Unter dem Zwange der Verhältnisse: Der Streit um die Hakenkreuzfahne im Rathaus Berchtesgaden

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Mai 012015
 

Aus dem Berchtesgadener Gemeindebeschlußbuch zitieren wir ungekürzt und unkommentiert eine unerhörte Begebenheit, bei der der Großvater des hier Schreibenden eine entscheidende Rolle spielt:

Konstatierung. – Am 9. März 1933 abends 7 Uhr erschienen im Arbeitszimmer des noch im Rathaus anwesenden 1. Bürgermeisters Seiberl (BVP = Bayerische Volkspartei) die Gemeinderäte B. und S., begleitet von etwa 50 teilweise bewaffneten SA- und SS-Leuten. Gemeinderat B. eröffnete dem 1. Bürgermeister, daß er von der Gauleitung der N.S.D.A.P. den Befehl erhalten habe, auf dem Rathaus Berchtesgaden die Hakenkreuzfahne zu hissen, wenn nötig, auch unter Anwendung brutaler Gewalt. Auf dem Bezirksamt sei ebenfalls soeben die Fahne gehißt worden. Darauf entgegnete Bürgermeister S., daß zunächst um unnötiges Blutvergießen und gefährliche Weiterungen zu vermeiden, er der Gewalt weiche und die Einwilligung gebe die Fahne auszuhängen, daß er aber die endgültige Entscheidung dem Gemeinderat vorbehalten müsse, den er sofort zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen werde. In der dann auf 8 Uhr abends einberufenen Sitzung waren mit Ausnahme des entschuldigten Gemeinderats A. sämtliche Gemeinderäte und die beiden Bürgermeister anwesend. Nach dem Bericht des 1. Bürgermeisters und einer kurzen Beratung, zunächst vertraulicher, dann in öffentlicher Sitzung, wurde einstimmig folgender Beschluß gefaßt: »Unter dem Zwange der Verhältnisse erklärt sich der Gemeinderat damit einverstanden, daß die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus gehißt wird, jedoch unter der Bedingung, daß gleichzeitig auch die weiß-blaue und die schwarz-weiß-rote Fahnen aufgehängt werden.«

Darauf zogen die SA- und SS-Leute, die das Rathaus besetzt hatten, wieder ab. Der Gemeinderatsbeschluß wurde sofort durchgeführt.

Zitiert nach:
Erinnerung an 1933. Von Dr. Manfred Feulner. In: „Marktbote“. Beilage des „Berchtesgadener Anzeigers“, Donnerstag 2. Mai 1996

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Apr. 172015
 

Die Benennung und Bewertung geschichtlicher Ereignisse wird immer wieder zum Gegenstand offizieller Sprachregelungen, ja mitunter werden falsche – oder als falsch deklarierte – Meinungen sogar strafrechtlich verboten.

Plato hat deswegen Dichter – mit der alleinigen Ausnahme Homers – völlig aus seinem Idealstaat verbannt, weil sie ja soviel Lügen auftischten und lauter Trugbilder erzählten.

Soll man Lügen und Leugnen, Dichten und Phantasieren strafrechtlich verbieten? Die französische Nationalversammlung hat dies mit Bezug auf Armenien getan – wobei bezeichnenderweise nicht die Leugnung von im französischen Namen begangenen einzigartigen Massakern (Indochina und Algerien im 20. Jahrhundert, Afrika und Europa in Napoleonischer Zeit) unter Strafe gestellt wird, sondern die Leugnung des armenischen Genozids.

Belgien hat das Leugnen der auch von Belgiern begangenen, ungeheuer grausamen Kolonialgreuel in Belgisch-Kongo nicht unter Strafe gestellt, wohl aber das Leugnen der ungeheuer grausamen von den Deutschen begangenen Greuel usw. usw. Jeder Staat scheint diejenige Lüge unter Strafe zu stellen, die ihm aus Opportunitätsgründen gerade in den Kram passt.

Ich persönlich bin freilich gegen derartige Wahrheitsfeststellungen durch die Politik. Beispielsweise wird immer wieder gesagt: „Alle Rassisten sind Verbrecher. Denn Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Dann müsste man aber auch Sigmund Freud als Verbrecher bezeichnen, denn wie zahlreiche frühere andere bedeutende Wissenschaftler und bedeutende Philosophen Europas (Kant und Voltaire etwa) hat er sich klar rassistisch geäußert, in dem Sinne nämlich, dass er von höher und niedriger entwickelten Menschenrassen sprach (z.B. in „Das Unbehagen in der Kultur“).

