An Syriens Grenzen

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Okt 082015
 

Ein großes Vorbild und Muster europäischer Flüchtlingspolitik bietet zweifellos Aischylos in seiner Tragödie  Schutzsuchende (Ἱκέτιδες). Wir erleben 50 asylsuchende Frauen aus Ägypten, die sich der Zwangsverheiratung widersetzen, verfolgt von der Männer Wut, von Mordgeschrei und Kriegsdrohung. Bomben und Kanonen gab es damals nicht. Heute sind es junge Männer, damals waren es junge Frauen. Aber die geographische Herkunft ist dieselbe, nämlich Syrien und Ägypten samt den das Mittelmeer säumenden Nachbarländern, der Nahe Osten eben, die Levante.

So tragen die Asylbewerberinnen gleich zu Beginn bei Zeus ihre Herkunft so vor:

Ist ja sein das Land auch
An Syriens Grenzen, aus dem wir entflohn

Das Problem war bei Aischylos damals im 5. Jh. v.d.Z. im wesentlichen dasselbe wie heute in der Europäischen Union .

„Sollen wir die Masse Asylsuchender aufnehmen, auch wenn unser Gemeinwesen dadurch erheblichen Schaden erleidet? Ist die Aufnahme sittlich und rechtlich geboten, auch wenn es unserem Staate nicht nützt?“

Zitatnachweis:

Aischylos: Die Schutzsuchenden. In: Aischylos. Die Tragödien.  Übersetzungen mit Anmerkungen von Emil Staiger und Walther Kraus. Nachwort von Bernhard Zimmermann. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2002, S. 237-279, hier S. 237

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In ihrem Wohl liegt euer Wohl

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Okt 082015
 

Gewissermaßen eine orientalisch-europäische Bibel der Flüchtlingsdebatte ist – neben und zugleich mit Aischylos‘ griechischer Tragödie Hiketiden („Asylbewerberinnen“) – die Bibel. Die Bibel – bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament – ist gespickt mit den Themen Vertreibung, Flucht, Überfremdungsangst, Multikulturalismus, sie ist angefüllt mit Ethnizitätskonflikten, mit Religionskonflikten, mit Gewalt und Gewaltverzicht, mit Terror und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit gilt sowohl bei Aischylos‘ „Hiketiden“ wie in der Bibel (an sehr vielen Stellen bei Jesaias und Jeremias, und durchweg überall im Neuen Testament) als Antwort auf den Terror, der die Asylanten schlug. Eine Obergrenze der Barmherzigkeit gibt es nicht. Ganz im Gegenteil ist „Unendlichkeit“ eines jener Attribute, welches sowohl in der Bibel wie auch im Koran der Muslime der Barmherzigkeit beigelegt wird.

Heute fällt mir wieder der Brief des Jeremias ein, den er an die Verbannten und Vertriebenen seines Volkes  im Babylonischen Exil schrieb. Wann schrieb er den Brief? Wohl nach 597 v.d.Z., kurz nach der Massen-Deportation und Massen-Flucht von Jerusalem nach Babylon. Rechtschaffenheit, Dienst am Gemeinwohl, Integration in eine fremde Umgebung waren in der Stimme des Jeremias die Gebote der Stunde. Sie waren das rechtlich und moralisch Gebotene in Zeiten der Not, des Krieges und der Flucht. Wie das dann im einzelnen zu schaffen war, lag selbstverständlich in den Händen der Beteiligten. Entscheidend ist, dass den ganzen Brief des Jeremias der Geist des „Wir schaffen das“ prägt und trägt. Er trug und trägt die Traglufthalle der Erstaufnahmeeinrichtung.

Teile des Jeremias-Briefes (nämlich Kap. 29, Vers 76) waren groß aufgemalt an der Decke der Berliner Notunterkunft, die wir im Mai dieses Jahres zum Singen und Spielen besuchten.

Bemerkenswert: Jeremias fordert von den Flüchtlingen von Tag 1 des Babylonischen Exils an Arbeit, Integration, Fleiß und Mühsal.

Die entsprechenden Verse seien hier angeführt:

Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Früchte!

Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Ihr sollt euch dort vermehren und nicht vermindern.

Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.

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Barfußpfade – eine gangbare Alternative zum Hochgebirgswandern?

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Okt 062015
 

Barfuß 20151004_120517

Statt eines steil ausgesetzten Höhenkamms – den man nicht haben kann im Umland von Berlin – führte uns der Weg am Sonntag von Ribbeck im Havelland auf dem Barfußpfad über eine Länge von 2 km zum Kinderbauernhof Marienhof. Ohne Schuhe und ohne Socken stapften wir durch Sumpf und Luch, über Stock und Stein, immer am Rand des Wirtschaftsweges entlang. Mancherlei Hindernisse stellten sich uns in den Weg, von der knuppeligen Baumwurzel über steil aufragende Altreifen, von der schottrigen Grauwacke über einen schwanken Steg aus zwei Balken bis hin zum umgestülpten Mehrweggetränkeflaschentragl.

