Feb. 252013
 

Die Geschwindigkeit, mit der die politische Mitte sich tatsächlichen oder gefühlten Mehrheiten, die oft nur angezüchtete Bequemlichkeiten sind, anpasst, ist immer wieder herzerfrischend.  „Was darf’s denn jetzt wieder sein?“, lautet die Frage nach jeder Meinungsumfrage. Entscheidend ist meines Erachtens, dass die CDU derzeit den Bürgern und vor allem dem Hauptstrom der veröffentlichten Meinung immer mehr Zugeständnisse macht und oft nicht erkennbar ist, wofür sie steht.

Vor allem schreitet die Demontage des Gedankens der Familienverantwortung und die Unterhöhlung der Verantwortung des Einzelnen für andere und für sich selbst in atemberaubenden Tempo voran. In wahrlich nicht nebensächlichen Fragen wie den Anrechten der kleinen und allerkleinsten Kinder auf Leben und auf ihre beiden Eltern, Kritik an der routinemäßig vorgenommenen Abtreibung (etwa 100.000 pro Jahr in Deutschland), Kritik am vorherrschenden Materialismus, Kritik an der „Religion des Geldes“ (wie dies Väterchen Karl Marx nannte) hat die politische Mitte die Fahnen weitestgehend eingezogen. Hier sind es unter den Institutionen nur noch die Religionsgemeinschaften (Christen, Juden, Muslime), die nicht eingeknickt sind.

Allerdings sollte man, wenn man die Mann-Mann-Ehe und die Frau-Frau-Ehe de facto und steuerrechtlich der Mann-Frau-Ehe gleichstellt, dann schon richtig Nägel mit Köpfen machen! Man sollte dann fragen, ob man auch die nach dem Recht der Scharia geschlossene Ehe eines Mannes mit bis zu vier Frauen gleichzeitig (ein häufiger Fall, der im deutschen Sozialrecht routinemäßig anerkannt wird) ebenso zulassen und steuerlich fördern muss wie die Ehe einer Frau mit bis zu vier Männern gleichzeitig (die freilich nach islamischem Recht nicht zulässig ist, aber nach dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes selbstverständlich ebenfalls anerkannt werden muss). Die Diskussion muss geführt werden. Ich bitte darum.

Weitere Beispiele: Die Energiewende ist in der jetzigen Form ein Stück staatsdirigistische Planwirtschaft und droht sogar die Idee der Marktwirtschaft zu beschädigen. – Die plötzliche Abschaffung der Wehrpflicht war unbedacht. – Das viermalige Umschwenken im Atomenergie-Kurs hat viele überfordert, die es zu verstehen suchten. – Die viele Millionen Familien prägende historische Erfahrung der Vertreibungen der Polen, Juden, Ungarn, Slowaken, Tscherkessen, Deutschen, Armenier, Ukrainer, Griechen, Türken usw. von 1917 bis 1949 wird nicht mehr angesprochen, stattdessen wird das nachgeplappert, was ein Meinungskartell über die alleinige Schuld Deutschlands an allem Bösen, das seit 28.06.1914 in Europa geschah, nahezu ausschließlich zu Lasten der Deutschen anschreibt bzw. voneinander abschreibt. Es fehlt demnach der CDU auf Bundesebene empfindlich an einer sinnvollen Geschichts-, Erinnerungs- und Sprachenpolitik. Das Thema „deutsche Nation“ oder „deutsche Sprache“ ist weitgehend unbearbeitet, so überlässt man es lieber fast ausschließlich den Rechtsextremen und einigen Grünen.

Es fehlt der Union an einer breiten inhaltlichen und personellen Aufstellung. Das individualethische Moment – „Es kommt mehr auf das richtige Handeln der Personen an, nicht auf die Verhältnisse“ – ist in der gesamten politischen Öffentlichkeit meines Erachtens nicht mehr so recht erkennbar. Es herrscht eine links-kollektivistische Ethik vor. Deren Credo lautet: „Der Staat, die Politik muss erst einmal die richtigen Rahmenbedingungen setzen, dann werden wir Bürger auch anfangen, uns richtig zu verhalten.“

Die CDU droht sich derzeit zu ihrem eigenen Schaden komplett in der linken Mitte einzunisten und einzuhausen: staatsdirigistisch lenkend, mehr auf die aktuellsten Meinungsumfragen und Massenmedien des Hauptstroms als auf die Bürger und das Volk hörend. Versprechend, lockend, schmeichelnd, verwöhnend! Letztes Beispiel: die Abschaffung der Studiengebühren in den letzten beiden verbleibenden Bundesländern, die sie noch erhoben. Erneut ein Einknicken vor der bequemen Standardformel, mit denen die Bürger von den Politikern eingelullt werden: „Oh Staat, wenn du etwas von willst, musst du uns mehr für das Dasein und das Leisten zahlen! Liebe Politik, Du musst uns das Leben schöner, einfacher, reicher machen!“

Was mir persönlich große Sorgen bereitet, ist genau dieser Populismus der Mitte.

