Düstere Meldung im Morgennebel. Gerade bei mir um die Ecke verlor gestern eine Fahrradfahrerin ihr Leben. Wie so oft bei anderen Unfällen, wurde auch hier die Radfahrerin durch einen rechtsabbiegenden LKW erfasst, während sie selbst rechts von ihm geradeaus weiterfahren wollte. Die Stelle fahre ich selbst sehr oft. Ein mulmiges Gefühl verstärkt sich. Wir sind gewarnt und traurig. Hier einige Fotos von dieser Stelle, aufgenommen heute, Ecke Kolonnenstraße/Hauptstraße.
Blüht, ihr Rosen rot und weiß!
Zwei Rosen fand ich heut am Straßenrand, die eine weiß, die andre rot. Achtlos weggeworfen, lagen sie neben dem ganzen Gemülle aus Böllermüll, Raketensprengköpfen, ausgebrannten Pappkartuschen. Kahle Stümpfe grinsten mich an, den Löchern ausgefallener Zähne ähnelten sie.
Wollt ihr mitkommen?, fragte ich die Rosen rot und weiß. Sie sprachen fein: Sollen wir zum Welken auf die Straße geworfen sein? Nein! Mensch, nimm uns mit!
Ich hob sie auf, trug sie nachhause, schnitt sie an und setzte sie in eine Vase. Damit ging ich auf den Balkon, und siehe: Da waren über Nacht zwei Margeriten frisch aufgeblüht. Die lachten mich an und riefen den Rosen zu: Willkommen bei uns, Schwestern!
Dies war heute mein kleines Neujahrswunder.
Die Rosen rot und weiß schenken länger Freude als die Böller laut und schwarz.
Die Margeriten blühen dann auf, wenn Du es nicht mehr erwartest.
Blühe, du neues Jahr, im Zeichen der Rosen rot und weiß. Lacht uns an, Margeriten, zeigt uns den Weg in ein frohes, zuversichtliches Jahr 2018!
Von Kant zum Kind. Ein Auflachen
Eine ungelöste Frage bleibt die Einhaltung der Verkehrsregeln durch Erwachsene bei der Begegnung mit den schwächsten Menschen, den Kindern. Wird es mir je gelingen, auch nur einen Erwachsenen zum Absteigen im Schulhof der Schöneberger Teltow-Grundschule zu bewegen? Wie, wenn ich die Erwachsenen auf Immanuel Kant verwiese, ihnen einschärfte, dass wir allezeit gemäß diesem wohl bedeutendsten Philosophen deutscher Sprache so handeln sollten, als könnte die Maxime unseres Handelns zugleich Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein? Wer kräht denn danach? Wer liest oder kennt heute unter den Deutschen noch Kant? Wer ließe sich durch allgemeine philosophische Überlegungen zu einer Verhaltensänderung bewegen?
Solches Sinnieren befällt mich unwillkürlich manches Mal, doch wische ich diese trüben Gedanken über den kulturell so dürftigen, so armseligen Zustand des deutschen Vaterlandes gern beiseite, wenn mir etwas Schönes begegnet.
So auch heute! Ich schob mein Fahrrad gedankenverloren über den Schulhof der Grundschule, da sprang mir ein Mädchen entgegen, das sich aus einer Gruppe von spielenden Kindern gelöst hatte!
Welche Botschaft brachte es mir? Es reichte mir lächelnd ein handgeschriebenes Zettelchen entgegen und lief sofort ängstlich weg. Was stand auf dem Zettelchen? „Danke fürs Absteigen!“ las ich. Ich las es und da lachte mir das Herz! O ihr Kinder, ihr bezwingt noch den melancholischsten Philosophen! Selbst ein Immanuel Kant hätte kurz von seinem kategorischen Imperativ oder seinen transzendentalen Bedingungen einer jeglichen Erkenntnis abgesehen, die irgend Anspruch auf den festen Gang einer Wissenschaft würde Anspruch erheben können. Er hätte sich rühren lassen.
So wie ihr mich angerührt habt. Ihr habt mein Herz erobert. Kant hin, Goethe her. Das ist Musik in meinem Herzen, wie sie ein J.S. Bach nicht schöner komponieren könnte.
