Ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse, Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg, diese Verse warf ich in die Runde irgendwo in Berlin beim Italiener, als der Wein schon fast ausgetrunken war. Hell schimmerte die Kuppel des Deutschen Doms über dem Gendarmenmarkt. Es ging ums Grundsätzliche.
Hinwegrauschende Wagen, davontreibende Begrifflichkeiten – das sind auch die zahlreichen Begegnungen, Vorträge, Diskussionen, die ich den letzten Tagen geführt und gehört habe. Was bleibt am deutlichsten haften? Wohl dies: ein neu erwachtes Gespür, dass den Menschen in diesen Wochen nichts so sehr am Herzen liegt wie das Aufbrechen der Kruste der Gleichgültigkeit, das Einstehen für sich und für andere, mit einem Wort: eine neue Verantwortlichkeit.
Beipiele für diese umfassende Sehnsucht nach Verantwortung? Es waren für mich in diesen Tagen: Der Kongress 30 jahre taz, die beiden neuen Bücher Die verlogene Gesellschaft von Oswald Metzger, Die gute Schule von Christian Füller. Und der Fluch „Fick dich!“, den mir gestern ein Radfahrer entgenschleuderte, als ich ihn durch höflichstes Klingeln und den Zuruf „Du fährst falsch“ darauf aufmerksam machte, dass er im Begriffe stand, mich über den Haufen zu fahren, da er den Radweg in der falschen Richtung benutzte und volle Kanne auf mich zusteuerte.
Alle diese Zeugnisse und Erfahrungen kommen überdeutlich überein: Wir müssen das gängige System der organisierten Verantwortungslosigkeit durchbrechen, das uns nicht weiterbringt. Ich möchte anfangen, diese Verantwortung mir selbst abzuverlangen. Dabei fange ich ganz klein an: etwa durch das Einhalten von Verkehrsregeln, durch Höflichkeit und Rücksicht im Straßenverkehr, auch wenn sonst kaum jemand sich drum kümmert. Wer – wie so viele Radfahrer – in Anwesenheit von Kindern es nicht fertigbringt, bei Rot anzuhalten, bei dem glaube ich nicht, dass er in wichtigeren Fragen zu seiner Verantwortung steht. Ein solches Verhalten kann nicht vorbildlich sein.
Gehäufte Regelverletzungen, das ständige Übertreten von Normen des zivilisierten Umgangs zeichneten von Anfang an viele kriminelle Karrieren in der Politik des 20. Jahrhunderts aus. Das wird meines Erachtens viel zu wenig bedacht. Ein Hitler, ein Stalin, ein Lenin – sie und viele andere Verbrecher fingen ihre Laufbahn damit an, dass sie Fenster einschmissen, Graffiti auf unliebsame Geschäfte pinselten, grölend Versammlungen sprengten, fremdes Eigentum beschädigten und Körperverletzungsdelikte begingen – und zwar lange ehe sie in Regierungsämter gelangten. Sie verachteten den bürgerlichen Rechtsstaat und deshalb hielten sie sich nicht an seine Regeln.
Umgekehrt meine ich: Wer diesen Rechtsstaat will und bejaht, der muss sich an seine Regeln halten, auch im Kleinen. Das ist ein erster, winziger Schritt zur neuen Verantwortlichkeit, die doch alle so sehr wünschen.
Und jetzt gilt – still wird die erleuchtete Gasse.
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