 Posted by at 13:43
Juli 252011
 

In einer schwierigen Lage sind weltweit alle jene muslimischen Menschen, die sich offen vom islamischen Glauben lossagen. In den arabischen Ländern ist dies ohnehin nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zulässig. Du kannst nicht aus dem Islam austreten wie aus einer christlichen Kirche! In Deutschland wird der guten staatlichen Ordnung halber stillschweigend (jedoch zu Unrecht) angenommen, alle Menschen, die aus „islamischen Ländern“ zu uns kämen, seien Muslime. Kein türkisch- oder arabischstämmiger deutscher Politiker hat es etwa meines Wissens bisher gewagt, sich in Deutschland öffentlich vom Islam loszusagen. Er würde sich unabsehbare Schwierigkeiten einhandeln, gegen die die Pfiffe gegen den deutschen Nationalspieler Mesut Özil nur ein Kinderspiel darstellten.

Über den aus Marokko stammenden, jetzt Schweizer Islamkritiker Kacem El Ghazzali berichtet heute Rainer Wandler auf S. 18 der taz:

Bloggender Religionskritiker: Einmal Muslim, immer Muslim – taz.de
Als er zu schreiben begann, war er „eher Agnostiker als Atheist“. Er stellte philosophische Überlegungen an. Kritisierte Auswüchse der Scharia im Iran und anderen Ländern. Das reichte schon. Nach nur einem Jahr bedrohte ihn jemand auf seiner eigenen Facebookseite. „Ich weiß bis heute nicht, wie sie auf meine wahre Identität gekommen sind“, sagt er. Er trat die Flucht nach vorn an und bekannte sich mit vollem Namen zum Blog.

„Nach kurzer Zeit wusste alle über mich Bescheid. Die Lehrer auf dem Gymnasium begannen gegen mich zu hetzen.“ Sie brachten ihn mit den Mohammed-Karikaturen in Zusammenhang, nannten ihn wahlweise „Ungläubiger“, „Jude“, „Feind des Islams und von König Mohamed VI.“, der per Verfassung „Führer aller Gläubigen“ ist.

Eines Tages eskalierte die Situation. Der Direktor schlug ihn. Mitschüler bewarfen ihn mit Steinen.

Ist die taz islamfeindlich, wenn sie solche Meldungen bringt? Denn hier erscheint der arabisch geprägte Islam genau so, wie ihn die europäischen Rechtspopulisten immer wieder darstellen: als intelorant, diktatorisch, auf Unterwerfung der Einzelmenschen bedacht.

Ich glaube, der Vorwurf der Islamophobie gegen die taz wäre verfehlt. Nicht jede Befassung mit der Praxis der innigen Verquickung von Religion und politischer Macht in islamischen Ländern ist verwerflich! Und vergessen wir nicht: Im europäischen Mittelalter war es auch nur schwer möglich, den christlichen Glauben abzulegen. Also: Bei uns war es vor 600 Jahren auch nicht besser.

Das europäische Mittelalter entrichtete gewissermaßen den „Preis des Monotheismus“ für diesen Absolutheitsanspruch, mit dem die großen monotheistischen Religionen häufig aufgetreten sind. So nannte dies Jan Assmann.

Denselben Preis entrichten bis zum heutigen Tag die arabischen Länder. Und sie verknüpfen den Absolutheitsanspruch der Religion mit dem Anspruch der muslimischen Herrscher auf politische Unterwerfung der Untertanen bzw. der Bürgerinnen.

Hoffen wir, dass die arabischen Länder allmählich – in weniger als 600 Jahren – den mühseligen, schmerzhaften Weg zur Religionsfreiheit finden!