Erzähl mir von dir im eigenen Namen!
Hanadi, Nirit, Essfandiar, Pegah, Sadaf, Banu, Christa, Laura, Jonni, Cem, Marthe, Alexander, Laila, Rose-Anne, Theokleia. Das sind die Namen von 15 Menschen, die vieles gemeinsam haben, vor allem aber eines teilen: Ihre Lebensgeschichte führte sie oder zumindest ihre Eltern aus anderen Ländern nach Berlin, wo sie derzeit wohnen und sich wohl fühlen. Sie bringen den Schatz ihrer Herkünfte mit, leben diesen Schatz weiter aus und verbinden sie auf anrührende Weise mit ihrer neuen Umgebung. Sie beweisen hier ihre Freiheit, den eigenen Raum zu gestalten und ihre Geschichte mit anderen Menschen zu verbinden.
Sie haben unter ihrem eigenen Namen einen eigenen Raum im Schöneberger Jugend Museum eingerichtet. Wir besuchten sie heute am Tag des offenen Denkmals. Lebende Menschen zeigen sich und ihre Räume. Großartig! Diese Ausstellung lohnt in jedem Fall einen Besuch.
Villa Global. The Next Generation. Jugend Museum. Hauptstr. 40/42, 10827 Berlin-Schöneberg. Öffnungszeiten: Mo-Do, Sa+So 14 bis 18 Uhr, Fr 9-14 Uhr.
www.villaglobal.de
Doppelter Schein
UNLESBARKEIT dieser
Welt. Alles doppelt.
Die starken Uhren
geben der Spaltstunde recht,
heiser.
Du, in dein Tiefstes geklemmt,
entsteigst dir,
für immer.
Diese Zeilen von Paul Celan fallen mir beim Betrachten des obenstehenden Bildes ein. Der Gasometer scheint in ein unwirkliches Licht getaucht. Nein, der Eindruck täuscht: Das Licht scheint aus ihm hervorzubrechen. Ja, wahrhaftig, es entsteigt dieser leeren Hülle! Darauf erfolgt ein Einspruch: Nein, so ist es nicht! Dieses Stahlgerüst gleicht in Wahrheit einem aufgegebenem Uhrturm, den Siedler anderer Zeiten, die unsere Erde längst verlassen haben, kurz vor ihrer Abreise entkernt haben. Aber siehe, auch das ist nur Schein. In Wahrheit, so scheint es, bereiten sie ihre Ankunft vor.
Zitatnachweis des Gedichtes von Paul Celan:
Werner Hamacher: Unlesbarkeit, in: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher. Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 1988 [=edition Suhrkamp 1357], S. 7-26, Zitat hier: S. 23
Danke, kleines fleiß’ges Maschinchen in Schöneberg!
„Ach, wenn ich nach Dienstschluss so aus meinem Rathaus komme und denke, ja wann haben denn hier diese Stufen zum letzten Mal einen Besen gesehen, und wenn ich dann erfahre: Auch heute war hier drei Mal die BSR zugange, hat gefegt und geräumt, geputzt und gewienert… dann möchte ich doch tatsächlich selbst noch zum Besen greifen, möchte Hand anlegen. Aber ich weiß: auch eine vierte Treppenreinigung wird unser Rathaus nicht in vollkommenem Glanz erstrahlen lassen.“
So die beredte Klage Franziska Giffeys, einer bekannten Mitarbeiterin des Neuköllner Bezirksamtes, der ich am vergangenen Freitag in einem der angesagtesten Kultur- und Debattiersalons unserer Stadt lauschen durfte.
Die Klage, die Bürgermeisterin Franziska Giffey am Freitag vorgetragen hatte, kam mir heute wieder in den Sinn! Denn – denkt euch nur, Kinder! – bei uns in Schöneberg hat sich die Berliner Stadtreinigung etwas Besonderes einfallen lassen: ein fleiß’ges kleines Maschinchen, mit einem Saugrüssel versehen, dem nichts, aber nichts entgeht: nicht die Zigarettenkippen, die täglich freigebig neu aufgestreut werden, nicht die Getränkepackungen, nicht das große Geschäft der vielen promenierenden Hunde und Hündchen.
