedeutende Wissenschaftler und bedeutende Philosophen Europas (Kant und Voltaire etwa) hat er sich klar rassistisch geäußert, in dem Sinne nämlich, dass er von höher und niedriger entwickelten Menschenrassen sprach (z.B. in „Das Unbehagen in der Kultur“).

„Wir Deutschen haben zwei Mal – im Ersten und im Zweiten Weltkrieg – die ganze Welt in den Abgrund gezogen. Und wir Deutschen tragen eine erhebliche Mitschuld auch an dem Armenien-Genozid, wir Deutschen müssen endlich unsere Verantwortung und unsere Schuld auch am Genozid an den Armeniern öffentlich eingestehen.“

Diese Bereitschaft, auch für weit zurückliegende Verbrechen anderer die ganz persönliche Schuld zu übernehmen und glaubwürdige Reuegefühle zu manifestieren, finden wir besonders gut bei dem Dichter Paul Gerhardt ausgeprägt, dem in Lübben ein Standbild gewidmet ist. Er dichtet:

„Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen.“
„Ich, ich hab es verschuldet,
Was du getragen hast.“

„Deutschland trägt, wir Deutschen alle tragen unermessliche Schuld.“ Derartige Sätze kann man immer wieder von hochrangigen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und des Deutschen Bundestages hören.

Man kann das so sehen. Man darf durchaus die These vertreten, das „wir Deutschen“ die Alleinschuld am Ersten und am Zweiten Weltkrieg und auch die Schuld oder mindetens Teilschuld am Armenien-Genozid trügen. Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer hat sich während seiner Amtszeit etwa in diesem Sinne immer wieder hervorgetan.

Man kann es aber auch anders sehen – wie etwa Historiker, die von „Beiträgen aller Großmächte zur Kriegsauslösung“, von „Kausalketten“, von „Interessenkollisionen der Großmächte“ usw. sprechen.

Und es ist wichtig, dass den Politiker-Meinungen über Vergangenes auch widersprochen werden darf. Historiker haben sehr oft eine andere Meinung zur Geschichte als Politiker, Zeitzeugen vertreten sehr oft andere Ansichten als Schriftsteller, Politiker und Historiker. Und das ist auch gut so.

Um es kurz zu machen: Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik ist Teil des politischen Kräftespiels, unterliegt dem Machtkalkül und dem Machtbegehr. Ihr oberstes Ziel ist nicht die Erkenntnis der Wahrheit.

Wir brauchen gerade deshalb kein normiertes, kein einheitliches staatliches Geschichtsbild. Jede Gesellschaft soll und wird unaufhörlich im freien Gegeneinander der Meinungen neue Zugänge zur eigenen Vergangenheit finden. Was z.B. früher – in Polen, der Ukraine oder der Sowjetunion – unter Strafe gestellt wurde – z.B. das Aussprechen der Wahrheit über die Massaker von Katyn, das Aussprechen der Wahrheit über die Lager in Kolyma oder Magadan – kann morgen schon erlaubt sein.

Ich meine: Die politische Macht, das Parlament, die Regierung dürfen und sollen nicht festlegen, was eine gesetzlich erlaubte oder eine gesetzlich verbotene Meinung über geschichtliche Ereignisse ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Nicht einmal das bewusste oder unbewusste Lügen über geschichtliche Wahrheiten als solches darf verboten werden.

Wir brauchen kein „Ministerium für Wahrheit“, wie das in George Orwells Roman „1984“ an die Wand gemalt wird.

Wohlgemerkt: Völkermorde, Shoaim, wie man auf Hebräisch sagt, auch der armenische Völkermord sollen durchaus einen Platz im Gedächtnis der Welt haben, wie dies Reinhard Veser heute ja sehr schön, sehr abgewogen auf S. 2 der FAZ formuliert. Der Toten soll gedacht werden, über Tote soll getrauert werden. Aber es kann in einer echten Demokratie nicht Aufgabe der Regierung oder des Parlamentes sein, der Bevölkerung oder gar einer anderen Regierung ein endgültiges Geschichtsbild vorzuschreiben.