„Wir Deutschen haben zwei Mal – im Ersten und im Zweiten Weltkrieg – die ganze Welt in den Abgrund gezogen. Und wir Deutschen tragen eine erhebliche Mitschuld auch an dem Armenien-Genozid, wir Deutschen müssen endlich unsere Verantwortung und unsere Schuld auch am Genozid an den Armeniern öffentlich eingestehen.“

Diese Bereitschaft, auch für weit zurückliegende Verbrechen anderer die ganz persönliche Schuld zu übernehmen und glaubwürdige Reuegefühle zu manifestieren, finden wir besonders gut bei dem Dichter Paul Gerhardt ausgeprägt, dem in Lübben ein Standbild gewidmet ist. Er dichtet:

„Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen.“
„Ich, ich hab es verschuldet,
Was du getragen hast.“

„Deutschland trägt, wir Deutschen alle tragen unermessliche Schuld.“ Derartige Sätze kann man immer wieder von hochrangigen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und des Deutschen Bundestages hören.

Man kann das so sehen. Man darf durchaus die These vertreten, das „wir Deutschen“ die Alleinschuld am Ersten und am Zweiten Weltkrieg und auch die Schuld oder mindetens Teilschuld am Armenien-Genozid trügen. Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer hat sich während seiner Amtszeit etwa in diesem Sinne immer wieder hervorgetan.

Man kann es aber auch anders sehen – wie etwa Historiker, die von „Beiträgen aller Großmächte zur Kriegsauslösung“, von „Kausalketten“, von „Interessenkollisionen der Großmächte“ usw. sprechen.

Und es ist wichtig, dass den Politiker-Meinungen über Vergangenes auch widersprochen werden darf. Historiker haben sehr oft eine andere Meinung zur Geschichte als Politiker, Zeitzeugen vertreten sehr oft andere Ansichten als Schriftsteller, Politiker und Historiker. Und das ist auch gut so.

Um es kurz zu machen: Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik ist Teil des politischen Kräftespiels, unterliegt dem Machtkalkül und dem Machtbegehr. Ihr oberstes Ziel ist nicht die Erkenntnis der Wahrheit.

Wir brauchen gerade deshalb kein normiertes, kein einheitliches staatliches Geschichtsbild. Jede Gesellschaft soll und wird unaufhörlich im freien Gegeneinander der Meinungen neue Zugänge zur eigenen Vergangenheit finden. Was z.B. früher – in Polen, der Ukraine oder der Sowjetunion – unter Strafe gestellt wurde – z.B. das Aussprechen der Wahrheit über die Massaker von Katyn, das Aussprechen der Wahrheit über die Lager in Kolyma oder Magadan – kann morgen schon erlaubt sein.

Ich meine: Die politische Macht, das Parlament, die Regierung dürfen und sollen nicht festlegen, was eine gesetzlich erlaubte oder eine gesetzlich verbotene Meinung über geschichtliche Ereignisse ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Nicht einmal das bewusste oder unbewusste Lügen über geschichtliche Wahrheiten als solches darf verboten werden.

Wir brauchen kein „Ministerium für Wahrheit“, wie das in George Orwells Roman „1984“ an die Wand gemalt wird.

Wohlgemerkt: Völkermorde, Shoaim, wie man auf Hebräisch sagt, auch der armenische Völkermord sollen durchaus einen Platz im Gedächtnis der Welt haben, wie dies Reinhard Veser heute ja sehr schön, sehr abgewogen auf S. 2 der FAZ formuliert. Der Toten soll gedacht werden, über Tote soll getrauert werden. Aber es kann in einer echten Demokratie nicht Aufgabe der Regierung oder des Parlamentes sein, der Bevölkerung oder gar einer anderen Regierung ein endgültiges Geschichtsbild vorzuschreiben.

Völkermord an Armeniern: Die Bundesregierung muss klare Worte sprechen – Politik – Tagesspiegel.

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Apr. 092015
 

Die Antwort auf diese Frage wird Hinz und Kunz leichtfallen! Selbstverständlich Deutschland!
Das abrufbare Schulwissen im Fach Geschichte dürfen wir zwanglos so wiedergeben:

„Das Deutsche Reich begann am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen den 2. Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg endete am 8. Mai 1945 mit der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation.“

So wird es heute wohl in den allermeisten Ländern überall in der Welt (außer in Russland) gelehrt.

Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg entfesselt; das ist in der Rückschau unumstritten; siehe hierzu etwa:

„Von den größeren Staaten Europas war keiner den USA ebenbürtig. Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, war besiegt und wurde von den Siegermächten geteilt. Großbritannien war eine Siegermacht, aber durch den Krieg materiell so geschwächt, dass es 1945 fraglich war, wie lange es sein überseeisches Kolonialreich noch würde behaupten können.“

Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, C.H.Beck, München 2014, digitale Ausgabe, Pos. 183, Fettdruck durch dieses Blog

Abweichend äußert sich hingegen der heute an der Universität Trier lehrende Neuzeithistoriker Christan Jansen. Er bezeichnet Deutschland und Italien als „die beiden Verursacher“ des Zweiten Weltkriegs:

Von den beiden Verursachern des Zweiten Weltkriegs erhielt Italien bereits im Februar 1947 – von geringen Einschränkungen abgesehen – die Souveränität zurück, die Bundesrepublik erst 1990. Allerdings empfanden die Italiener den Friedensvertrag überwiegend als >>Diktat<< und >>Schmach<<„.

