Jul 232009
 

Viel zu wenig beleuchtet im Tagesgespräch wurde leider eine große, vielsagende Studie über: Die Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit der Bundesrepublik. Also – eine Unzufriedenheitsstudie! Na, das soll uns Deutschen erst einmal einer nachmachen! Auftraggeber: die Volkssolidarität, der führende Wohlfahrtsverband in den östlichen Bundesländern, der seit 60 Jahren dort besteht. Was soll die wichtigste Aufgabe des Staates sein? Darauf antworten die meisten unter allen Befragten, nämlich 47%: Die soziale Sicherheit ist der wichtigste Wert staatlichen Handelns!

Nicht Freiheit, nicht Gerechtigkeit, nicht Wohlstand, nicht “soziokulturelle Teilhabe”, sondern schlicht dies: soziale Sicherheit. Ach Vera, ach Halina, hättet ihr euch das gedacht bei eurer denkwürdigen Diskussion im Café Sybille im Februar 2009, an die ich noch gerne zurückdenke? Aber lest selbst einen Bericht aus der Süddeutschen Zeitung:

“Eine große Rolle bei der Bewertung der Demokratie spielt offenbar die Frage, inwieweit die Bürger die soziale Sicherheit garantiert sehen, sie wurde von den Befragten als wichtigster Wert (47 Prozent) angegeben. Doch gerade bei sozialen Fragen zeigt sich eine große Unzufriedenheit in Ostdeutschland. So wurde vor allem bemängelt, dass man im Osten noch nicht die gleichen Lebensverhältnisse wie im Westen erreicht hat (77 Prozent).”

Zum Zweiten stören sich viele Ostdeutsche daran, dass ihre Lebensleistung in der DDR nicht anerkannt werde (54 Prozent), fast die Hälfte (49 Prozent) kritisiert, das frühere Leben in der DDR werde einseitig negativ dargestellt. Zum Dritten werden negative persönliche Erfahrungen vorgebracht, etwa geringe Mitspracherechte der Ostdeutschen.”

via sueddeutsche.de Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall Viele Ostdeutsche tief enttäuscht – Politik.

Erlaubt einen Kommentar: Dass vom Staat vor allem soziale Sicherheit erwartet wird, kann kaum überraschen. Das ist eine 140-jährige urdeutsche Tradition! Denn bereits Bismarck hatte mithilfe des von ihm bereits so benannten “Staatssozialismus” erfolgreich alles getan, um echte politische Teilhabe der breiten Schichten zu verhindern. Das kurze Zwischenspiel der Weimarer Republik brachte zwar erstmals in der deutschen  Geschichte echte demokratische Teilhabe, aber zugleich ein höheres Maß an sozialer Unsicherheit. Freiheit ist anstrengend! Diesem 14-jährigen Zwischenspiel der freiheitlichen Weimarer Demokratie wurde mit vereinten Kräften aller Systemgegner der Garaus gemacht. Was folgte, das wisst ihr besser als ich.

Die meisten Politiker der Bundesrepublik haben es bisher versäumt, klar zu sagen, dass der Staat nicht seine erste und vornehmste Aufgabe darin sehen kann, ein Höchstmaß an materieller Sicherheit zu gewähren. Der Staat, so meine ich, muss vor allem das Recht und die Freiheit schützen. Ich unterstütze Vera Lengsfeld aus genau diesem Grund, weil sie eine der ganz wenigen ist, die dies wieder und wieder herausgestellt haben. Freiheit und Recht sind wichtigere staatliche Güter als möglichst hohe, möglichst gleiche materielle und soziale Absicherung.

Zumal ja die sozialen Sicherungssysteme – und das wissen leider ebenfalls nur sehr wenige – keineswegs als originäre Pflichtaufgaben, als Bringschulden des Staates gesehen werden dürfen. Selbst Bismarck sah dies nicht so. Nein, unsere Sozialversicherung beruht auf dem Gedanken der gesetzlichen Solidargemeinschaft. Und da sind wir beim Gedanken der “Volkssolidarität”. Das heißt, die Gemeinschaft aller Sozialversicherten bringt im Umlageverfahren von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr genau jene Mittel auf, die den Bedürftigen (also den Alten, Kranken, den nicht Arbeitsfähigen) ein würdiges Dasein ermöglichen. Nicht der Staat leistet dies, sondern die Gemeinschaft aller Versicherten. Der Staat kann bei Bedarf etwas zuschießen – er tut dies ja auch seit Jahren. Er tat dies schon unter Bismarck. Aber es ist nicht seine Hauptaufgabe.

Wenn jetzt der Bundestag mit dem Rentenabsenkungsverbot mit eigenen staatlichen Mitteln, nämlich mit Steuermitteln, zu verhindern sucht, dass die “Volkssolidarität” in guten wie in schlechten Zeiten zusammensteht, unterläuft er wie schon viele Male zuvor den Grundgedanken der gesetzlichen Sozialversicherung. Er wird zum Versorgungsstaat. Dieser ist eine direkte Fortführung des Bismarckschen Obrigkeitsstaates und eine – wenn auch abgemilderte – Nachfolgevariante der Diktaturen. Damit sichert sich der Staat größere Macht, als ihm eigentlich zusteht. Das gleiche gilt für Wahlgeschenke wie etwa Abwrackprämien, Rettungspläne, Schutzschirme usw. usw. Die Liste ist endlos! Würden Sie denn jemanden kritisieren, der Ihnen 2500 Euro für ein neues tolles Auto schenkt? Hurra, wir werden beschenkt! Danke, lieber, lieber Papa Staat! Wir werden auch immer recht artig sein!

Die tiefe Enttäuschung der Ostdeutschen über die Demokratie rührt meiner Ansicht nach auch davon her, dass sie im Wahn belassen wurden, der Staat habe die Aufgabe, eine möglichst hohe, für alle möglichst gleiche  soziale Absicherung huldvoll zu gewähren. Das kann nicht die vorrangige Aufgabe eines freiheitlichen Staates sein! Ein grobes Missverständnis liegt hier vor, dem leider die meisten Politiker – erneut mit wenigen erfreulichen Ausnahmen wie Vera Lengsfeld – wieder und wieder Vorschub leisten. Die nächste Enttäuschung ist eigentlich schon vorprogrammiert.

Kaum jemand wagt es bisher, das grundgesetzliche Gebot der “Herstellung gleicher Lebensverhältnisse” offen in neuem Lichte zu sehen! Ich meine: Das Grundgesetz meinte nicht gleiche materielle Ausstattung, also dass etwa die BMW-Dichte in allen deutschen Städten gleich zu sein habe, sondern: gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiche Teilhabemöglichkeiten. Jeder soll gleiche Chancen haben, durch eigener Hände Arbeit einen BMW zu kaufen, wenn er dies will. Oder eine Stradivarius-Geige (was der unterfertigte Blogger als ein größeres Glück ansähe).

Nicht staatlich garantierten gleichen Lebensstandard meinte unsere Verfassung, wie es Minister Tiefensee sofort nach Vorlage der großen Unzufriedenheitsstudie verlauten ließ! Was für ein Irrtum, dies zu zu fordern!

Dennoch: Die Unzufriedenheitstudie sollte man lesen, ausgiebig diskutieren, hin und her wenden. Sie gibt viel Stoff zu Streit und zu neuen Erkenntnissen!

Frau Lengsfeld – bitte reden Sie Tacheles! Sobald Sie wieder im Bundestag sitzen. Wovon ich fest ausgehe!

 Posted by at 23:36

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