Jan. 062009
 

25122008004.jpg Was hält uns in Europa zusammen? So fragten wir in diesem Blog im vergangenen Jahr. Unsere vorläufige Antwort: Es ist nicht klar. Wir wissen es nicht so recht. Und wenn wir es wüssten, müsste es laut und deutlich gesagt werden.

Was hält politische Gemeinschaften zusammen? So fragte Aristoteles. Seine Antwort: „Freundschaft“, das Gefühl einer Zugehörigkeit zueinander. Innerhalb einer Stadtgemeinde dürfe es keine Feindschaften, aber auch keine Gleichgültigkeit  geben, sonst bräche der Zusammenhalt auseinander.

Was hält unsere deutsche Gesellschaft zusammen? So fragen heute die beiden Bürger Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble in der FAZ auf S. 8. Ich nenne sie Bürger … Moment mal, sind das nicht zwei Politiker, Minister gar? Stimmt, ihr habt recht. Aber die beiden Verfasser schließen ihren Artikel höchst wirkungsvoll mit folgender Schlussformel ab: „… wir alle als Bürgerinnen und Bürger.“ Alle sind wir Bürgerinnen und Bürger, das ist doch ganz meine Rede. Einige dieser Bürger sind daneben auch Politiker, aber Politiker und Bürger sollten sich einig sein in einem gemeinsamen Ethos. So verstehe ich zumindest die beiden Autoren.

Den ganzen Artikel durchzieht die Forderung nach einem gestärkten Miteinander. Nur dann, wenn jede und jeder das Gefühl hat, dazuzugehören und gebraucht zu werden, kann sich eine Gesellschaft auf Dauer den wichtigen Einzelfragen zuwenden. Vereine, Bürgerinitiativen, Mehrgenerationenhäuser – das alles und vieles mehr sind hochwillkommene Beispiele solch tätiger Gemeinschaft, die den Staat trägt. Der Staat kann diesen Wurzelgrund nicht ersetzen, aber er kann ihn fördern.

Wir warfen gestern einen Blick auf das untergegangene Zarenreich. Politiker wie Stolypin kämpften unentwegt für die gemeinsame Sache. Umsonst, es war wohl schon zu spät. Die gesellschaftlich führenden Gruppen und die meisten Politiker, nicht zuletzt auch Zar Nikolaus II. höchstselbst, waren offenbar nicht bereit, eigene Besitzstände aufzugeben. Der Petersburger Blutsonntag von 1905 und viele andere Abwehrreflexe setzten Fanale der Unterdrückung gegen die berechtigten Forderungen der benachteiligten Bauern und Arbeiter.

Wie schreibt doch Vera Lengsfeld in ihrem Buch Neustart auf S. 103? „Und wenn Politiker in der Öffentlichkeit gegen jede mögliche Veränderung vor allem besitzstandswahrende Abwehrreflexe kultivieren, wirken sie lähmend auf die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft.“

Ich meine: Wir brauchen Veränderung, wir brauchen dafür mehr innere Bindung an ein freiheitliches Miteinander. Ich glaube darüber hinaus: Die größten Risiken liegen nicht in der Staatsverschuldung, nicht in der Arbeitslosigkeit, nicht in der Finanzkrise. Die größten Risiken für unsere Republik und auch für die EU liegen darin, dass diese innere Bindung verloren gehen könnte.

Den höchst lesenswerten Artikel aus der heutigen FAZ werde ich mir aufheben. Man könnte ihn auch in einen Artikel für die führenden Boulevardblätter Deutschlands umschreiben, mit kurzen knackigen Sätzen und auf 200 Wörter verkürzt. Die Botschaft würde gut ankommen. Ich wünsche es ihr.

Unser Foto zeigt heute einen Blick in die Neue Oper in Moskau. Dort sahen und hörten wir am 25. Dezember eine Aufführung von Tschaikowskijs Nussknacker. Nach der Erzählung Nussknacker und Mäusekönig von E.T.A. Hoffmann. Auch solche deutsch-russischen kulturellen Gemeinschaftsleistungen halten uns in Europa zusammen.