Barfuß 20151004_121810

Die nackten Füße erfuhren Erdgeschichte, erfuhren den ersten Kältehauch des Herbstes im tief quatschenden Sumpf, ertasteten noch die gespeicherte Wärme des Sonnentages im feinkörnigen Mergel und im aufgeschütteten Schluff. Und ja, dieses ständige Fassen und Nehmen der Fußsohle am Boden, das Weichen und Nachgeben, das Drücken und Zwicken des Erdbodens entfalteten eine konzertante Gesamtwirkung auf den gesamten Bewegungs- und Halteapparat aus Zehen, Füßen und Beinen, dass ich mich danach an die wohlig walkende Wirkung eines Höhenpfades in 2.000 m erinnert fühlte. Das gesamte Alpenpanorama dacht‘ ich mir dazu – etwa mit folgenden Versen:

Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß
Entlassend meiner Wolken sanftes Tragewerk
Betret‘ ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum

— und die Südtiroler Herrlichkeit vergegenwärtigte mir ein Buch, das ich im Sammelregal gebrauchter Bücher im Schloß Ribbeck fand und erstand, nämlich den packenden Schicksalsroman „Zwei Menschen“ von Richard Voß, 1911 zuerst erschienen in Stuttgart, 1959 wieder aufgelegt durch den Fackelverlag Olten. Eine prachtvolle, in vollem Selbstbewusstsein schaltende und waltende Frau ist sie, diese Judith vom Platterhof! Ein Leckerbissen für Genderforscherinnen aller Geschlechter!

Der Roman spielt in Vahrn am wild schäumenden Eisack, wo ich meine letzten Bergabenteuer erlebt habe, und der Autor starb 1918 in seiner Wahlheimat Berchtesgaden, wo man sich seiner noch heute erinnert. Ebenfalls erwähnt wird in dem Buch das Kloster Neustift, aus dem ich drei Flaschen Wein mit nach Berlin brachte.

Wer mochte dies Buch dort wohl für mich hinterlegt haben?

Ergebnis: Ja, Barfußpfade sind eine taugliche Alternative für alle jene, die es nicht schaffen, am Wochenende ins Hochgebirg zu fahren, um starre, zackige Felsengipfel zu erklimmen.

Der Havelland-Radweg führt bequem, still und geräuschlos rollend von Nauen bis Ribbeck ans Ziel.

https://www.youtube.com/watch?v=PmvBOAlpwPE

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Poco adagio, cantabile. Sempre piano

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Okt 032015
 

Schwarz rot gold 20150926_143526

Bei einem der letzten Male des Festes der deutschen Einheit am 3. Oktober trat Coca Cola als mächtigster Hauptsponsor des Festes der deutschen Einheit auf. Coca Cola baute am 2. Oktober 2011 ein HAPPINESS MONUMENT, einen Glücksturm in Berlin auf der Straße des 17. Juni auf. Was bedeutet Glück? Auf der Bühne war kein einziges deutsches Wort zu hören, die gesamte Beschallung aus den wummernden Subwoofern und auch die Talks fanden nur auf Englisch statt. Ich fotografierte den Glücksturm von Coca Cola, berichtete darüber in diesem Blog am 2.10.2011. „Trinkt Coca Cola, singt und redet Englisch und ihr werdet glücklich“ – das war überdeutlich und überlebensgroß die damalige Glücksverheißung. Mich fror dabei. In mir schalt es und schimpft‘ es wie eine tschilpende Schar Rohrspatzen: „Universal happiness through Coca Cola? Not my stuff!“

Ich selbst wähle heute eine geradezu hinterlistig schlaue Art, ihn, diesen guten sonnigen Tag, zu begehen: ich spiel einfach die Stimme der ersten Geige des zweiten Satzes aus dem Streichquartett Nr. 42, op. 76 Nr. 3 des Österreichers Joseph Haydn. … Wieso hinterlistig? Nun, ich spiele nur die Variationen, nicht jedoch die Melodie des Österreichers! Gibt es noch genug hörende Ohren und hörende Herzen in Deutschland? Hört jemand die Melodie des Österreichers heraus? Niemand wird gezwungen, die österreichisch-ungarische Melodie herauszuhören, geschweige denn den Wortlaut des Liedes; jeder darf sie hineinhören. Das ist wahre Freiheit!

Haydn schreibt: poco adagio, cantabile. Dolce. Sempre piano. Ein herrlicher Dreifachsinn! Eine Ermahnung zu Takt und Sitte, zu Maß und Mitte. Man kann hineinhören: Certe melodie vanno prese adagio, also: gewisse Melodien spiele man mit Behutsamkeit, aber doch gesanglich. Singen ja, aber nicht mit wummernden Subwoofern, sondern ohne elektrische Verstärkung, ohne Tingeltangel, ohne Glanz und Gloria, ohne Tschingdarassabumm.

Yes. Unplugged! Dolce! Cantabile!

Si sente un certo disagio oggi. Eppur si canta.

 

Bild: Menschen vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund. Aufnahme aus dem Treppenhaus des Bauhauses in Dessau. 26. September 2015 beim Engelsgesang-Ausflug des Elternchores der Beethoven-Schule Berlin

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