Mehrmals pro Monat rummelt das fleißge Maschinchen vorbei an meinem blumenbepflanzten Balkon. Das Maschinchen hab ich ins Herz geschlossen. Wie gut es ist: Der Achtlosigkeit der Bürgerinnen und Bürger – achtet es nicht. Es verrichtet unverdrossen seinen Dienst. Und, Kinder, denkt euch nur: Ein Dankeschön erwartet es nicht. Es erwartet nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger sich ändern. Es ist die Antwort des treusorgenden fürsorglichen Staates an die Bürgerinnen und Bürger, die – weil es das Maschinchen gibt – bleiben dürfen, wie sie immer gewesen sind in unserer Stadt.
Du brauchst das Maschinchen nicht zu belohnen, du kannst die Berliner Stadtreinigung nicht wählen; du kannst BSR nicht auf dem Stimmzettel ankreuzen. Aber ich, ich wollte hier das kleine fleißige Maschinchen loben. Weil es sonst niemand macht. Wer achtet sein? Kein Hund achtet sein!
Wie rückständig sind doch die Bürger beispielsweise in Ansbach oder Augsburg: Dort räumt nach Silvester immer noch jeder Bürger den eigenen Dreck weg. Und bei uns wissen wir: Das brauchen wir nicht, wir haben ja das kleine fleißge Maschinchen.
Und ich? Ich würde BSR wählen, ich hätte BSR gewählt, wenn es eine Partei wäre. Dem fleißgen Maschinchen zuliebe.
Danke, kleines fleißiges Maschinchen, dass es dich gibt!
Du bist Vorbild; du bist Sinnbild des Bürger-Staat-Verhältnisses in unserem üppigen Bundesland; der Staat, der Bezirk wischt und fegt uns Bürgern hinterher – wie eine gute aufopferungsvolle Mutter, die ihre Kinder über alles liebt, auch wenn sie noch alt und – wie man früher sagte – „erwachsen“ sind und schon selber wischen und fegen könnten.
Siehst Du oben das Bild, lieber Leser? Das ist das kleine fleißge Maschinchen, das Sinnbild der Berliner Politik und Staatlichkeit. O wie gerne würd ich doch das kleine fleißge Maschinchen auch einmal nach Neukölln schicken!
Der Fuchs – ein Vorbild des Menschen?
Betrachte diesen Fuchs genau! Er streift an uns vorbei, sucht sich ein Plätzchen, wittert, prüft, verhält, lugt, lauscht: ein gepacktes Bündel an Aufmerksamkeit, Hinhalten, Hinlauschen. Und doch wieder vollkommen in sich ruhend, auf sich bezogen. Selbsthabe, Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung des Umfeldes, spielerisches Erkunden, Selbst-Fürsorge: das Kratzen mit dem eigenen Lauf. Kurz fasste er uns ins Auge, sicherte und witterte zu uns herüber. Er eräugte uns – aber wir waren kein Ereignis für ihn: eine Kommunikation zwischen Mensch und Tier wollte sich diesmal nicht einstellen.
Der Fuchs ist ein Vorbild an Wachheit und Aufmerksamkeit für uns Menschen. Wir Menschen, deren Aufgabe das Wachsein ist!
Bedenke: diese Begegnung ereignete sich vergangenen Sonntag an der Wilhelm-Förster-Sternwarte in Schöneberg, also dort, wo der Mensch sein Eräugen in die Weiten des Weltraumes wirft! Dem Fuchs muss dies unbegreiflich sein. Und dennoch tut er im Kleinen nichts anderes als das, was die Naturforscher im Großen auch bewerkstelligen: er erkundet, erforscht, er sucht Koordinaten, er orientiert sich, er bildet sich eine Vorstellung des Ganzen, das ihn umgibt. Er hat eine Weltsicht; er hat gewissermaßen sogar ein „Menschenbild“, denn offensichtlich misst er dem Menschen, den er vermutlich als Lebewesen, also als seinesgleichen, wahrnimmt, keine überragende Bedeutung bei. Menschen sind für diesen Fuchs Lebewesen, die es nicht zu fürchten gilt, die allenfalls nur vorübergehende Aufmerksamkeit verdienen. Wir sind für ihn – Vorübergehende. Er ist für uns – ein Vorübergehender, der kurz bei uns verweilte und uns beglückte in all seiner Fremdheit.