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Okt. 272008
 

Immer wieder wird gesagt: Die Teilung Europas kam 1989 zu einem Ende. Was wir jetzt versuchten, sei das Zusammenkitten von etwas, was durch die kommunistischen Revolutionen ab 1917 gespalten worden sei. Dem mag so sein. Und doch ist die europäische Geschichte durch zwei viel tiefer gehende Spaltungen geprägt: die doppelte Spaltung in Ost und West um die Jahrtausendwende, als sich der lateinisch geprägte Westen vom griechischen Osten löste – und die erbitterten Spaltungen und Risse, die etwa 500 Jahre später im Zeitalter der Reformationen aufbrachen. Immer ging es dabei auch um Worte, um Überzeugungen, um Ideen, die die Menschen antrieben und auseinandertrieben. Hierzu schreibt Diarmaid MacCulloch in seinem vielgerühmten Buch The Reformation. Europe’s House Divided:

Reformation disputes were passionate about words because words were myriad refractions of a God whose names included Word: a God encountered in a library of books, itself simply called the Book – the Bible. It is impossible to understand modern Europe without understanding these sixteenth-century upheavals in Latin Christianity. They represented the greatest fault line to appear in Christian culture since the Latin and Greek halves of the Roman Empire went their separate ways a thousand years before; they produced a house divided. The fault line is the business of this book. It is not a study of the whole of Europe as a whole: It largely neglects Orthodox Europe, the half or more of the continent that stretches from Greece, Serbia, Romania, and Ukraine through the lands of Russia as far east as the Urals. I will not deal with these except when the Orthodox story touches on or is intertwined with that of the Latin West. There is a simple reason for this: So far, the Orthodox churches have not experienced a Reformation. Back in the eighth and ninth centuries many of them were convulsed by an „iconoclastic controversy,“ which hinged on one of the great issues to reappear in the sixteenth-century Reformation. But in the case of the Orthodox, the status quo was restored and not partially overthrown as it was in the West. We will return to this issue of images frequently in the course of this book.

Who or what is a Catholic? : The Reformation

Unabsehbar sind die Folgen dieses Umbruchs auch in der heutigen Zeit. So entnehme ich der deutschen Übersetzung des Buches eine Vorformulierung unseres heutigen Verständnisses von Gemeinwesen: Erasmus von Rotterdam schreibt im Vorwort zu seiner Enchiridion-Ausgabe von 1518, dass in der idealen Gesellschaft jedermann aktiver Bürger der civitas sein solle – dass also die Zuerkennung von Bürgerlichkeit keineswegs an bestimmte weltliche Voraussetzungen wie etwa Besitz oder festen Wohnsitz gebunden sei. Jeder ist Bürger in einem guten Gemeinwesen, auch der Punk, auch der Penner, auch der Assi! Das meinte Erasmus. Das ist doch genau der Gedanke, den ich in diesem Blog oft und oft verfochten habe: Ein gutes Gemeinwesen zeichnet sich dadurch aus, dass jede und jeder sich in der Verantwortung weiß. O ihr Bürgerlichen mit euren gepflegten Vorgärten in Zehlendorf und Pankow, habt ihr die Botschaft des Erasmus vernommen?

Wenn nicht, dann lest in folgendem Buche nach:

Diarmaid MacCULLOCH: Die Reformation. 1490 – 1700. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 2008, hier: S. 152

Unser Foto zeigt die Veranstaltung: Doppelgedächtnis. Debatten für Europa. Mit Stéphane Courtois und Vaira Vike-Freiberga. Vom vergangenen Mittwoch. Veranstaltet von der Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa. Ihr seht: Das Thema der Spaltung des europäischen Hauses wird uns hier noch weiter beschäftigen! Ein Bericht über die Veranstaltung folgt!

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Juni 132008
 

„Die Vaterstadt, wie find ich sie wieder …?“ fragte einst Bert Brecht bei seiner Rückkehr in seine zerbombte Heimatstadt Augsburg. War sie zerbombt, als ich vergangenen Samstag zurückkehrte? Nein, im Gegenteil! Verändert, gewandelt – ja, aber immer noch dieselbe aufgeräumte, maßvolle, überschaubare und im Grunde wohlgeordnete Welt! Die Wiederbegegnungen mit den Klassenkameraden offenbarten eine über all die Jahrzehnte hinweg eher noch vergrößerte Nähe – vermutlich ist uns allen klar, dass keine Zeit so prägenden Einfluss auf den Menschen ausübt wie die ersten zwanzig Lebensjahre. Das hält zusammen, auch wenn die Wege sich stark entfernen.