Christian Jansen, Italien seit 1945, Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2007, S. 24, Hervorhebung durch dieses Blog

Wiederum abweichend äußert sich der britische, zuletzt an der University of London lehrende Neuzeithistoriker Norman Davies; er weist darauf hin, dass ein wesentlicher Bestandteil des Zweiten Weltkriegs, nämlich der japanisch-chinesische Kriegsschauplatz, bereits 1931 eröffnet worden sei:

„In any number of European history books, 1939 is the year when ‚the world went again to war‘, or words to that effect. In all chronologies except those once published in the USSR, it marks the ‚outbreak of the Second World War‘. This only proves how self-centered Europeans can be. War had been on the march in the world for eight years past. The Japanese had invaded Manchuria in 1931, and had been warring in central China since 1937.“

Norman Davies, Europe. A History. Pimlico, reprinted with corrections London 1997, S. 991, Hervorhebung durch dieses Blog

Und wiederum ein neues Licht auf die Verursachungskette, die zum Zweiten Weltkrieg führte, wirft der bereits mehrfach zitierte Heinrich August Winkler; er behauptet nämlich, die Sowjetunion habe einen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs geleistet:

Im Hitler-Stalin-Pakt hatten die beiden Diktatoren die Aufteilung Mitteleuropas in ihre Einflussbereiche besiegelt. Winkler, der aus seiner Kritik der russischen Politik gegenüber der Ukraine nie einen Hehl gemacht hat, wirft Putin vor, er rechtfertige indirekt die Annektion des damaligen Ostpolens und des Baltikums als „Gebot der sowjetischen Realpolitik“ – damit aber auch „den sowjetischen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Internet-Ausgabe vom 04.04.2015

Was oder wem sollen wir historischen Laien nun glauben, gerade wir Deutschen, wir „Nachkommen der Täter“, wie es so schön immer heißt, wir hier in Deutschland! Wir wissen doch, von wo die Zerstörung der ganzen Welt ausging! Wir sind doch am Zweiten Weltkrieg mit all seinen Schrecknissen und überhaupt an dem allen schuld, das wird man doch nicht ernsthaft bestreiten können! Das eint doch auch alle anderen Länder wie etwa Griechenland und Russland, dass wir Deutschen und nur wir Deutschen alle anderen Länder ins Verderben gezogen haben. Das haben Präsident Putin und Präsident Tsipras doch erst gestern wieder hervorgehoben: „Griechenland und Russland haben mehr als alle anderen mit ihrem Blut für den Kampf gegen den Faschismus bezahlt … Unsere Völker haben brüderliche Beziehungen geschmiedet, weil sie in kritischen Zeiten einen gemeinsamen Kampf geführt haben“, so wird Tsipras heute in der FAZ auf S. 2 zitiert.

Der heroische, letztlich siegreiche Kampf gegen den deutschen Faschismus und gegen Deutschland hält seit dem 8. Mai 1945 bis zum heutigen Tage – und heute mehr denn je – die europäischen Völker zusammen. Der Antifaschismus ist mehr denn je ein starkes Band!

Oder ist es etwa nicht so? Diesen Konsens darf man doch nicht in Frage stellen! Was machen denn die Historiker da?

Wir enthalten uns des letzten Urteils! Ich meine jedoch: eine gehörige Portion Skepsis gegenüber den heutigen Antifaschisten ist angebracht, insbesondere dann, wenn man immer wieder sieht, wie schnell in den Jahren 1943-1949 ein und dieselbe Person erst jahrelang fascista war und dann über Nacht antifascista wurde. Erst unterstützten sie – bis 1943 – Mussolini und Hitler, dann unterstützten dieselben Leute Stalin, Ho Tschi Minh und Chruschtschow.

Und die Sowjetunion unterstützte ab August 1939 bis zum 21. Juni 1941 das nationalsozialistische Deutschland militärisch und wirtschaftlich. Bis zum 21.06.1941 waren das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion darüber hinaus enge militärische Bündnispartner, dafür gibt es viele Zeugnisse in Wort, Bild und Ton. Das wird leider sehr oft unterschlagen.

Und das alles zu Zeiten, als der GULAG längst bekannt war, als die grauenhaften „Säuberungen“ der Tschekisten auch im Westen öffentlich genannt wurden.