„Doch wo sind Sieg und Siegsbeweise…?
… aus dem von dir vertretenen Reich?“ So fragte Gottfried Benn in seinem Gedicht „Einsamer nie —„, und so fragt mancher Freizeitwerker sich.
Nun, hier kommen meine Siegsbeweise! Vorgestern habe ich unter den Fittichen der SPD Schöneberg und der BSR an einer BSR-Platzputz-Aktion „Kehrenbürger“ teilgenommen und zwei Müllsäcke in gut einer Stunde gefüllt. Darauf bin ich stolz! Ich darf mich zusammen mit einem guten Dutzend anderer freiwillig kehrender Bürger Kehrenbürger nennen und weiterhin stolz die zur Verfügung gestellten Handschuhe tragen. So wie hier oben sah die Ebersstraße nach unserer Aktion aus!
Und so sah es vorher aus:
Kehrenbürger ist eine gute Sache: die BSR stellt Initiativen, Verbänden, Parteien, Firmen gern ihr Wissen und ihre Werkzeuge wie etwa Kehrbesen und Müllsäcke zur Verfügung und transportiert die Jagdbeute auch ab. Die SPD Schöneberg konnte sich erfolgreich als Ausmisterpartei darstellen, wir kreuzbraven einfachen Bürger sind froh, dass endlich mal jemand unseren Eifer abruft. Also ran, lasst euch doch nicht von der Schöneberger SPD lumpen, werdet ebenfalls Berliner Ausmisterparteien! Ruft die Bürger zum kräftigen Schaffen auf! Der Ausmister-Wahlkampf ruft schon!
http://www.kehrenbürger.de/index.php
Unser Revier war der Park vor dem Gasometer und die Ebersstraße, und zwar von der Freifläche vor der Teltow-Schule an bis zur Herbertstraße. Das Motto Goethes lautet:
„Ein jeder kehre vor seiner eignen Tür
Und rein ist bald das Stadtquartier!“
Hier kommt unser Befund:
- Gehwege und Grünstreifen waren vor allem mit folgenden Müllarten übersät: Getränkepackungen aus Kunststoff und Pappe (Spitzenreiter!), sonstige Verpackungen, 1 alter Kühlschrank neben dem Bürgersteig, Bauschutt, benutzte Hygieneartikel.
- Statistisch stellen Zigarettenkippen die häufigste Verschmutzungsart dar. Bewohner und Passanten schnippen gleichermaßen überall in Berlin bedenkenlos zu Ende gerauchte Zigaretten auf die Straße.
- Hundekot stellt erstaunlicherweise in Schöneberg kein nennenswertes Problem mehr dar. Die vor wenigen Jahren eingeführte Hundekot-Beseitigungspflicht wird durch Hundehalter weitestgehend eingehalten.
- Ein Sonderproblem stellte der wilde Autoparkplatz am Ende der Ebersstraße direkt neben dem Hofgelände der Teltow-Schule dar. Hier fand ich immerhin etwa ein Drittel meiner gesamten Müllausbeute, darunter eine blutverschmierte Monatsbinde, Bauschutt, einen alten Teppich. Man könnte von einer echten Mikro-Müllkippe sprechen!
- Besonders stark vermüllt mit Sperrmüll und Verpackungsmüll war und ist auch weiterhin die komplett umzäunte, nicht zugängliche Naturanlage längs der Gleise an der Ebersstraße.
- Unüberwindbare Grenzen des kehrenbürgerlichen Einsatzes sind: a) Zigarettenstummel. Die sind nicht mehr zu zählen. Händisch nicht zu schaffen! b) Der alte Kühlschrank. Er ist schlicht zu schwer. c) Bauschutt am Ende der Ebersstraße auf dem wilden Parkplatz d) Sperrmüll in der komplett umzäunten Naturfläche längs der ehemals genutzten Gleise. Hier muss man einfach sagen: Die Kräfte der einzelnen sind beschränkt. Der Bürger kann allein nicht alles schaffen.