Völkermord an Armeniern: Die Bundesregierung muss klare Worte sprechen – Politik – Tagesspiegel.

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Europäisches Gegenglück: der Geist, das Wort, die Schönheit und Wahrheit

 Einstein, Europäisches Lesebuch, Freiheit, Naturwissenschaften, Philosophie, Platon, Quantenmechanik  Kommentare deaktiviert für Europäisches Gegenglück: der Geist, das Wort, die Schönheit und Wahrheit
Feb. 252015
 

Wo alles sich durch Macht beweist
Und tauscht das Geld und tauscht die Ringe
Im Weingeruch, im Rausch der Dinge -:
Dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

Mon Dieu, c’est tellement beau! Kein anderes Buch hat mir in den letzten Wochen so viel Glück gegeben wie das Buch „Le principe“ von Jerôme Ferrari. Diese behutsame Annäherung, diese erfundene Zwiesprache eines offensichtlich gescheiterten, heute lebenden französischen Physikstudenten an den verstorbenen deutschen Physiker Werner Heisenberg ist der perfekte Gegenentwurf zu dem, was die verehrte Zentralmacht des Geldes nicht leistet, nicht leisten kann: das Verstehen-Wollen, das Anfragen, das An-die-Tür-Klopfen. Das Schreiben, das Hören, das Miteinander-Reden.

Was hat das mit Europa zu tun? Sehr viel! Denn Heisenberg versuchte nichts anderes, als was die Philosophen und Physiker Europas vor ihm seit Jahrtausenden, beginnend von den Zeiten eines Heraklit, Thales oder Platon wieder und wieder versucht hatten: ein einigendes Prinzip, eine leitende Idee, eine erklärende Formel all dessen zu finden, was sich in bunter Vielfalt darbietet.

Im philosophischen Bereich konkurrieren in Europa seit Jahrtausenden eher idealistische mit eher empiristischen Ansätzen.

„Das Wahre ist eins. Und das absolut Eine ist Geist. Die Materie ist für den Geist letztlich erkennbar. Der Geist kommt zu den Dingen selbst. Er trifft wahre Aussagen über Seiendes.“ So der Platon der Politeia, so der Hegel der Enzyklopädie.

„Nein! Das Wahre ist vieles. Und eine absolute Erkennntnis ohne Erkenntnis der mannigfaltigen Bedingtheiten des Erkennens ist unmöglich. Das Wahre ist eine Vielfalt von Einzelerkenntnissen. Das Ding an sich bleibt prinzipiell unerkennbar.“ Mindestens hierin kommen Aristoteles und Kant überein.

Heisenberg wiederum gelangte in Abhebung von Einsteins Relativitätstheorie zur Überzeugung, dass die Materie im subatomaren Bereich, also bei den sogenannten Quanten, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht mehr eindeutig, nicht mehr unabhängig vom Standpunkt des Messenden zu bestimmen seien. Im letzten, im kleinsten Bereich herrsche also ein „Unbestimmtheitsprinzip“, eine „Unschärferelation“, die nicht mehr hintergehbar seien. Das letzte gründende Prinzip der Physik wäre also nicht das Eine – sondern eine Relation zwischen dem Zweierlei aus Impuls und Masse, wobei weder Impuls noch Masse außerhalb dieser Relation existierten.

Etwas Übergreifendes, etwa Zusammenführendes vermochte Heisenberg noch im Erlebnis des Schönen, in der Musik etwa, im Erklingen etwa der Bachschen d-moll-Chaconne für Violine solo, im Anblick des Walchensees zu erkennen. Das Ding an sich, die unverhüllte Wahrheit bliebe unabschließbar, bliebe in der gegebenen langen oder kurzen Zeit unerfindlich.

Man könnte sagen: Lang oder kurz ist die Zeit, es ereignet sich allenfalls das Wahre.

Zu „erkennen“? Nein, das Letzte, den tiefsten Grund – so schildert es mehrfach Ferrari – den konnte er nicht mehr erkennen. Den kann er nur „heraushören“, oder „hineinhören“.