Es bleibt erstaunlich: Drei anerkannte, habilitierte, an Universitäten lehrende Professoren für Neuzeitgeschichte setzen vier einander widersprechende Meinungen zur Auslösung des Zweiten Weltkrieges in die Welt. Nur eine Sicht kann doch die richtige sein, oder? Irgendwann muss doch die Wahrheit endgültig ermittelt sein, oder täuschen wir uns?

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März 202015
 

Ein zunehmend operettenhaftes Gepräge mit zweifelhaftem Unterhaltungswert bietet nicht ganz kostenlos die derzeitige europäische Bühne. Zum Glück wird meist nur mit Worten gefochten und nur ausnahmsweise mit erhobenem Zeigefinger oder auch einmal mit erhobenem Mittelfinger.

Aber im Ernst muss die Frage erlaubt sein: Sollte man eine italienisch-deutsch-österreichisch-bulgarisch-russisch-englisch-griechische-äthiopische Stiftung Erinnern – Aufarbeiten – Versöhnen begründen?

Ich denke – ja!

Die Tatsache, dass der griechische Ministerpräsident Tsipras erneut zum passendsten Augenblick eine Entschädigungsdiskussion der unsäglichen in Griechenland begangenen deutschen Verbrechen unter monetären Aspekten (wie in der EU üblich) aufgebracht hat, stößt auf lebhaftes Interesse bei einigen deutschen Politikern. Deutschland solle und müsse endlich zu seiner Verantwortung stehen, wird immer wieder von deutschen Politikern gefordert.

Gut, dann sei dem so! Aber die Italiener, die Bulgaren, die Österreicher, die Briten, also die anderen Besatzermächte Griechenlands in den Jahren 1941-49, müssen unbedingt bei der Diskussion dabei sein! Ich denke, wir Deutschen müssen uns daran gewöhnen, dass nicht alle Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan von „uns Deutschen“ begangen worden sind.

Deutsche, Italiener, Russen, Bulgaren, Griechen, wir alle fragen immer nur nach den deutschen Verbrechen. Die Verbrechen der anderen werden vergessen, verdrängt, unter den Teppich gekehrt. Am meisten verdrängt werden die Massenverbrechen, die die europäischen Mächte gegen Nicht-Europäer, beispielsweise gegenüber Afrikanern begangen haben.

Erinnern wir uns: Die Italiener haben ab 1935 ganz entscheidend den gesamten Mittelmeerraum einschließlich Griechenlands nach eigenem Gusto umgestaltet. Auf dem gesamten Balkan – dem damaligen Jugoslawien, Albanien und Griechenland – waren es die Italiener, die zuerst die Umvolkungsprogramme, also die Zwangsassimilation der als minderwertig erachteten slawischen Völkerschaften vorantrieben – nicht die Deutschen.

Unter dem Leitwort Mare Nostro erhoben die Italiener Hegemonialansprüche über das gesamte östliche Mittelmeer. Die EU hat – nebenbei erwähnt – vom faschistischen Italien die Bezeichnung Mare Nostrum für ihre eigenen Abwehrbemühungen gegenüber andringenden Völkern übernommen: ein weiterer Beweis für die erstaunliche, ohrenbetäubende historische Blindheit, mit der die EU-Politik geschlagen zu sein scheint.

Und ab 1935 hat Italien mit militärischer Gewalt an diesem Ziel der italienischen Vorherrschaft auf dem Balkan und im gesamten östlichen Mittelmeehr gearbeitet.

Die italienischen Angriffskriege gegen Abessinien bzw. Äthiopien (1935), Albanien (Karfreitag 1939) und Griechenland (1940) bereiteten ganz entscheidend die Bühne für den 2. Weltkrieg vor.

Die Italiener haben übrigens auch als erste europäische Macht Giftgas flächendeckend gegen eine feindliche Zivilbevölkerung eingesetzt.

Mit größter Bestürzung las ich heute in italienischer Sprache die Rede, mit der der äthiopische Kaiser Haile Selassie vor dem Völkerbund am 30. Juni 1936 in amharischer Sprache den mutmaßlich ersten industriell betriebenen, eliminatorischen Massenmord der europäisch-afrikanischen Geschichte, die Ausmerzung von Mensch, Tier und Natur durch Giftgas anprangerte. Lest selbst:

http://www.polyarchy.org/basta/documenti/selassie.1936.html

Sugli aeroplani vennero installati degli irroratori, che potessero spargere su vasti territori una fine e mortale pioggia. Stormi di nove, quindici, diciotto aeroplani si susseguivano in modo che la nebbia che usciva da essi formasse un lenzuolo continuo. Fu così che, dalla fine del gennaio 1936, soldati, donne, bambini, armenti, fiumi, laghi e campi furono irrorati di questa mortale pioggia. Al fine di sterminare sistematicamente tutte le creature viventi, per avere la completa sicurezza di avvelenare le acque ed i pascoli, il Comando italiano fece passare i suoi aerei più e più volte. Questo fu il principale metodo di guerra.