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Fröhliches Kamel in Oase – so wollen Kinder ihr Umfeld
Und das haben die Kinder gezaubert: ein kleines Freiheitsdenkmal schmückt jetzt den Verteilerkasten in unserer Straße. Die Kinder wollen Erkennbares, die bunten Zwerge wollten selbst auch ein Zeichen der Freude und der Hoffnung in der Wüstenwanderung des Lebens setzen. Ein Kamel hat es bis zur Oase in Ägypten geschafft; hinten erblicken wir die Pyramide der Weisheit. „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen!“ So dichtete einst Clemens Brentano!
Auf der anderen Seite winkt uns ein Affe zu. Der Affe grüßt das Kamel in Sonnenschein. Er winkt die dunklen Wolken der Weltenfinsternis einfach weg. In Ägypten herrscht also Frieden und Fröhlichkeit. Das ist die dichterische Macht der Freiheit, das ist das Einheitsdenkmal, das die Großen in Berlin wegen lumpiger 5 Millionen Euro nicht hinkriegen und einfach so absagen wollen!
Das haben uns die Kinder der Grundschule hingezaubert. Danke, Kinder, danke, Lehrer, danke Teltow-Grundschule!
Was geht hier ab unter diesem Zelt?
Wer hatte denn dieses Zelt vor unserem Haus aufgespannt? Groß war unser Portal-Erstaunen am frühen Morgen! Ein weißes Partyzelt! Was gab es da zu feiern? Etwa das Gedicht Hendrik Rosts „Was ich noch sagen wollte“, ein herrliches poetisches Stilleben, hingetupft mit pinselartig verteilten Worten, oder der neueste Coup Bud Spencers, das Buch „Was ich euch noch sagen wollte“?
Nichts von alledem! Pustekuchen! Eine kleine Schar bunter Zwerge aus der nahegelegenen Teltow-Grundschule stand schon in spacigen Kostümen bereit, um einen Verteilerkasten neu zu bemalen! Die bunten Zwerge trugen Plastik am ganzen Leibe, sie trugen ganzkörperlich verhüllende Anzüge, sie trugen lustige schnorchelartige Atemfilter, und sie konnten sich nur bärenartig-täppisch bewegen! Manche klapperten schon ungeduldig mit ihren Döschen und Tübchen. Die Spannung rings um den Verteilerkasten stieg an! Welches Bild würde sich nach dem Schaffen und Werkeln der bunten Zwerge bieten?
Quellenhinweis:
Hendrik Rost: Was ich noch sagen wollte, in: Der große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Erweiterte Neuausgabe. Ausgewählt und herausgegeben von Carl Otto Conrady. Erste Auflage, Patmos Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2008, S. 1300
Bud Spencer: Was ich euch noch sagen wollte. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2016
Der Wolf im Schöneberger Südgelände
Der Wolf im Südgelände. Ach, könnte ich doch heute ein seltenes Tier sehen! So sagte ich, als wir den Natur-Park Schöneberger Südgelände betraten. Schon näherten wir uns dem südlichen Ausgang, da verzagte ich schon. War mein Wünschen töricht? Nein! Fräulein Brehms Tierleben lockte. Es gab in der alten Schmiede in der Lokhalle eine Vorführung über Canis lupus, den Wolf, und hier konnten wir nun alles erfahren beim Flackern eines knisternden Holzfeuers. Der Wolf ist wieder da, in der Lausitz hat er sich ein ortsfestes Revier begründet. Die ersten Jungwölfe sind bereits auf Wanderschaft gegangen, und es besteht Hoffnung, dass sich nach und nach Wolfsbestände bis hin zu den Artgenossen in der Schweiz, Norditalien, Österreich bilden. Die Vorführung war sehr anschaulich. Es begann mit dem gepflegten, wohlklingenden, leicht professoral angehauchten Deutsch aus Alfred Brehms Tierleben, wurde ergänzt durch Fortführungen bis in unsere Gegenwart hinein. Die Schauspielerin bot uns wirklich alles. Sogar den artgerechten Würgebiss des Wolfes, ehe er das Tier sterben lässt, ohne es lange leiden zu lassen. Ich spürte das Wolfsgebiss an der eigenen Kehle und konnte mich einer aufsteigenden Angst nicht erwehren. Da war sie, jene instinktiv verankerte Angst vor dem räuberischen Wolf, welcher ja beispielsweise im Hobbes’schen Losungswort homo homini lupus seinen Niederschlag fand. Wir durften auch die Losung eines Wolfes prüfend in den Händen wiegen und beschnuppern. Besonders beeindruckte uns der geschnürte Trab des Wolfes, bei dem er eine Pfote in den Abdruck der anderen setzt, um wertvolle Energie zu sparen.