 Posted by at 19:10
Feb. 162010
 

Sozialismus oder spätrömische Dekadenz? Der Vergleich unserer Sozialstaatsdebatte mit dem marxistischen Sozialismus, mit seiner unerbittlichen sozialistischen Arbeitspflicht, seinen riesigen Lagern, dem GULAG, der oft tödlichen Zwangsarbeit in gewaltigen Infrastrukturprojekten, dieser Vergleich hinkt meines Erachtens gewaltig. Niemand schickt bei uns die Bürger zu Tausenden und Abertausenden zwangsweise auf die Lager-, Kraftwerks- und Kanal-Baustellen, wie dies Lenin, Stalin, Che Guevara, Castro und viele andere sozialistische Führer taten.

Aber der Vergleich mit dem spätrömischen Kaiserreich ist durchaus aufschlussreich! Im spätrömischen Kaiserreich bedienten sich die Macht-Eliten hemmungslos. Sie wirtschafteten in die eigene Tasche. Der Sinn für virtus romana, für die res publica, für die salus publica ging verloren. Selbstbereicherung herrschte. Auch im spätrömischen Kaiserreich wurden weite Teile der Bevölkerung wie heute durch staatliche Wohltaten alimentiert, durch üppige Spiele und Zerstreuung gefügig gehalten. Begüterte Oberschicht und minderbemittelte Unterschicht nahmen den Staat aus wie die sprichwörtliche  Weihnachtsgans (eine Redewendung, die allerdings erst später mit dem Christentum aufkam). Verantwortlich für das Ganze fühlten sich zwar einige der Kaiser, wie etwa Diokletian oder Konstantin, aber die Mehrzahl der Kaiser hatte alle Hände voll zu tun, den eigenen Machterhalt zu sichern, indem sie der einen oder der anderen Klasse oder Teilkategorie einen möglichst großen Anteil am öffentlichen Reichtum zuschanzten. Das Militär wurde zur wichtigsten Stütze der kaiserlichen Macht.

Richtig arbeiten, sparsam wirtschaften, ackern, säen, ernten – das wollten die verwöhnten Römer nicht mehr. Otium cum dignitate, das war das Ideal. Ich übersetze ins Deutsche: Abhängen in lässiger Coolness, Chillen in Tavernen und Bars, nur nicht die Hände schmutzig machen. Dann kamen die Eroberungsvölker aus dem Osten. Reiterstämme, Steppenvölker, Krieger. Und sie nahmen sich ebenfalls, was sie kriegen konnten. Letztlich krachte die Konstruktion zusammen. Die einigende Klammer war verlorengegangen.

Gespannt bin ich darauf, was die Althistoriker und die Volkswirtschaftler zu Westerwelles vermeintlichem „Amoklauf“ sagen werden!  Alle Meinungsforscher, alle Kommunikationsexperten, fast alle Politiker, die meinungsbildenden Zeitungen wenden sich von Westerwelle ab seit seiner leidenschaftlichen, ihm selbst schadenden Tirade, bei der ich mich allerdings als sein skeptischer Zuhörer, ja Unterstützer zu erkennen gab, der Westerwelles Argumentation nachzuvollziehen versuchte. „O wie unfein, Herr Westerwelle! So etwas tut man nicht als seriöser Politiker!“

Sein Fehler war vielleicht: Er griff nicht gleichzeitig mit der alimentierten Schicht auch die begüterte Oberschicht an, die Besserverdiener. Wenn er dies gemacht hätte, und dafür gibt es Gründe, wenn er die reichen Steuerhinterzieher, die überforderten Manager und die Aufsichtsräte angegriffen hätte, dann hätte man ihm kaum an den Karren fahren können.

Ich meine, man sollte Westerwelle nicht einfach so niederbügeln, wie man dies früher mit Sarrazin, mit Buschkowsky, mit Havemann, Djilas, Havel, Trotzkij und wie sie alle heißen, machte. Alle diese absoluten Minderheiten-Meinungsrebellen hatten etwas für sich. Sie legten den Finger in die Wunde. Sonst hätten sich die Mehrheiten ja auch nicht so über sie aufgeregt.

Mit Arnulf Baring bringt der Tagesspiegel heute ein Interview.

„Umverteilung können wir uns nicht leisten“
Brauchen wir denn, wie Westerwelle sagt, eine Neudefinition des Sozialstaats?

Unbedingt. Niemand kann permanent mehr ausgeben, als er einnimmt. Wir müssen unbefangen über unsere Prioritäten nachdenken. Wenn man der FDP jetzt vorwirft, sie sei konservativ oder populistisch, dann ist das Unsinn. Nicht die FDP, sondern zahlreiche Deutsche sind stockkonservativ in dem Sinne, dass sie unbedingt den bestehenden, unmäßigen Sozialstaat verteidigen wollen. Alle Sozialpolitiker machen sich immer nur Gedanken über zunehmende Umverteilungen. Wenn man sie fragt, woher das Geld dafür kommen soll, halten sie sich nicht für zuständig.