In der Predigt des Gottesdienstes hob Prior Pater Theodor hervor, wie fundamental das Christentum durch die Kultur der Erinnerung geprägt sei. Ich fügte in Gedanken hinzu: Das gilt auch für Judentum und Islam. „Ich bin mein Erinnern“, so Augustinus. In der Kirche durfte ich auf der Geige zwei Soli spielen: Das berühmte Air von Bach aus der Orchestersuite Nr. 3 D-Dur, und zusammen mit Irina Potapenko Vivaldis „Gloria patri“, Willi Hafner spielte die Orgel.

Bezeichnend der folgende Dialog mit dem neben mir stehenden Kameraden beim Gruppenfoto im Seminarhof: „Und wer bist du?“, fragte ich den neben mir Stehenden, der mir freundlich die Hand angeboten hatte. … Es war der Schuldirektor – also ein Großer, ein Mann, der sechs Jahre vor mir das Abitur gemacht hatte! Er erlaubte mir gleich, beim Du zu bleiben.

Dieses „Du“ ist bezeichnend für den Wandel: All die kirchlichen und weltlichen Autoritäten und Amtsträger von heute sind weit weniger distanziert, als ich sie damals erlebte. Sie sind zum Anfassen, man kann sie sozusagen duzen. Ich halte das für einen gesellschaftlichen Wandel, der nicht nur dadurch erklärbar ist, dass ich selber mittlerweile in die Altersgruppe der „Erwachsenen“ eingerückt bin.

Im St.-Gallus-Kirchlein, das wir unter kundiger Führung von Pater Theodor besichtigten, beeindruckte mich die Geschichte des Rochus von Montpellier: Er kümmerte sich um die Aussätzigen und Pestkranken, wurde angesteckt und durch Narben und Blattern entstellt. Bei der Rückkehr in seine Vaterstadt Montpellier, nach langen Wanderjahren, erkannte ihn niemand. Man warf ihn unter dem Vorwurf der Spionage ins Gefängnis. „Das ist ein Migrant ohne Personalausweis und ein Spion, den brauchen wir hier nicht!“, sagten die Bürger von Montpellier. Er schmachtete 5 Jahre in der Haft. Dann starb er.

Erst nach seinem Tode erkannten sie an einem bezeichnenden kreuzförmigen Muttermal: „Das ist einer von uns!“

rochus07062008.jpg

Unser Bild zeigt die Statue des Rochus von Montpellier in der Sankt-Gallus-Kirche in Augsburg.

„Das ist einer von uns!“, „Das gibt es bei uns auch!“ Unter dieses Motto stelle ich auch meine Tischrede im Ratskeller von Augsburg. In uralten Gewölben erhebe ich meine Stimme. Wie der mythische Antaios verspürte ich neue Kräfte beim Betreten der alten Erde! Wer hat hier, in diesem Prachtbau von Elias Holl, vor mir schon alles gegessen und geredet? Ich spreche über Persien in der Antike und den Iran heute, zitiere aus den „Persern“ des Aischylos und dem Buch Ester der Bibel. Kulturen bedrohen einander mit wechselseitigen Vorwürfen und Unterstellungen: „Ihr wollt uns alle vernichten!“ So damals wie heute. Aber die attische Tragödie des Aischylos versetzt sich in das Leid der ehemaligen Feinde hinein. Durch Erschütterung, Schmerz, Trauer bewirkt Aischylos eine befreiende Erfahrung: Wir können miteinander sprechen, uns ineinander hineinversetzen. Griechen und Perser – so unterschiedlich sie sind – erfahren einander als die „nächsten Fremden“. Gesang, Tanz, religiöse Erfahrungen wie etwa die Tragödie verbinden die Feinde von ehedem. Wir brauchen diese Haltung auch heute. Es lohnt sich, diese uralten Texte wieder und wieder zu lesen. Mein Griechischlehrer von damals sitzt unter den Zuhörenden, kommt nachher auf mich zu und pflichtet mir bei. Einen Heiterkeitserfolg erziele ich, als ich ein paar griechische Verse austeile und in Gruppenarbeit übersetzen lasse. Die Auflösung wird für das nächste Jahrgangstreffen angemahnt. So sei es, gute Sache das Ganze, danke an die Organisatoren, in zehn Jahren sehen wir uns wieder!