Es war insgesamt ein äußerst kurzweiliges, lehrreiches Erlebnis, gekrönt nicht zuletzt durch die Sichtung eines Wolfes in der Halle. Um Ausgang zu erhalten, stimmte ich schließlich sogar ein täuschend echtes Wolfsgeheul an, denn die Ausgangstür der Lokhalle war bereits verschlossen. Beim Zurückwandern im Park grüßten wir noch in 148 Millionen Kilometer Entfernung unser Zentralgestirn, die liebe gute Sonne, die das Leben auf unserem kleinen Eiland prägt, trägt, erhält, zerstört und verwöhnt, unserer geliebten Erde.
www.brehms-tierleben.com
Verschollenes. Spuren im Schnee. Auf Flügeln des Gesanges
Und wieder erwachten wir, und wieder hatte der Schnee sein weißes Gewand über Feld und Flur gelegt, und wieder dreht sich das lustige Anemometer, die effizienteste aller Wetterfahnen, hoch droben am aufgelassenen Gasvorratsbehälter! Hier in Schöneberg!
Und wieder, wie damals!
Ja, damals, das waren noch Zeiten damals, 1930, da sangen die Menschen noch! Auf welchen reichen Schatz an Traditionen, Liedern und Klängen konnte der Regisseur Josef von Sternberg, damals, 1930, noch zurückgreifen! Welch reiche Schauspielkunst stand damals einem Emil Jannings noch zu Gebote! Erst war er der steife Pennäler-Quäler, der seine Schüler mit Shakespeare schurigelte und anspuckte, aber wie sehr lockerte sich seine Seele auf unter dem Anhauch des Gesanges! Hinter der Maske des starrren Professors kam eine weiche, verletzliche, liebende Seele zum Vorschein!
Und wie sehr veränderte Emil Jannings sich dann, als er getäuscht worden, wie sehr bewahrheitete sich der Schlager, den Christoph Hölty 1775 dichtete und Wolfgang Amadeus Mozart 1791 in Töne setzte:
Drum übe Treu und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab
und weiche keinen Fingerbreit
von Gottes Wegen ab.
Und als er kam zu sterben, der alte Herr Professor, das Professorchen, da sucht‘ er die Stätte seines Wirkens noch einmal auf, da trat er ein ohne anzuklopfen, doch seine Schüler waren alle fort. Da legt‘ er sich nieder auf das Katheder, von dem aus er seine Schüler geschurigelt hatte, da verkrallte sich seine Faust unlösbar in das alte Gebälk. So fand der Pedell ihn wenige Stunden danach. Er hörte schon nicht mehr.
Ja, wie nahe von hier ward diese Sängerin doch geboren! Hier, in Schöneberg geboren? Ja, hier in der Sedanstraße 65, der heutigen Leberstraße, etwa 300 Meter vom Ort dieses Fotos aus gemessen, ward sie geboren!
Ja, damals konnten sie noch singen, man verstand jedes Wort, jeden Ton, jeden Konsonanten! „… Ich bin von Kopf bis Fuß…“ — ja, wie sie das singend spricht und sprechend singt, so kann das heute keine deutsche Sängerin mehr. Ja, das ist die Kunst der Diseuse, die auf bestechend deutliche Art jedes Wort, jeden Ton aus der Taufe hebt! Ja, damals lernten die Buben und Mädchen richtig klares Deutsch!