Baring übertreibt und verschweigt. Bedenkenswert ist aber zweifellos Barings Befund, dass die anderen vier Parteien in wesentlichen Teilen mit der Umverteilung öffentlicher Gelder beschäftigt seien oder gewesen seien (mal abgesehen von der SPD-geführten Schröder-Bundesregierung mit ihrer heftig angegriffenen Hartz-IV-Reform, von heftig befehdeten Einzelkämpfern wie dem damaligen Finanzsenator Sarrazin, den aber Berlin nicht mehr haben wollte).

Sicher: Wir Berliner können nicht klagen. Ach, Berliner! Ihr habt doch immer noch beheiztes Wasser in den Freibädern. Uns geht es doch sehr gut! Wir in Berlin haben einen Haushalt von jährlich 19 Milliarden Euro, den uns die anderen Bundesländer etwa zur Hälfte schenken! Niemand braucht selber Eis zu hacken, dafür haben wir ja den STAAT.

Also: Berlin ist REICH. UND SEXY!

Wo bleibt die CDU in diesem Circus Politicus Maximus? Die CDU hätte in ihrem programmatischen Grundbestand eigentlich das Zeug dazu, das vorherrschende Selbstbereicherungs- und Umverteilungsparadigma zu durchbrechen. Sie sollte die zaghaften Ansätze dazu, die in der SPD und der FDP zu besichtigen sind, entschlossen aufgreifen und mit ihrer Subsidiaritätslehre zu vereinen suchen, die aus der katholischen Soziallehre stammt. Eherne Voraussetzung dafür wäre, dass endlich einmal eine Partei den Mut aufbrächte zu sagen: Wenn ihr uns wählt, werdet ihr weniger Geld vom Staat bekommen. Der Staat wird euch weniger schenken. Diese Botschaft müsste man den Bankern, den Aufsichtsräten  und Finanzhaien ebenso zurufen wie der wachsenden Schicht derer, die sich vollständig auf staatliche Alimentierung verlassen.

Der Staat müsste also wie ein guter Vater zu seinen volljährig werdenden Kindern sagen: „Ich schenke dir weniger Taschengeld. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen!“

Subsidiarität, das bedeutet: Zunächst einmal ist die untere Ebene verantwortlich: Der einzelne ist verantwortlich, dass er bei Glätte nicht ausrutscht. Nicht der Staat. Wenn es dem einzelnen nicht zuzumuten ist – dann muss die nächsthöhere Ebene einspringen. So ergibt sich die winterliche Räumpflicht der Hauseigentümer für die Gehwege. Da es den Hauseigentümern nicht zuzumuten ist, auch noch die Straßen vor dem Grundstück freizuhalten, muss der Staat einspringen. So ergibt sich die Räumpflicht der öffentlichen Hand für die Straßen. Alle diese Pflichten hat der demokratische Gesetzgeber nach reiflicher Überlegung eingeführt.

Aber nirgendwo hat der demokratische Staat die völlige Fürsorge für Wohl und Wehe der einzelnen Bürger übernommen. Das Wohlergehen, der Wohlstand der einzelnen Bürger ist im Wesentlichen Sache der Bürger selbst. Der demokratische Staat wächst im Gegensatz zum Fürstenstaat von unten auf. Er stützt sich auf den Fleiß der Menschen, auf Gemeinsinn, Redlichkeit, Gerechtigkeit, auf Fürsorge der Menschen füreinander. Auf die Verantwortung aller für das Ganze. Diese Tugenden gilt es wiedezubeleben.

Ich vermute – genau dies wollte Westerwelle sagen. Und genau darin gebe ich ihm recht.

 Posted by at 17:02
Juli 232009
 

Viel zu wenig beleuchtet im Tagesgespräch wurde leider eine große, vielsagende Studie über: Die Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit der Bundesrepublik. Also – eine Unzufriedenheitsstudie! Na, das soll uns Deutschen erst einmal einer nachmachen! Auftraggeber: die Volkssolidarität, der führende Wohlfahrtsverband in den östlichen Bundesländern, der seit 60 Jahren dort besteht. Was soll die wichtigste Aufgabe des Staates sein? Darauf antworten die meisten unter allen Befragten, nämlich 47%: Die soziale Sicherheit ist der wichtigste Wert staatlichen Handelns!