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Mai 032008
 

subbotnik260420081.jpg schneiderhampellucas_097.jpgAm Freitag, 25. April, besuchte ich die zweite Auflage von „Doppelgedächtnis„, der verdienstvollen Vortragsreihe, die die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ anbietet. Diesmal versammelten wir uns im Deutschen Historischen Museum. Monika Flacke, die Gastgeberin des Hauses, warf in ihrer Begrüßung gleich einen Stein ins Wasser. Sie stellte fest: Es fehlt uns in Europa ein gemeinsames Narrativ. Wir können wohl einzelne Erzählstränge aufarbeiten und prächtig ausstellen, aber es gibt keinen gemeinsamen Faden, keinen gemeinsamen Gedächtnisraum.

Tibor Pichler von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften legte den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf einen ganz besonderen Raum europäischer Geschichte: das Habsburgerreich mit seinen Nachfolgestaaten. Es sei diesem Gebilde nicht gelungen, aufkommende nationale Bestrebungen und den Wunsch nach demokratischer Repräsentation auszubalancieren. TomᚠGarrigue Masaryk habe sich exemplarisch an der Aufgabe abgearbeitet, den Eigenwert eines neuen, aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns hervorgegangen, ethnisch begründeten Nationalstaates, der Tschechoslowakei, „im Dienste des Rechts“ zu verankern. Hierbei habe er im Spannungsfeld zwischen im eigentlichen Sinne „politischen“ und „holistisch-tribalistischen“ Grundauffassungen von Staatlichkeit gestanden.

Der Beitritt der zweiten slowakischen Republik zur Europäischen Union kam dabei fast einer zweiten Staatsgründung gleich.

Ich hätte gern mehr über die Gründe dafür erfahren, weshalb die Slowaken zwei Mal, im Jahr 1939 und im Jahr 1993, die Tschechoslowakei so eilig verließen. War die Staatskunst etwa eines Masaryk auf Dauer doch nicht ganz ausreichend, um die zahlreichen ethnisch grundierten Missverhältnisse und Misstöne zwischen Tschechen einerseits und Slowaken, Deutschen, Ungarn und anderen Minderheiten andererseits auszugleichen? Wie kam es, dass die beiden Staaten Slowakei und Ungarn sich ab 1939 bzw. 1940 als willfährige Bündnispartner des kriegführenden Deutschen Reiches etablierten? An solchen Detailfragen, die normalerweise ausgeblendet bleiben, würde sich Wert und sachlicher Erkenntnisgewinn derartiger verdienstvoller Vortragsveranstaltungen bemessen. Immer wieder schlägt – so meine ich – stattdessen bei den Völkern im östlichen Mitteleuropa ein Hang zur Viktimisierung durch, zu jener Haltung also, die konsequent und über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg für sich beansprucht, Opfer der beiden Großmächte Deutschland und Sowjetunion gewesen zu sein. Aber mindestens für die Tschechoslowakei gilt: sie war bis 1939 ein demokratischer Staat, dem es gleichwohl an Zustimmung bei wesentlichen Bevölkerungsgruppen fehlte. Warum das? Was können wir aus den giftigen Animositäten der ethnischen Gruppen lernen?

O ihr Ungarn, Slowaken, Ukrainer, Slowenen und ihr anderen Völker: erzählt uns mehr von euch, sagt, wie es war, gleitet nicht allzu schnell, allzu ungenau über die lächelnden Oberflächen der Begriffsbildungen hinweg, seid weniger Philosophen, seid mehr Berichterstatter, Erzähler, – wir in Deutschland, Frankreich oder Italien wissen viel zu wenig von euch! Schildert doch mal bitte eine einzige Situation, aus der wir lernen können, was in euch vorgeht, „wie ihr tickt“! Wer war Horthy, wer war Hlinka, wer war Hácha, wer war Tiso? Selbst Historiker in Deutschland wissen mit diesen und anderen Namen kaum etwas anzufangen. Kroaten, Serben, Ruthenen: Seid kein Buch mit sieben Siegeln, ihr seid doch genauso Kerneuropa wie wir! Zeigt uns Bilder, gebt uns Fäden in die Hand, mit denen wir euer Schicksal verstehen können!