„Also war alles besser damals?“
Nein, nein, nicht alles war besser als heute, im Berlin der späten 20er Jahre. Wir wollen hier die Weimarer Republik nicht verklären, aber sie war doch wesentlich besser als das, was ab 1933 bis 1945 folgte. Und vieles war in der Tat besser als heute, mindestens dies: Die Buben und Mädchen lernten damals – im Jahr 1930 – noch richtig klares Deutsch. Sie lernten noch singen, tanzen, turnen, Gedichte rezitieren, Schlager und Volkslieder singen!
Während das heutige offizielle Europa weitgehend in einem echolosen, gedächtnistoten Kulturraum existiert und seine Jugend in einem gränzenlosen Präsentismus zum Glauben an Google, zum Glauben an den Euro, zum Glauben an den European Song Contest (ESC), an die gränzenlose Weisheit der EZB und an Quantitative Easing (QE) erzieht, standen den europäischen Ländern 1930 noch einige Jahrhunderte Gesang, einige Jahrhunderte Sprachgeschichte zu Gebote.
Und in dem ganzen Film, den Josef von Sternberg 1929/1930 in den UFA-Studios drehte, singt es und klingt es wie in einem Märchenwald der deutschen Lieder. Uralte, heute verschollene, heute vergeßne Lieder und Klänge tönten aus der digital restaurierten Tonspur an unser Ohr.
Wir hörten Franz Schubert heraus:
Ich hört’ ein Bächlein rauschen
Wohl aus dem Felsenquell,
Hinab zum Thale rauschen
So frisch und wunderhell.
Und zum Fenster des Gymnasiums herein klang der glockenhelle zweistimmige Mädchenchor herein:
Klopp an de Kammerdör,
Fat an de Klink!
Vader meent, Moder meent,
Dat deit de Wind.
Was klingt da heraus, was klingt da herauf aus dem Film, den der Produzent Erich Pommer 1930 in den UFA-Studios drehen ließ?
Alte, längst vergeßne Tage! Alte Sprachen! Alte Kunst!
Herbeigeströmt von fern und nah. Zur Aktualität Schillers
Bank an Bank gedrängt sitzen sie da in Schillers gut bürgerlicher Stube in der Akazienstraße. Allerlei fremde Sprachen schlagen an mein Ohr, wartend sitzen die Völker da, wer kennt die Sprachen alle, die hier in Schöneberg zusammenkommen? Niemand!
Sehen wir es einmal von dieser Seite her: Je länger wir gestern auf unseren Burger im Schiller Burger warteten, desto mehr Zeit blieb uns, wäre uns verblieben, das eine oder Gedicht Schillers laut, halblaut oder fast unhörbar leise zu rezitieren, so etwa jene Szene, in der Schiller packend beschreibt, wie sich in einer anonymen Menge allmählich eine Spannung, eine dumpfe Erwartung anstaut, die dann geradezu eruptiv in eine unerhörte Begebenheit ausbricht.
Auch hier wiederum treten – wie schon bei des Aischylos Schutzflehenden – die Analogien zur heutigen Lage sinnfällig ins Auge – denn auch heute kommen ja von Asiens entlegener Küste, von allen Inseln Griechenlands viele Völker, viele Menschen in Berlin zusammen, deren Namen niemand nennen kann. Doch was brabble ich da vor mich hin?
Lest lieber selbst, hört besser selbst:
Denn Bank an Bank gedränget sitzen,
Es brechen fast der Bühne Stützen,
Herbeigeströmt von fern und nah,
Der Griechen Völker wartend da,
Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen;
Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.
Wer zählt die Völker, nennt die Namen,
Die gastlich hier zusammenkamen?
Von Kekrops‘ Stadt, von Aulis‘ Strand,
Von Phokis, vom Spartanerland,
Von Asiens entlegner Küste,
Von allen Inseln kamen sie
Und horchen von dem Schaugerüste
Des Chores grauser Melodie,
Der streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund,
Umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine irdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.
Zitat auf der Packung des Feuchttuches:
Friedrich Schiller: Die Kraniche des Ibykus. In: ders., Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte, Dramen I. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1987, S. 349
Bild:
Im Schiller Burger, Akazienstraße, Schöneberg, gestern, beim Warten auf „An die Freude“