Nicht Freiheit, nicht Gerechtigkeit, nicht Wohlstand, nicht “soziokulturelle Teilhabe”, sondern schlicht dies: soziale Sicherheit. Ach Vera, ach Halina, hättet ihr euch das gedacht bei eurer denkwürdigen Diskussion im Café Sybille im Februar 2009, an die ich noch gerne zurückdenke? Continue reading »

 Posted by at 23:36

Berlins CDU sieht sich teils als Volkspartei, teils als Milieupartei

 Bergmannstraße, Bundestagswahlen, Die Linke, Friedrichshain-Kreuzberg, Merkel, Parteienwandel, Populismus, Volk  Kommentare deaktiviert für Berlins CDU sieht sich teils als Volkspartei, teils als Milieupartei
Aug. 312008
 

28062008001.jpg Ein klares Bekenntnis zum Parteientyp „Volkspartei“ liefert Generalsekretär Frank Henkel in der heutigen Morgenpost in einem längeren, höchst lesenswerten Interview.

Interview mit Frank Henkel – Berliner CDU streitet über Jamaika-Kurs – Berlin – Berliner Morgenpost
Morgenpost Online: Gehen wir noch einmal auf den Ostteil der Stadt ein, wo die CDU besonders schwach ist. Kurth befürwortet wegen der wenigen Mitglieder einen Rückzug aus der Fläche und eine Konzentration auf einige Themen und wenige Wahlkreise. Ist das der richtige Ansatz?
Henkel: Es ist eine wahlkämpferische Binsenweisheit, dass man sich auf Potenzialgebiete konzentriert. Aber dabei geht es um konkreten Wahlkampf. Mein Ansatz ist klar, dass wir Politik für die gesamte Stadt machen. Wir sind Volkspartei. Deshalb wäre es töricht, einzelne Gebiete in der Stadt völlig aufzugeben. Es ist unsere Aufgabe, um jede Stimme zu kämpfen. Da ist es egal, ob im Norden, Süden, Osten oder Westen der Stadt.

Was heißt das: „Wir sind Volkspartei“?

Wir hatten auf den Spuren Ciceros in verschiedenen früheren Beiträgen den Typ „Volkspartei“  vom Typ „Elitepartei“ und „Milieupartei“ abzuheben versucht.

Milieuparteien richten sich vorrangig an bestimmte Wählergruppen, etwa die Arbeiter, die Eigenheimbesitzer, die Gewerbetreibenden, die Mieter, die Senioren, die Umweltbewegten usw.

Eine typische Aussage für eine Milieupartei reinsten Wassers ist die folgende: „Wir sind die bürgerliche Partei aus dem Westen. Wir dürfen dem linken Block nicht die Vorherrschaft überlassen!“ Kennzeichnend für Milieuparteien ist es, dass sie bei bestimmten Wählergruppen stark sind, während sie in anderen Wählerguppen oder gar in ganzen Stadtteilen wenig Zuspruch finden. Typisch für Milieuparteien ist ferner, dass Wähler und Gewählte einem einheitlichen Sozialtyp angehören. Die Wähler und die Abgeordneten einer solchen Partei ähneln einander. Man kann schon weitem erkennen: So sieht ein typischer Wähler der Partei X aus! Und genau so sieht ein typischer Abgeordneter der Partei X aus! Man wählt an der Wahlurne offenbar nach Haartracht, Kleidung, Sprache, nach einem bestimmten Tonfall in der Sprache, nach bestimmten leicht erkennbaren „Wahlsprüchen“. „Hie Welf! hie Weibling!“ – so erscholl es im Mittelalter im Ringen zwischern Welfen und Gibellinen. Heute erschallt der Ruf: „Hie links!“ „Hie bürgerlich!“

Stark auseinanderklaffende Wahlergebnisse bei verschiedenen Wählergruppen, in verschiedenen Bezirken für ein und dieselbe Partei sind Beleg dafür, dass die entsprechende Partei eine Milieupartei ist. Sie hat es nicht verstanden, sich als Volkspartei darzustellen, und folglich ist sie auch keine. So eine Milieupartei kann Volkspartei werden, wenn sie beständig und methodisch zielgerichtet lernt. Sie muss sich – wenn sie dies will – zu einer lernenden Partei wandeln. Sie kann es werden, wenn sie inhaltlich arbeitet und nicht Personalien ständig nach außen trägt. Sie kann Volkspartei werden, wenn sie klar und vernehmlich spricht. Und wenn sie ins Volk hineinhört und Anregungen aus verschiedenen Wählerschichten aufnimmt und produktiv in ein gemeinsames, nach vorne gerichtetes Leitbild einfließen lässt.