Ma la vera raffinatezza nella barbarie consisté nel portare la devastazione ed il terrore nelle parti più densamente popolate del territorio, nei punti più lontani dalle località di combattimento. Il fine era quello di scatenare il terrore e la morte su una gran parte del territorio abissino.

Zurück zum Gedanken von Erinnern – Aufarbeiten – Versöhnen!

Die Erinnerung an die im eigenen Namen begangenen Verbrechen bleibt eine Daueraufgabe aller europäischen Gesellschaften. Die Österreicher sollten sich ruhig ihrer Verbrechen erinnern, die Russen der ihrigen, die Italiener der ihrigen. Gern darf man darüber hinaus auch mit dem Zeigefinger auf die Deutschen und auf die deutschen Verbrechen zeigen, warum denn nicht? Wenn’s der eigenen Gewissensentlastung dient. Das machen doch alle so. Alle – Italiener, Deutsche, Russen, Österreicher, Belgier – zeigen wahnsinnig gern auf die deutschen Verbrechen. Es tut offenkundig so gut. Es baut offenbar das eigene Selbstbewusstsein wieder auf.

Ich meine jedoch: Sofern das Erinnern an all die unsäglichen deutschen Verbrechen nicht zum leeren Schul- und Schuldritual verkommen soll (was zweifellos in Teilen bereits der Fall ist), müssen auch alle anderen Völker zu ihren eigenen Verbrechen und Verbrechern stehen. Und das ist bis heute leider nicht im mindesten der Fall. Italien ist ein gutes, wenn auch keineswegs das einzige Beispiel dafür.

Der flächendeckende Massenmord der italienischen Luftwaffe an der äthiopischen Zivilbevölkerung im Abessinienkrieg, der erste systematische Giftgaseinsatz gegen Zivilisten in der europäischen Geschichte, für den das traurige Verdienst den Italienern zukommt, steht zweifellos zusammen mit dem 1940 entfesselten grundlosen Angriffskrieg Italiens gegen Griechenland im Lastenheft der „Italiani brava gente“.

Die italienischen Konzentrationslager in Dalmatien, die Zwangsitalianisierung der slawischen Völker, die erpresserische Demütigung des griechischen Volkes durch den Duce und seine Lakaien gehören zur vergessenen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts – und zur vergessenen Vorgeschichte des 2. Weltkrieges.

Das geradezu manische, das alleinige Starren der Europäer auf deutsche Verbrechen, in diesem Fall also das völlige Vergessen der Verbrechen der beiden anderen Besatzungsmächte Italien und Bulgarien in Griechenland, sowie auch das Wegdrücken der Verheerungen des innergriechischen Bürgerkrieges, der erst 1949 endete, lässt weiterhin wenig Gutes für ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein erwarten.

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Juni 072014
 

Am 15.2.1830 schreibt Goethe an Zelter, „daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewusst.“

Lethe – der wohltuende Strom des Vergessens. Goethe erinnert sich also wohlweislich der Leiden kaum. Welcher Leiden? Der eigenen, erlittenen, oder derjenigen, die er anderen zufügte? Dieses Kaum-Erinnern – eine hohe Gabe Gottes! Was für ein arges, kantiges, anstößiges Wort hat uns der Alte da wieder einmal hinterlassen! Wo bleibt die Gerechtigkeit, wo bleibt die Buße, wo bleibt die aktive Umkehr? Ist das nicht krank, was Goethe da sagt?

Und doch wird man ganz im Gegenteil krank, wenn man sich immer nur auf die Erinnerung vergangenen Leidens stützt und stürzt. Wenn man den Blick nicht nach oben, nach vorne  erhebt. Ein Extremfall ist es dann, wenn man eigene Leiden, eigene Schuld  aus der Vergangenheit festhält, festklammert und sie als solche dann an Kinder und Enkel weitergibt. Die Vergangenheit droht dann die Gegenwart, mehr noch die Zukunft zu ersticken.

Ein Beispiel für diese durch und durch rückwärtsgewandte, diese in der Vergangenheit erstarrte  Haltung ist der Prediger Johannes Chrysostomos, der nach einem Verbrechen – er hatte eine Jungfrau nach dem Liebeslager einen Felsen hinabgestürzt – gelobte, nie mehr den Blick nach oben zu erheben, ehe ihm eine Jungfrau nicht vergeben und ihn erlösen würde, und der statt dessen auf allen vieren jahrelang durch Gebüsch und Unterholz kroch. Eine Legende nur, gewiss. Lukas Cranach der Ältere hat sie gemalt, man sieht Johannes als mikroskopisch winziges Figürchen neben der strahlend selbstbewussten jungen, modernen Frau. Das meisterliche Gemälde des älteren Cranach hängt unter dem Titel „Junge Mutter mit Kind“  in der Wartburg. Ich bestaunte es am 1. Mai dieses Jahres.