Einen meisterhaften Querschnitt durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts lieferte Edward Lucas vom Economist ab. Profunde Detailkenntnisse, gepaart mit einem unerbittlichen Blick auf die zahlreichen Ungereimheiten, Heucheleien und Halbwahrheiten, mit denen die zahlreichen europäischen Völker sich ihre eigene Geschichte mehr oder minder selbstgefällig zurechtlegen. Lucas sparte niemanden aus, weder Großbritannien noch Russland, noch die baltischen Staaten. Und endlich, endlich, brach auch heftige Kritik am aktuellen Regierungshandeln durch: so etwa, wenn er Deutschlands mit den europäischen Partnern nicht abgestimmtes Vorgehen bei den Gasgeschäften mit Russland angriff. Der Machtwille des Kreml dürfe auf keinen Fall unterschätzt werden, und durch Uneinigkeit schwäche sich die Europäische Union gegenüber den Verhandlungsführern im Kreml auf empfindliche Weise.

Gesamteindruck: Anregende, wichtige Gedanken, denen kaum zu widersprechen war, bei denen ich aber gerne an vielen Stellen nachgehakt hätte. Die Fragestellung war jedoch zu umfassend, als dass sie wesentliche neue Einsichten hätte erbringen können. Daraus sollte man niemandem einen Vorwurf machen, am allerwenigsten den Vortragenden.

Entschiedenen Widerspruch muss ich dagegen einlegen, wenn wieder und wieder Russland als diejenige Macht dargestellt wird, vor der wir in Europa etwa Angst haben müssten. Russland – so meine langjährige Erfahrung – ist heute ein zutiefst europäisches Land, das mit vielen anderen Ländern Europas gemeinsame Züge trägt: darunter ein starkes nationales Sonder- und Sendungsbewusstsein, gekoppelt mit einer tiefgreifenden Überformung durch kirchliche, in diesem Falle ostkirchliche Legitimationsbestrebungen. Wir in der westlichen Hälfte Europas haben nicht den mindesten Grund, unsere Geschichte als etwas grundlegend Besseres auszugeben. Es gab Despotie, Unrechtsregime, Brutalitäten über mehr als 2 Jahrtausende hinweg in ganz Europa. Wir erleben nur derzeit, seit etwa 1945 bzw. 1990 einen historisch gesehen kurzen Moment, in dem Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenwürde ein größeres Gewicht haben – zu unserem Glück sind wir vereint, und diese Einheit haben wir nur durch tatkräftige Hilfe der USA und der Sowjetunion erringen können. Aber wir sollten ganz Europa „wohnlich, sturmfest, gastfreundlich“ ausgestalten. Dazu gehört, dass wir Russland, den Islam und die Türkei als Bestandteile unserer gesamteuropäischen Geschichte ernstnehmen und vom hohen Ross unserer Überlegenheit herunterkommen.

Unser heutiges erstes Bild zeigt drei junge Litauer, die wir einen Tag später, am 26. April, bei unserer Radttour durch Kreuzberg trafen. Sie hatten sich am Kreuzberger Ufer der Spreee, dem Gröbenufer, mitten in Berlin, zu einem tatkräftig-fröhlichen Subbotnik zusammengefunden. Sie räumten den Müll und Unrat weg, den andere über Wochen hinweg achtlos weggeschmissen hatten. Was für ein Bild: Diese jungen Balten, die sich zu einem Gastaufenthalt bei uns Berlin befinden, räumen unseren deutschen Dreck weg! Die Veröffentlichung des Bildes in unserem Blog erfolgt mit freundlicher Zustimmung der Abgebildeten.

Das zweite Bild zeigt Frau Schneider, stellvertretende Direktorin der Katholischen Akademie Berlin, den Blogger und  Edward Lukas.