Ich höre jetzt den ungeduldigen Zwischenruf:
„Schluss damit! Einheit oder Vielfalt? Platon oder Aristoteles? Kant oder Hegel? Albert Einstein oder Werner Heisenberg? Wer hat denn nun letztlich recht? Es können doch nicht beide recht haben!“

Wenn man nur lange genug forsche, dann müsse doch auch einmal die wissenschaftliche Wahrheit ein für alle Mal hervortreten, sagt unser Gegenüber. So dachte auch ich als Kind, so denken heute noch viele. Und doch deutet bis heute nichts darauf hin. Im Gegenteil, alles deutet darauf hin, dass mit jeder neuen Erkenntnis die Unabschließbarkeit des Erkennens sich deutlicher offenbart.

Genau dieses Hin und Her zwischen Alternativen, diese unabgeschlossene Bewegtheit und Beweglichkeit ist es, die so etwas wie Freiheit eröffnet. Wenn es so ist, dass am Grund der Materie keine letzte Bestimmtheit herrscht, dann ist genau diese Unbestimmtheit auch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Freiheit gedacht werden kann.

Und der bewusste Träger dieser Freiheit ist – was? Oder wer? Die Antwort lautet: Im einen Fall ist es Werner Heisenberg, im anderen Fall ist es Jérôme Ferrari. Oder der Leser Heisenbergs, der Leser Ferraris.

Inbild und Inhaber dieser Freiheit kann sein oder ist überhaupt und jederzeit, so er dies will – der Mensch: das Du, das Ich, das Wir. Alle. Il maggior dono di Dio all’uomo è la libertà.

Ich erlebte das öffentliche Gespräch über Ferraris „Principe“, zu dem die Französische Botschaft in Berlin eingeladen hatte, als rundweg gelungenes europäisches Miteinander über Sprachengrenzen hinweg, als Gegenglück, als lustvolles Eintauchen in den Kern des europäischen Freiheitsdenkens.

Und die Reaktion darauf waren – Tränen. Was ist ist inopportun oder schlimm an solchen Tränen?

Der Dichter sagte doch: Lasst mich weinen. Das ist keine Schande. Weinende Männer sind gut.

Zitat:
Jérôme Ferrari, Le principe. Roman. Actes Sud, Paris, mars 2015, hier bsd. S. 75 sowie S. 3 (handschriftliche Widmung des Autors)

 Posted by at 18:07
Jan. 272015
 

Ein heute vor allem in Deutschland komplett vergeßner morgenländischer Dichter deutscher Sprache – sein Name sei hier unerwähnt – schenkte uns beim Auspacken von Umzugs-Bücherkisten folgende Botschaft:

Laßt mich weinen! umschränkt von Nacht,
In unendlicher Wüste,
Kameele ruhn, die Treiber desgleichen,
Rechnend still wacht der Armenier ;
Ich aber neben ihm berechne die Meilen,
Die mich von Suleika trennen, wiederhole
Die wegverlängernden ärgerlichen Krümmungen.

Lasst mich weinen! das ist keine Schande.
Weinende Männer sind gut.
Weinte doch Achill um seine Briseis;
Xerxes beweinte das unerschlagene Heer,
Über den selbstgemordeten Liebling
Alexander weinte.

Lasst mich weinen !  Tränen beleben den Staub.
Schon grunelts.

Quelle:
Lyrik des Abendlands. Gemeinsam mit Hans Hennecke, Curt Hohoff und Karl Vossler ausgewählt von Georg Britting. Carl Hanser Verlag, München 1963, S. 356

 Posted by at 14:59

Turgenjews Liebe zur Wahrheit, zur Freiheit, zum Guten

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Aug. 242014
 

Turgenjew 2014-08-10 09.08.38

Die Literatur ist kein Echo, sie spricht auf ihre Art über das Leben und das Lebensdrama. Turgenjew hat vielfach die Liebe der russischen Menschen zur Wahrheit, zur Freiheit und zum Guten beschrieben.“ So schrieb der Chemiker, Rotarmist, Journalist, Frontkämpfer, Kommunist Wassili Grossman, 1905 in Berditschew in der Ukraine geboren, im Jahr 1962 in seinem Brief an den Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow.