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Mai 212014
 

„Jeder der bei uns in der Ukraine die Wahrheit über die Vergangenheit sagte, wurde nach Magadan geschickt. Die meisten kamen nicht wieder. Diejenigen, die wiederkamen, erzählten wohlweislich nichts.“ So erzählte es mir persönlich eine Ukrainerin, mit der ich vor wenigen Wochen über die aktuelle Lage in der Ukraine sprach. Diese Worte der Ukrainerin fallen mir soeben wieder beim Lesen des Buches „Stalin’s children“ ein, das auf Deutsch unter dem Titel „Winterkinder“ erschienen ist. Das Geschehen – also die authentische Lebensgeschichte von drei Generationen einer russisch-englischen Familie, erzählt von einem Sohn dieser Familie – spielt überwiegend in der Ukraine. Das Buch bringt alle die Städtenamen, von denen  jetzt auch wieder die Tagespresse voll ist: Simferopol, Charkow/Charkiw, Odessa, Donezk … und viele mehr.

Stalin’s Children ist ein erzählendes, biographisches, mehrere Generationen umspannendes  Buch, das – wenn man so will – den historischen Hintergrund für die jetzige weltpolitische Auseinandersetzung liefert. Die Ukraine war ein entscheidendes Schlachtfeld, vielleicht das entscheidende Schlachtfeld  der eliminatorischen Vernichtungsstrategie der sowjetischen Kommunisten gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Feinden, den „Kulaken“, den „Volksfeinden“, den „Schädlingen“, den Trotzkisten, den „Antisowjets“,  dem „Ungeziefer“. Insofern ist die Ukraine das mitteleuropäische Land par excellence, es liegt genau an der Nahtstelle zwischen Osteuropa und Westeuropa. Ich wage zu behaupten: Es IST die Nahtstelle. Es sind die „Bloodlands“, wie sie Timothy Snyder nennt, in denen sich die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte ereignet haben.

Eine zweistellige Millionenzahl an Todesopfern brachten diese eliminatorischen, systematisch geplanten und vollzogenen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten (und danach der Nationalsozialisten) hervor.

Und warum ist davon – von diesem „Holodomor“, der doch wesentlich mehr Opfer forderte, mindestens so eliminatorisch war wie der deutlich später einsetzende „Holocaust“, so wenig bekannt bei uns in der westlichen Hälfte Europas, während der Holocaust, der danach ebenfalls schwerpunktmäßig in der Ukraine und in Polen stattfand, in aller Munde ist?

Die Antwort ist zweifach:

1. Es gab fast keine Überlebenden bei den Auslöschungsaktionen der Sowjets in der Ukraine. Während der Terror der Nationalsozialisten sich im wesentlichen auf die Jahre 1933-1945 beschränkte, erstreckte sich der nicht minder brutale, nicht minder eliminatorische  Terror der Kommunisten, der sich davor, danach und gleichzeitig schwerpunktmäßig ebenfalls im Gebiet der Ukraine entfaltete, über mehr als 3 Jahrzehnte. Lange genug, um die wenigen überlebenden Augenzeugen zum Schweigen zu bringen, lange genug, um eine Mauer des Schweigens um die über viele Jahre sich hinziehenden Massenmorde zu errichten.

2. In der Sowjetunion galt ebenso wie in der DDR  mindestens bis 1956 ein absolutes Frageverbot, ein absolutes Schweigegebot über die eliminatorischen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten. Nur die oberen Kader der Kommunistischen Partei, also etwa Stalin oder Nikita Chruschtschow, hatten ein einigermaßen vollständiges Bild vom Umfang der radikalen Vernichtung, der Dezimierung und Auslöschung ganzer Völkerschaften, ganzer Klassen des Volkes durch die Kommunisten in den Jahren 1917-1953. Das Volk, die breiten Massen wurden belogen und betrogen nach Strich und Faden. Hätten nun die Kommunisten das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenverbrechen enthüllen und aufarbeiten können, so wie ja ab 1945 nach und nach das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt worden ist und zu Recht auch weiter aufgedeckt wird?

Nein, sie wollten und konnten es nicht, denn die Offenlegung des ganzen Umfanges der kommunistischen Massenverbrechen in den Jahren 1917-1956  hätte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten des Warschauer Pakts sofort jede Legitimität entzogen. Der Kommunismus wäre als Ideologie, als Lehre und als Praxis bereits kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nicht erst 1989/1990 zusammengebrochen, so wie der Nationalsozialismus im Jahr 1945 nach dem verlorenen Krieg nicht zuletzt durch die Offenlegung seines durch und durch verbrecherischen Charakters zusammengebrochen ist.  Die Kommunisten hätten bei Öffnung der Archive und bei echter Forschungs- und Redefreiheit trotz des gewonnenen Krieges bereits 1956 die Macht verloren, so wie die Nationalsozialisten 1945 die Macht verloren.  Bereits 1956, nicht erst 1989/1990 wäre die Mauer zwischen Ost und West gefallen.