10 Minuten nach der Begegnung mit den Litauern trafen wir übrigens an jenem Samstag einen Trupp etwa acht junger Deutscher, die sich nach einer durchgezechten und durchgekifften Nacht an der Brommybrücke häuslich niedergelassen hatten: es fehlte nicht an behaglichen Decken, weiterem Bölkstoff, Musik und würzigem Geruch afghanischen Krautes. Zur Begrüßung drehten sie erst einmal den CD-Player so laut auf, dass wir uns kaum mehr verständigen konnten. Die Botschaft der Deutschen an uns Kreuzberger Radwanderer war klar: „Wir sind hier zuhause, diese Brücke gehört uns, ihr seid hier nicht willkommen!“

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März 252008
 

Erneut stoße ich auf einige Aussagen zum Gegensatz zwischen dem alten Perserreich und dem „Rest der Welt“, aus europäischer Sicht also den griechischen Stadtstaaten. Gebräuchlich seit etwa 2.500 Jahren und bis in die neueste Zeit hinein weiterverwendet ist die Entgegensetzung: dort „orientalisches Großreich mit despotischer Willkürherrschaft“, hier „europäisch-westliches freies Gemeinwesen mit starker Bürgerbeteiligung“. Perikles, Aischylos, Herodot, das Buch Ester der Bibel – sie gehören zu den frühen Belegen für diese schroffe Behauptung eines unversöhnlichen West-Ost-Gegensatzes; die neueren Begründungen für Aktionen gegen die jeweiligen Machthaber im Mittleren Osten reihen sich nahtlos in diese Deutungskette ein. Dies gilt übrigens auch für die Protestaktionen gegen das „blutige Schah-Regime“, deren amtliche Niederprügelung ja am 2. Juni 1967 einer der Auslöser der Studentenbewegung wurden, aber es gilt auch für die jüngsten militärischen Unternehmungen gegen die Nachfolgerstaaten des antiken Persien, also insbesondere die heutigen Staaten Iran, Irak und Afghanistan. Aber auch gegenüber der heutigen Türkei werden immer wieder ähnliche Vorbehalte geäußert, die letztlich in einer Linie mit der Ablehnung der orientalischen Staatsformen überhaupt liegen. Der britische Historiker Anthony Pagden hat in seinem neuen Buch „Worlds at War: The 2,500-Year Struggle Between East and West“ ganz offenbar noch einmal dieses Deutungsmuster als Konstante der europäisch-asiatischen Geschichte aufgearbeitet und im wesentlichen als zutreffend verteidigt, jedenfalls laut Rezension im Economist, (March 22nd-28 2008, p.87-88):

„It is hardly a coincidence, he [i.e., Pagden] suggests, that ancient Athens found itself doing battle with the Persian tyranny of Xerxes, while the modern Western world faces a stand-off with the mullahs‘ Iran. In his view of history, these are simply related chapters in a single narrative: the contest between liberal and enlightened societies whose locus is Europe (or at least European culture) and different forms of Oriental theocracy and authoritarianism.

Even where the enlightened West did bad things, these were aberrations from a broadly virtuous trajectory; where the tyrannical east (from Darius to Osama bin Laden) committed sins, they were no better than anybody could expect—that is what Mr Pagden implies. He broadly accepts the argument of the al-Qaeda propagandists that today’s global jihad is a continuation of the civilisational stand-off which began in the early Middle Ages and which is doomed to rage on.“

Helfen solche Vereinfachungen, die immer noch das politische Handeln und das Selbstbild des Westens leiten, weiter? Eine Schwierigkeit liegt darin begründet, dass unser Geschichtsbild der orientalischen Großreiche fast ausnahmslos aus der Außensicht „vom Westen her“ gespeist ist. Wir besitzen schlechterdings keine ausgearbeitete Geschichtsschreibung aus dem Inneren des Perserreiches, ebensowenig wie aus dem alten Ägypten. Was nun das antike Persien angeht, das sich ja im 6. Jahrhundert v.d.Z. von der Donau bis an den Indus erstreckte, also das erste, von den Zeitgenossen viel bestaunte Weltreich überhaupt darstellte, so tut man ihm offensichtlich unrecht, wenn man es einzig und allein als despotische, ungeregelte Willkürherrschaft bezeichnet. Im Gegenteil: Unter Dareios (550-486 v.Chr.) wurde eine effiziente Verwaltung aufgebaut. Der Altertumswissenschaftler Philipp Meier schreibt:

„Galt Kyros als der Begründer, so war Dareios der Ordner des Reiches. Er hat das Riesenreich bis auf den letzten Weiler hin durchorganisiert. Das Ergebnis war eine Verwaltung, die selbst nach heutigen Maßstäben als vorbildlich gelten darf. Dareios war der fähigste Organisator der alten Welt. Von diesem Erbe zehrt der Iran noch heute.“

Weit schwerer als der Vorwurf mangelnder Organisation wiegt jedoch der ständige Vorwurf mangelnder Freiheit, den wir im Westen landauf landab hören und wiederholen. Die östlichen Großreiche – ob nun das antike Perserreich oder das spätere Osmanische Reich – werden aus dem Westen meist stereotyp als Bastionen der Unfreiheit, der gesetzlosen Willkür gesehen, in denen der Einzelne und die einzelne Volksgruppe nichts, der Wille des Mannes an der Spitze alles gelte. Doch auch hier sind erhebliche Korrekturen angebracht! Ich zitiere noch einmal Philipp Meier, der die bis heute allseits umjubelten Siege der Griechen über die Perser bei Salamis und Plataiai in den Jahren 480-479 v. Chr. wie folgt kommentiert:

„Ob das allerdings für die Griechen ein Glück war, mag bezweifelt werden. Denn während die Perser eine relativ liberale Herrschaft über ihre Provinzen ausübten, versuchte Athen, die übrigen hellenischen Territorien in beträchtlich radikalere Abhängigkeit zu zwingen, die binnen 100 Jahren zum totalen Bedeutungsverlust der Stadt führten. ‚Es steht fest, dass die Staatsgewalt der griechischen Stadtstaaten über ihre Bürger in gewisser Hinsicht die des [persischen] Großkönigs über seine Untertanen überstieg. So hatten beispielsweise die den persischen Monarchen unterworfenen ionischen Städte keine andere Verpflichtung, als einen mäßigen Tribut zu zahlen, der ihnen überdies häufig erlassen wurde, während sie sich im übrigen selbst regierten.‘ (Jouveuel, S. 172) Athen dagegen versuchte, die angestrebte, aber nie verwirklichte hellenische Einheit durch eine Tyrannis durchzusetzen, die die Wehrfähigkeit der Städte derart herabsetzte, dass sie Alexander von Makedonien mit nur wenig Gegenwehr in die Hände fielen.“

(zitiert aus: Philipp Meier: Das Perserreich. In: Aischylos. Die Perser. In neuer Übersetzung mit begleitenden Essays. Regensburg: Selbstverlag des Studententheaters 2005, S. 73-86, hier S. 78 und S. 86)

Was lernen wir daraus? Ich meine dreierlei: Zunächst, die festgeprägten Urteile des Westens über den angeblich so barbarischen, unfreien Osten haben sich seit 2500 Jahren als außerordentlich hartnäckig erwiesen. Sie entbehren zweitens jedoch oft einer sachlichen Begründung und lassen sich dann durch historische Forschung widerlegen oder zumindest einschränken. Als handlungsleitende Impulse für die Beziehungen zwischen den heute bestehenden Staaten sind sie schließlich nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Sie führen wie schon in der Vergangenheit so auch heute oft in die Irre. Das zeigt sich in dem weitgehend konzeptionslos anmutenden politischen Handeln der westlichen Staaten in den heutigen Staaten des Mittleren Ostens.

