
Cremona, den 11. März, abends
Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert, lieben Freunde! Wie froh bin ich, dass ich weg von dort bin, vom graulichen Norden, wo der dunkel lastende Himmel mich umfing, und hier bin in Cremona, in der Geburtsstadt des Generals Publius Quinctilius Varus, der Amati-Familie, der Guarnieri, der Sängerin Mina, des Claudio Monteverdi sowie des Antonio Stradivari mich aufhalte. Des Nachmittags traf ich mit der Corriera, einem echten Schienersatzverkehr – wie man bei euch im Norden sagt – am Bahnhof in Cremona ein; links grüßt ich kurz hinüber nach Roncole, wo Verdi geboren ward und unser Giovannino Guareschi seine herrlichen Schnurrpfeifereien um Don Camillo und Peppone ersann.
Die Landschaft ist ebenmäßig, dabei doch nicht gleichförmig; häufig fielen mir beim Blick aus der Corriera die akkurat im Rechteck gepflanzten gesetzten Pappeln ein, die sich hunderte von Metern längs des Po erstrecken und der Ebene einen mystischen Carréschliff verleihen.
Den Abend spazierten wir fleißig durch Plätze und Gassen. Die von rückwärts erleuchtete Fassade des Domes wirkt leicht, vielfach durch Zierat gebrochen und höchst sinnreich gegliedert, als wäre sie aus Stuck gearbeitet. Länger verharrten wir vor der Auslage des Geigenbaumeisters Valerio Ferron, der dort, nur wenige Schritte vom Dom entfernt, seine Bottega führt. Er ließ uns eintreten. Ich spielte zwei Bratschen zur Probe; wie alle italienischen Meisterinstrumente, sprachen sie leicht an, sie sind im Schnitt kleiner und einige Gramm leichter als deutsche Instrumente.
Denkt euch, vorhin durfte ich dann noch auf einer von diesem Cremoneser Meister Ferron haargenau nachgebauten Kopie der Guarnieri-Violine „Il Cannone“ das Andante aus der a-moll-Solosonate von Bach spielen, ehe diese dann morgen, wohl in nicht mehr als 12 Stunden unwiederbringlich an einen nicht näher genannten Kunden verkauft wird. Was für eine Freude, wie leicht, wie perlend kamen doch die Töne aus dem Inneren der Violine hervor, wie mühelos! 1720 etwa schrieb Bach im sachsen-anhaltischen Köthen diese Musik, es ging uns nichts darüber! 22 Jahre später schuf Guarnieri dies Instrument – es war mir wie eine Hochzeit, eine unio mystica zwischen Norden und Süden, wie die Decke und Boden einer Geige passten in diesem Nu die beiden Hälften Europas zusammen.
Ich sende Euch grüßend diesen herrlich summenden und sagenden Ton der Geige zu, wie sie formgleich bereits Paganini selbst auf seinen Reisen mit sich führte. Ihr erinnert euch vielleicht, dass der spielsüchtige Paganini in Livorno eines Abends seine vortreffliche Amati am Spieltisch verspielt hatte, auf der andern Tages hätte spielen müssen. Livron, der reiche französische Musikfreund, half ihm aus der Klemme und schenkte ihm das Guernieri-Stück mit dem charakteristisch weißen Obersattel und dem prachtvoll gemaserten, aus zwei Stücken zusammengesetzten Boden. Es ging ihm nichts darüber, er nannte es Il Cannone, noch heute befindet es sich in Genua. Nach dem Willen des großherzigen Gönners Livron durfte nur Paganini diese Violine spielen.
Ich bedaure, dass ich zwei oder drei Proben in der nächsten Woche werde ausfallen lassen. Wie überreich werden wir alle belohnt sein, wenn ich euch nach meiner Rückkehr mehr erzählen kann. Die Dom-Herberge hat alle Zimmer benamset und das Zimmer, in dem ich einquartiert bin, heißen sie Paganini.
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Zahlreiche heitere, gelassene, kluge und fröhliche Gespräche führte ich aus privatem Anlass in Cremona bei meinem letzten Italienbesuch. Besonders gefiel mir der Ratschlag des in Italien viel gelesenen Dichters und Liedermachers Isaia aus der wunderschönen Region Giuda des Belpaese. „Nu macht euch doch keinen Kopf über die Vergangenheit. Kuckt in die Zukunft, lasst es mal kräftig durchlüften. Ich fang wieder von vorn an mit euch.“ So sinngemäß seine aus dem Italienischen rezitierten Tipps („Il Libro di Isaia„, Lied Nr. 43, Vers 18).
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Der Wolf im Südgelände. Ach, könnte ich doch heute ein seltenes Tier sehen! So sagte ich, als wir den Natur-Park Schöneberger Südgelände betraten. Schon näherten wir uns dem südlichen Ausgang, da verzagte ich schon. War mein Wünschen töricht? Nein! Fräulein Brehms Tierleben lockte. Es gab in der alten Schmiede in der Lokhalle eine Vorführung über Canis lupus, den Wolf, und hier konnten wir nun alles erfahren beim Flackern eines knisternden Holzfeuers. Der Wolf ist wieder da, in der Lausitz hat er sich ein ortsfestes Revier begründet. Die ersten Jungwölfe sind bereits auf Wanderschaft gegangen, und es besteht Hoffnung, dass sich nach und nach Wolfsbestände bis hin zu den Artgenossen in der Schweiz, Norditalien, Österreich bilden. Die Vorführung war sehr anschaulich. Es begann mit dem gepflegten, wohlklingenden, leicht professoral angehauchten Deutsch aus Alfred Brehms Tierleben, wurde ergänzt durch Fortführungen bis in unsere Gegenwart hinein. Die Schauspielerin bot uns wirklich alles. Sogar den artgerechten Würgebiss des Wolfes, ehe er das Tier sterben lässt, ohne es lange leiden zu lassen. Ich spürte das Wolfsgebiss an der eigenen Kehle und konnte mich einer aufsteigenden Angst nicht erwehren. Da war sie, jene instinktiv verankerte Angst vor dem räuberischen Wolf, welcher ja beispielsweise im Hobbes’schen Losungswort homo homini lupus seinen Niederschlag fand. Wir durften auch die Losung eines Wolfes prüfend in den Händen wiegen und beschnuppern. Besonders beeindruckte uns der geschnürte Trab des Wolfes, bei dem er eine Pfote in den Abdruck der anderen setzt, um wertvolle Energie zu sparen.