Je stärker hingegen eine solche Partei ihren Charakter als Milieupartei herausstreicht, desto weniger wird sie für andere Wählerschichten wählbar. Die Wahlergebnisse verharren mit geringen Ausschlägen auf einem Sockelniveau. Es ist schwer, vielleicht unmöglich, sich gleichzeitig als echte Milieupartei und als echte Volkspartei darzustellen. Eine solche Partei spräche beständig mit gespaltener Zunge. Die Wähler wüssten nicht, wofür sie eigentlich steht.

Eliteparteien hingegen richten sich an besser ausgebildete, wirtschaftlich besser abgesicherte Wähler. Bundesweit entspricht die FDP am ehesten diesem Typ, in Berlin sind es die Grünen und auch die FDP. Die Wählerschaft der Grünen in Berlin ist überdurchschnittlich gebildet, wirtschaftlich stärker als der Durchschnitt. Wir sprechen hier in Friedrichshain-Kreuzberg, im Bundestagswahlkreis 084,  von der „neuen bürgerlichen Mitte“, die ihren gemäßen Ausdruck in der Partei Die Grünen gefunden hat. Nicht zufällig konnten die Grünen hier auch ihr einziges Bundestags-Direktmandat erringen.

Echte Volksparteien können behaupten, für alle sozialen Schichten zu sprechen. Sie vertreten ein umfassendes Leitbild, dem im Grunde alle Bürger zustimmen könnten, wenn es denn gelänge, sie zu überzeugen. So hat sich die SPD etwa ab dem Godesberger Programm von 1959 von einer Milieupartei zu einer Volkspartei gewandelt. Um Volkspartei zu sein, sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit unerlässlich. Glaubwürdigkeit entsteht, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einprägsame, in sich stimmige Botschaften von klar erkennbaren Persönlichkeiten verkörpert werden und wenn die gesamte Partei mit denselben Botschaften an die Bevölkerung herantritt.

Ein solches Modell „Volkspartei“ vertritt in der Bundesrepublik beispielsweise die CDU auf Bundesebene mit dem Führungsduo Merkel/Pofalla. Man kann dies sehr klar auf den ersten Seiten des 2007 verabschiedeten neuen CDU-Grundsatzprogramms nachlesen. Bundeskanzlerin Merkel selbst verkörpert mit großem Geschick und mit größtem Erfolg den Politikertyp „Im Grunde wählbar für alle“. Ihre traumhaften Zustimmungswerte – sogar in anderen europäischen Ländern – bestätigen dies wieder und wieder. „Ich hab mein Leben lang SPD gewählt, aber das nächste Mal wähl ich Merkel.“ Solche typischen Aussagen kann man auf der Straße immer wieder hören. Merkel braucht freilich, um erfolgreich zu bleiben, eine Partei, die ebenfalls diesem Typ „im Grunde wählbar für alle“ entspricht. Sie bräuchte für sichere Mehrheiten im Bund eine starke Volkspartei in den Bundesländern als Widerpart und Unterstützerbasis. Denn direkt wählen kann man die Bundeskanzlerin nicht. Die Zusammensetzung des Bundestages wird schließlich über die Listen, die Parteien entschieden, nicht über einzelne Persönlichkeiten.

Die Partei Die Linke vertritt das Modell Volkspartei sehr erfolgreich in den östlichen Bundesländern und in der östlichen Hälfte Berlins.

Wie geht es weiter? Es bleibt spannend. Die Parteien wandeln sich. Es kommt darauf an, den Wandel aktiv voranzutreiben. Wer Wandel bewusst für sich gestaltet, statt ihn nur ohnmächtig zu erleiden, wird Vorteile herausarbeiten. Das gilt für den Arbeitsmarkt, es gilt aber auch für die Parteien.

Mach den Test! Geh durch eine Berliner Straße und entscheide: Welche Partei wählt wohl dieser oder jener Passant? Welche Partei würde sie oder er niemals wählen? Mach diese Übung ein paar Mal, und du weißt, welches Bild du von den Berliner Parteien hast. Vergleich dein Bild von den Parteien mit der Realität, indem du die Abgeordneten oder Mandatsträger der Parteien mit deinem Bild vergleichst. Über das Internet ist dies heute sehr leicht möglich. Stellst du Unterschiede fest? Welche? Bitte berichte uns von deinen Beobachtungen in diesem Blog! Wir wollen von dir lernen!