Nicht zuletzt wäre es bei einer echten Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR zu zahlreichen gespaltenen Loyalitäten, zum Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften  gekommen. Denn selbstverständlich sind nicht alle gläubigen Kommunisten „böse“. Im Gegenteil! Viele waren auch von lauteren Motiven beseelt. Selbst etliche Massenmörder glaubten wohl, die bis dahin nahezu singulären eliminatorischen Massenverbrechen in der Ukraine im Dienste der Menschheit vollbringen zu müssen.

If only there were evil people somewhere insidiuously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good from evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of their own heart?

Stalin’s children / Winterkinder – ein lesenswertes Buch. Ihm entnehmen wir dieses obenstehende Zitat. Es hinterlässt mich zutiefst betroffen.

Owen Matthews: Stalin’s Children. Three Generations of Love, War, and Survival. Bloomsbury, London / Berlin / New York 2008. Elektronische Ausgabe, hier Pos. 812 von 4397
Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, hier S. 76

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„Was ist eigentlich eine Itsche … ein Schwerbelastungskörper?“

 Itsche, Schöneberg, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für „Was ist eigentlich eine Itsche … ein Schwerbelastungskörper?“
Mai 172014
 

2014-04-13 14.06.25

„Was ist eigentlich eine Itsche?“

Itsche ist ein altes deutsches Wort für Kröte, verwendet von den Brüdern Grimm in dem Märchen „Die drei Federn“.

„Was ist eigentlich ein Schwerbelastungskörper?“

Diese Fragen fragte eine aufmerksame Leserin dieses Blogs aus dem niederbayrischen Raum zu unserem Beitrag vom 15.04.2014.

Ja mei, woast, der Schwerbelastungskörper war ein gigantisches Unterfangen der Bazis, vielmehr der Nazis für die Welthauptstadt Germania. Sie wollten an der heutigen General-Pape-Straße in Berlin-Schöneberg testen, wie stark die Erde belastet werden kann und was die Erde an germanischer Weltherrschaft ertragen kann. Also wuchteten sie einen gewaltigen Betonklotz hin. Der Klotz steht heute noch, man kann ihm sogar auf das Dach steigen. Testergebnis: Die Bazis sind verschwunden, und Germania wird keine Welthauptstadt. Ja, man kann buchstäblich den Bazis aufs Dach steigen. Und das ist auch gut so! Aber die Erde kann viel tragen. Mehr als die Bazis sich vorstellen konnten.

Schaugst amoi do! Drunt’n hockt die dicke Itsche der Vergangenheit.

Und des Buberl – dös is da Ivan  – der steigt den Bazis aufs Dach:

2014-04-13 13.41.11

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Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges

 Krieg und Frieden, Russisches, Staatlichkeit, Ukraine, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges
Mai 032014
 

Einer der wenigen Kommentare, die mir von echter Sach-, Landes- und Menschenkenntnis getragen scheinen: Der vorsichtig abwägende Leserbrief von Ernst-Jörg von Studnitz, dem ehem. deutschen Botschafter in Moskau, in der FAZ von gestern.  Studnitz hat erfasst, dass eines der wesentlichen Probleme der Ukraine der weit fortgeschrittene Zerfall der ukrainischen Staatlichkeit ist: es fehlt an Ansätzen funktionierender Staatlichkeit.

Die Staatsmacht der Ukraine ist zur Zeit weitgehend delegitimiert. Seit vielen Jahrhunderten treten die russischen Autokraten bei solcher Gelegenheit mit dem Anspruch an, das Recht auch außerhalb ihres Machtbereiches zu „setzen“, Rechtssicherheit herzustellen. Sie haben jahrhundertelang ihr Reich gewaltsam durch widerrechtliche Eroberung, Krieg und Unterwerfung der Nachbarvölker ausgedehnt, bis zum heutigen Tag ist Russland das einzige verbliebene kolonial geprägte Großreich.

Nicht der Nationalstaatsgedanke, sondern der in der Person des Autokrators (des Zaren, des Führers) verkörperte Reichsgedanke steht bei der russischen Staatlichkeit und der russischen Autorität im Vordergrund.  Das war seit dem 16. Jahrhundert so und ist bis heute geblieben – wobei die UDSSR voll in der Kontinuität steht.

Von Studnitz, Marina Weisband, Horst Teltschik – die Kommentare dieser drei – nicht  in der aktiven Politik stehenden – Persönlichkeiten zur aktuellen Lage sollten die aktiven Politiker meines Erachtens zur Kenntnis nehmen.