Grossman – seiner  Herkunft nach ein Russe, ein Jude, ein Ukrainer – war wie die allermeisten anderen Ukrainer, die allermeisten anderen Juden, die allermeisten anderen Russen vom tiefen Glauben an die Wahrheit, die Freiheit, an das Gute beseelt. In den Schrecken der Geschichte des 20. Jahrhunderts versuchte er, Fingerzeige eines Gottes zu erkunden, an den er keineswegs mehr glaubte. Er sprach deshalb lieber als von dem nichtexistenten Gott des Judentums von „Schicksal“, und „Leben und Schicksal“ ist denn auch der Titel seines großen, riesenhaften Romans, in dem er den deutsch-sowjetischen Krieg einfing. Der Roman wurde 1961 beschlagnahmt, 1962 versuchte der Autor vergeblich, für das beschlagnahmte Manuskript ein gutes Wort bei Chruschtschow einzulegen. 1964 starb Grossman, 1980 konnte das Buch erstmals auf Russisch in der Schweiz erscheinen.

Es ist ein Epos, das Zeugnis von der tiefen Liebe Grossmans zur Wahrheit, der Liebe zur Freiheit des Wortes, der Liebe zum Menschen ablegt. Es sind jene Vorzüge, die Grossman auch an Iwan Turgenjew rühmte.

Gerade in schwierigen Zeiten wie den unsrigen kann uns die Rückbesinnung auf die überragenden Leuchttürme der russischen, ukrainischen und jüdischen Geisteswelt ein Anlass sein, um Atem zu schöpfen und uns zeiten- und völkerüberspannende Werte ins Gedächtnis zu rufen.

Quelle:

Wassili Grossman: Leben und Schicksal. Roman. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfman, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke. Mit je einem Nachwort versehen von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch. List Taschenbuch, Berlin 2008, hier bsd. das Zitat aus dem Brief an N. Chruschtschow, siehe S. 1056

Bild:

Das Haus, in dem Iwan Turgenjew Kindheit und Jugend verbrachte, gelegen in der Ostoschenka-Straße 37, Moskau. Aufnahme des hier schreibenden Kreuzberger Bloggers vom 10.08.2014

 Posted by at 22:37

Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen

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Aug. 182014
 

2014-08-10 23.22.44

 

 

 

 

 

 

 

 

Vielfache Hinführung zu den Herrlichkeiten der deutschen Kultur, zur Schönheit der deutschen Sprache verdanke ich der russischen, aus Moskau stammenden Altistin Irina Potapenko, die mittlerweile hier bei uns in Berlin-Kreuzberg lebt, singt und schafft. Ob nun die Einsamkeits-Gedichte Eichendorffs, die Mondscheinbilder Caspar David Friedrichs, die „Erbarme-dich“-Arie Johann Sebastian Bachs, all das, was bei uns smarten, smartphonegetriebenen Deutschen in Vergessenheit geraten ist, bringt sie mir immer wieder überzeugt und überzeugend zu Gehör und zu Gesicht. Freuen wir uns darüber.

„Sonne der Schlummerlosen“, das Lied von Hugo Wolf auf ein Gedicht von dem Briten Lord Byron, ist einer dieser Schätze der deutschen Kultur, zu denen mir Irina Potapenko durch ihren Gesang vor einigen Jahren den Zugang eröffnete. Es fiel uns wieder ein, als wir uns vor wenigen Tagen mehrere Nächte lang mit einem Teleskop auf den Weg in die russische Feldeinsamkeit, die russische Welteinsamkeit machten, um die Schönheit des Mondes zu bewundern, der am sternklaren Himmel seine Vollmondphase durchmaß.  Er war ja in jenen Nächten wenig mehr als 360.000 km entfernt, nach astronomischen Maßstäben also nur einen Katzensprung. Schönheit des Vollmondes bewundern? Ja, Schönheit, und zugleich schrundige, fast hässlich zu nennende Kahlheit trat in der 90-fachen Vergrößerung unseres guten französischen Teleskops hervor. Etwas jäh Zerrissenes, Angefressenes, Erbarmungswürdiges schien mir von dem bleichen Gesellen, dem Mond auszugehen. Wir sahen deutlich die schnurgeraden, wie mit dem Lineal geritzten Linien, die „Mondkanäle“, die Blasen, die aufgequollenen Krater, die jahrmillionenlang von Kometen und Asteroiden zerpflügten Felder.