Unser heutiges Bild zeigt das Kreuzberger Volk in all seiner Buntheit. Aufgenommen am 28. Juni 2008 auf dem Bergmannstraßenfest. Dieses Volk will selbstverständlich von den Volksparteien umworben werden. Wie, mit welchen Mitteln? Was erkennst du auf dem Bild?

 Posted by at 11:56
Mai 192008
 

Junge Banker schütten Champagner über ihren Köpfen aus, um ihre Boni zu feiern. Etwa 190 Parlamentarier der C-Parteien verlangen unter dem Motto „Mehr Netto vom Brutto“ rasche Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen von der Bundesregierung. Die „kalte Progression“ zieht geringe Einkommensverbesserungen gleich wieder aus der Tasche. Diese und andere Phänomene greifen sowohl Bundespräsident Köhler wie auch die Partei DIE LINKE immer wieder auf. Sie legen den Finger auf offene Wunden. Salz in diese offenen Wunden streut auch der neue Armutsbericht der Bundesregierung, der am heutigen Tage herausgekommen ist.

Der stellvertretende Linksparteichef Klaus Ernst wertete den Armutsbericht als Dokument des Scheiterns der SPD. „In ihrer Regierungszeit hat sich die Zahl der Vermögensmillionäre verdoppelt und zugleich die Armut deutlich zugenommen“, sagte er laut Spiegel online von heute.

DIE LINKE greift mit großem Geschick Schwachstellen und Unzufriedenheiten aus der gegenwärtigen Lage auf. Aus welchen Parteien sie ursprünglich entstanden ist, diese Frage muss verblassen angesichts der Frage: Hat sie recht oder nicht recht mit ihrer Diagnose? Welche Vorschläge macht sie? Sind ihre Vorschläge brauchbar oder unbrauchbar, bezahlbar oder unbezahlbar?

Die beiden großen Parteien, SPD und Union, haben sich bisher fast überhaupt keiner sachlichen Argumente bedient, um sich mit der LINKEN auseinanderzusetzen. Ich höre statt sachlicher Argumente aus diesen Parteien nur ein diffuses Hintergrundrauschen, fast nur: „Billiger Populismus … unbezahlbar … eine Schande, dass die uns in Berlin mitregieren … die neue RAF … “ Dieses denkbar niedrigste Niveau der Auseinandersetzung hat den Erfolg der LINKEN noch verstärkt, denn die Bürger sind hellhörig geworden gegenüber Verteufelungsversuchen und „Rote-Socken-Kampagnen“ aller Art. Diese Manöver haben bisher ausnahmslos „nicht funktioniert“, wie Jörg Schönbohm der FAZ sagte. Eine der wenigen hellsichtigen Stimmen aus der Union stammt übrigens von Volker Kauder:

„Ohne Antworten auf die Fragen, die die Linke aufwirft, können wir uns nicht davonstehlen.“

Was können die verunsicherten Volksparteien SPD und CDU tun? Ich meine:

1) Verbale Abrüstung tut not. Die maßlose Verunglimpfung der LINKEN muss aufhören. Ein Dietmar Bartsch, ein Senator Harald Wolf und viele andere haben nun mal nichts mit dem Mauerbau und zurückliegendem DDR-Unrecht zu tun. Vieles vom heutigen Gezetere aus Unions- und SPD-Kreisen gemahnt an die maßlose linke Kritik an der CDU in den 50er und 60er Jahren, als in der Tat viele Nazi-Mitläufer und ehemalige NSDAP-Mitglieder Unterschlupf in den neu entstandenen Parteien fanden, darunter der berüchtigte Staatssekretär Globke.

2) Nachlesen, was die LINKE will. Fragt man diejenigen, die so heftig auf die LINKE einschlagen, was sie eigentlich gegen die LINKE haben, dann kommt meist keine genaue Antwort, außer undeutlichem Gebrummel, etwa: Das sind alles Stasi-Leute, die haben die Mauertoten auf dem Gewissen. Kaum jemand in den „Altparteien“ kennt die wesentlichen Forderungen der LINKEN, kaum jemand hat sich sachlich damit auseinandergesetzt.