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Nachrichten aus einer befestigten Siedlung

 Gedächtniskultur, Hebraica, Religionen  Kommentare deaktiviert für Nachrichten aus einer befestigten Siedlung
Dez. 302007
 

Wir melden uns aus Hochzoll-Nord, einem gutbürgerlichen Wohnviertel Augsburgs. Hier besuchen wir meinen Vater und Angehörige. Soeben kehren wir von einem Spaziergang zurück. Da ich hier aufgewachsen bin, kann ich die Veränderungen über die Jahrzehnte hin gut feststellen. Wir waren 2 Stunden auf den Beinen und sind nur fünf Menschen begegnet. Von Kindern keine Spur mehr! Stattdessen nimmt die Größe und Wuchtigkeit der vor den Türen geparkten Automobile von Jahr zu Jahr zu: ich zähle mehrere Mercedes der S-Klasse, zahlreiche SUVs (also massige Geländewagen), zahlreiche Schilder: „Ausfahrt freihalten – auch gegenüber“. Ein anderes Schild: „Vorsicht – Hund beißt manchmal.“ Aha! Es gibt auch hier einen Anflug von Humor. Wo sind die Menschen zu den Autos, wo sind die Leute zu den beißenden Hunden? Wo sind die Kinder? Ab und zu huscht eine Gestalt vorbei, packt etwas ins Auto. Ich grüße die wenigen verbleibenden Menschen freundlich und ernte aus Blicken zunächst Erstaunen darüber, dass: da grüßt jemand!

Wanja bekommt einen Schreianfall, kaum dass wir die Kirche Heiliggeist erreicht haben. Er hat Hunger, möchte sofort nachhause! Eine ältere Frau, bei der mein Vater sich für seinen schreienden Enkel entschuldigen zu müssen glaubt, schimpft verständnisvoll: „Ja, bei uns im Haus gibt es auch SO ETWAS. DAS führt sich auch so auf. Zu unserer Zeit hat’s ja SO ETWAS nicht gegeben.“ Ich schweige. Die Hausbesitzer in Hochzoll-Nord staffieren ihre Häuser zunehmend mit festungsartigen Trutz- und Schutz-Elementen aus: hier ein Türmchen, da ein neuer, höherer Zaun, dort eine krönende Zinne – ein unglaubliches stilistisches Durcheinander mit lauter Anleihen an die Zeit, als die Kleinadligen sich noch mit Wimpeln, Kutschen, Karossen und Zugbrücken hervortaten! Das ganze Geld scheint heute in PS-starke Autos, Häuser und Warnschilder zu fließen.

An der Wand der Heiliggeist-Kirche hat jemand insgesamt vier gleichlautende Graffiti aufgesprüht: Das hebräische Tetragramm, also die Selbstbezeichnung Gottes aus dem Tanach. Das rabbinische Judentum vermeidet etwa seit dem 1. Jahrhundert, diese vier hebräischen Buchstaben auszusprechen und verwendet im Kult stattdessen Bezeichnungen wie Adonaj („mein Herr“) oder Ha-schem („der Name“).- Mein erstes Empfinden: Großartig – es gibt also noch Menschen mit Sinn für Unordnung. Diese Geste, die Botschaft dieser Graffiti bleibt aber für mich schwer zu deuten. Was mag wohl in dem Menschen vorgegangen sein, der in hebräischer Quadratschrift den hebräischen Namen G’TT auf die Wand sprühte? Dachte er etwa: „Gott der Juden und Christen und Muslime, erbarme dich dieses ganzen Viertels!“? Oder wollte er die Christen daran erinnern, dass sie nur ein Abkömmling, ein Reis vom Stamm des alten Israel sind? Ferner: Wird der Hausherr die Anordnung zur Löschung des „Namens“ geben? Er ist da ganz schön in Tsores geraten! (Tsores ist übrigens ein altes jiddisches Wort für Drangsal, Zwickmühle).

Aufnahme: Graffito an der Außenwand der Heilig-Geist-Kirche, Augsburg-Hochzoll, aufgenommen am 30.12.2007

Wir gehen mit Vater spazieren, der seinen Rollator mit Mühe durch die engen Bürgersteige steuert. Im Vergleich zu Berlin weist dieses Viertel noch sehr viele bauliche Barrieren auf. Kein gutes Pflaster für Gehbehinderte! Kinder und Jugendliche gibt es hier allem Anschein nach nicht mehr. Ich komme zu dem Schluss: Das ist eine mögliche Zukunft der deutschen Gesellschaft mit ganz wenigen Kindern, vielen Straßen, Autos und Verbotsschildern. Wollen wir das?

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