Am dritten Tag, als der Mond schon deutlich im Abnehmen begriffen war, trat an der im spiegelverkehrten Sichtfeld des Teleskops linken, real also der rechten Seite des Mondes eine unglaublich schroffe Eindellung, etwas Eingefressenes hervor, ein riesiger, sicherlich mehr als 30 km runder Krater, wodurch der Mond tatsächlich wie ein angebissener Apfel aussah, vergleichbar dem Logo des US-amerikanischen Smartphone-Herstellers Apple.

Mich durchfuhr der Gedanke: „Aber … das ist ja alles unglaublich schön, schrecklich, mitleiderregend, ehrfurchteinflößend!“

Und doch – es war nur der Mond. Ein einsamer Gesteinsbrocken, ein Geröllklumpen, mitleidlos gekettet seit wohl 4,5 Milliarden Jahren an unsere Erde, der er nicht entkommen kann, und dem wir nicht entkommen können und nicht entkommen wollen.

Ich setze hier eines der Fotos hinein, die ich zusammen mit Ivan, einem meiner Söhne, am Ufer des Moskau-Flusses aufnahm, entstanden am 10. August 2014 um 23:22:44 Uhr.

Hört das Lied hier:

Hugo Wolf – „Sonne der Schlummerlosen“ Byron – Fischer-Dieskau, Moore – YouTube.

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Der befremdliche Eichendorff in der Fremde

 Eichendorff, Europäisches Lesebuch, Hass und Hetze, Russisches, Sezession, Singen, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Der befremdliche Eichendorff in der Fremde
Aug. 072014
 


 

„Von wem stammt der Text zu dem Lied von Felix Mendelssohn Bartholdy, das Du am Sonntag vormittag zur Klavierbegleitung sangst? In diesen Worten steckt so viel Verqueres, Befremdliches, Schweres und wunderbares Erleichterndes!“

Antwort, o Schwester: Das Gedicht von Eichendorff hat mich ebenfalls befremdet und rührt mich weiterhin befremdlich an. Besonders stark befremdend fiel es mich an, als ich kürzlich, mitten in den hundertjährigen Kiefernwäldern von Nikolina Gora, mit lauter Russen und Ukrainern Fußball spielte. Die russisch-ukrainisch-deutsch-europäischen Amateur-Fußballmanschaften spielten achtsam, fair, ohne den verbissenen Ernst der Politiker auf dem kleinen Kunstrasenfeld. Wir verstanden uns prächtig – die Russen, die Ukrainer, der eine Holländer, der eine hier schreibende Deutsche.

Da draußen aber, stets betrogen, rauschte erbarmungslos die geschäftige Welt, Ost und West überziehen einander wieder einmal gegenseitig mit Sanktionen und mit dem Vorwurf der Lüge, man versucht den jeweils anderen in die Ecke des Foul-Spielers zu stellen. Und draußen rauschte unaufhörlich die Rubljowka. Die Stimme Eichendorffs verhallt ungehört.

Die Musik ist von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Das ist es, das Gedicht von Eichendorff, das ich in Nikolina Gora summte und sang:

Abschied.

O Thäler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt´ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäft´ge Welt,
Schlag‘ noch einmal die Bogen,
Um mich, du grünes Zelt!

Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Daß dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!

Da steht im Wald geschrieben,
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Thun und Lieben
Und was der Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward´s unaussprechlich klar.

Bald werd‘ ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn;
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernst’s Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.

Joseph von Eichendorff: Abschied. Zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Christian Rößner. S. Fischer Verlag, o.O. 2005, S. 224-225

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