3) Konsequent nach vorne schauen! Die meisten Argumente gegen die LINKEN speisen sich aus einer bestimmten Sicht auf die Vergangenheit. Aber: Das Hemd sitzt näher als der Rock, die Menschen im Lande wollen heute und morgen anständig leben, sie wollen nicht die Schlachten der Vergangenheit wieder und wieder kämpfen. Politik heißt: Gestaltung des Heute mit einem Blick auf tragfähige Zukunft. Es geht meist nicht um Gut und Böse, sondern um machbar/nicht machbar, bezahlbar/nicht bezahlbar. Die Menschen aus der DDR haben einfach keine Lust darauf, sich ihre „Biographie“ von selbsternannten Tugendwächtern aus Westdeutschland „würdigen zu lassen“. Sie werden ihr Kreuzchen bei den Parteien machen, von denen sie sich ernstgenommen und angenommen fühlen, bei jenen Parteien, die den richtigen Ton treffen, die die richtigen Fragen stellen.

4) Sachliche, auch harte Auseinandersetzungen führen, aber nicht ständig ad personam und ad historiam urteilen! Lasst die DDR doch mal DDR sein, Schnee von gestern! Materialien und die Homepage der Linken stehen im Netz. Man sollte sie zur Kenntnis nehmen.

5) Wo sie recht haben, haben die LINKEN recht. Es könnte doch sein, dass sie auch einmal den Nagel auf den Kopf treffen? So stellen sie besonders unbequeme Fragen zum Afghanistan-Krieg, auf die im Moment keine befriedigenden Antworten erfolgen. Man sollte nicht immer gleich alles in Bausch und Bogen verurteilen, was die LINKE sagt.

6) Auf die Bindekraft des parlamentarischen Systems vertrauen! Die Bundesrepublik hat erfolgreich die GRÜNEN in das System eingebaut, sie sind heute als wichtiger Teil des innerparlamentarischen Parteienspektrums nicht mehr wegzudenken. Das Gleiche wird auch mit den LINKEN geschehen und geschieht bereits jetzt.

7) Alternativen anbieten! Die Fragen, die die LINKE aufwirft, haben unleugbar ihre Berechtigung, die beiden anderen Volksparteien SPD und Union sollten in einen ständigen Wettbewerb um die besten Antworten mit dieser dritten Volkspartei treten.

Insgesamt meine ich: Man muss es der LINKEN nicht gar so einfach machen, wie es die älteren Parteien, insbesondere die Union, ihr derzeit machen. Respekt, Höflichkeit und Achtung ist angesagt, auch gegenüber den politischen Gegnern von der LINKEN. Wenn es daran fehlt, dann bestärkt man die Leute in ihrer Verdrossenheit gegenüber den „Altparteien“ noch zusätzlich, und man gräbt sich in den Trutzburgen seiner alten, löchrig gewordenen Weltanschauungspanzer ein.

Übrigens: Am Parteiensystem Italiens kann man wunderbar studieren, wie ganze Parteien sich selbst sehenden Auges umbringen – so gibt es die frühere Democrazia Cristiana (DC), die italienischen Christdemokraten nicht mehr. Sie haben sich aufgelöst. Nachdem die Mauer gefallen war, verloren sie die Peilung, gruben sich in ihren alten, sinnleer gewordenen Antikommunismus ein und wurden als Machterhaltungsapparate demaskiert – Selbstmord auf Raten! Profitiert haben originelle Neuschöpfungen, Anti-Parteien, die erfolgreich die Sympathisanten des früheren Faschismus, also die Neofaschisten vom MSI, mit dem Heer der Unzufriedenen und Verdrossenen verbanden. Man lese hierzu: Christian Jansen: Italien seit 1945, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007. Im Kapitel „Die herrschenden Parteien werden abgewählt“ heißt es auf S. 204:

Während des Jahres 1993 verschwanden die fünf Parteien, die die Erste Republik bestimmt hatten, von der politischen Bühne: die DC, die offiziell am 26. Juli 1993 aufgelöst wurde, zerfiel in verfeindete Kleinparteien (die linkskatholische PPI, die konservativen CDU und CCD), die sich seitdem mehrfach neu gespalten und zusammengeschlossen haben. Die schnelle Auflösung der erfolgreichsten und mächtigsten Partei des Westens zeigt, dass nicht gemeinsame Ziele, sondern anfangs gemeinsame Gegner, die politische Linke, und dann mehr und mehr allein die Verteilung von Macht und Pfründen die DC zusammengehalten hatte.

Leute, Freunde: Das Leben geht weiter, schaut nach vorne! La vita è bella.

 Posted by at 16:39