Quellen:

Ernst-Jörg von Studnitz: „Runde Tische für die Ukraine“, Leserbrief, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 2014, S.12

Sendung „Russisches Roulette“, Maybrit Illner“, 24.04.2014, ZDF

http://www.zdf.de/maybrit-illner/ukraine-krise-kann-man-putin-trauen-u.a.-mit-matthias-platzeck-marina-weisband-harald-kujat-32885420.html

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Brauchen wir einen Stolypin-Vergleich?

 1917, Europäisches Lesebuch, Russisches, Sozialismus, Vergangenheitsbewältigung, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Brauchen wir einen Stolypin-Vergleich?
Apr. 042014
 

2014-04-04 08.53.08

Spät bei meiner Rückkehr ins Hotel Wedina in Hamburg wartete gestern dort schon – verkörpert durch sein neuestes Buch – ein Mit-Schwabe auf mich, weder ein sparsamer Neckarschwabe noch ein fleißiger Lechschwabe allerdings, sondern ein tüchtiger Banater Schwabe: Richard Wagner, geboren 1952. Wir Schwaben sind oft eines Sinnes, zum Schwaben Wagner würde ich mich sofort an den Frühstückstisch setzen, selbst wenn er der einzige Hotelgast wäre. Sein schmerzhaft schürfendes Buch „Habsburg“ schlage ich an einer beliebigen Stelle auf, hier S. 158: „Heute ist der Hitler-Stalin-Pakt-Vergleich in Ostmitteleuropa fast so beliebt wie in Deutschland der Hitler-Vergleich.“ Na, das passt ja zur Seite 1 unten in der heutigen Süddeutschen!

Eine wichtige Vergleichsgröße für russische Politiker sollte in unseren Augen jederzeit  der Innenminister und zeitweilige Premierminister Pjotr A. Stolypin (1862-1911) bilden. Über ihn schrieben wir am 5. Januar  2009 in diesem Blog: „Stolypin war einer jener Politiker, die in der zaristischen Spätzeit vernommen hatten, was die Uhr geschlagen hatte. Er versuchte durch einschneidende Reformen die schlimme Lage der Bauern zu verbessern, indem er ihnen neue Anrechte auf Grund und auf billiges Kapital verschaffte. Er kämpfte für eine effizientere Verwaltung, versuchte einen vernünftig geregelten Markt für die aufstrebende Industrie zu schaffen. Stolypin setzte auf grundlegende Reformen, ohne jedoch die Zarenherrschaft insgesamt in Frage zu stellen. Das Mittel der Revolution lehnte er ab, seine Agenda verlangte dem herrschenden Zaren und dem Adel weitreichende Zugeständnisse ab, ohne den Antimonarchisten Vorschub zu leisten.“

Der Totalitarismus ist tot. Russland hat sich dauerhaft und glaubwürdig – wie ich immer wieder erfahre – vom Zwangssystem der kommunistischen Diktatur losgesagt. Es sucht nun mögliche historische Vorbilder. Die Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Spiele in Sotschi war sicherlich ein verlässlicher Hinweis auf die intensive Suche des heutigen Russland nach positiven Anknüpfungspunkten. Das Grauen der Geschichte kann niemals ausreichen, um einen Weg in die Zukunft zu bahnen. Völlig zu Recht wurden aus der Feier die üblichen heroischen Beschwörungen der sowjetischen Geschichtsklitterung verbannt.

Ein reizvolles Vorbild oder Gegenbild, an dem sich das Ausland bei mehr oder minder passenden (meist äußerst unpassenden) Vergleichen lebender russischer Politiker mit historischen Gestalten abarbeiten kann, ist neben der deutschen Zarin Katharina II. sicherlich Pjotr A. Stolypin. Wer Katharina II. und Stolypin versteht, wird auch das heutige Russland in seiner Sinnsuche, seiner Suche nach Kontinuität besser verstehen!  Vergessen wir nicht, dass Stolypin 2009 im staatlichen Fernsehen zum wichtigsten russischen Politiker der Geschichte gekürt wurde – ein Ereignis, dem ich damals staunend und mit offenem Mund in Moskau beiwohnte:

Ein Land, das dringende Reformen versäumt, wird bestraft

Zitat: Richard Wagner: Habsburg. Bibliothek einer vergangenen Welt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, S. 158

Bild: Blick aus dem Fenster des Hotels Wedina, Hamburg, im Hintergrund: blühender Kirschbaum, im Vordergrund: das Buch „Habsburg“ von Richard Wagner, erschienen zu Hamburg bei Hoffmann und Campe im Jahr 2014

 

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Dez. 122013
 

Die Linke will also der „tausenden von Antifaschisten und Kommunisten“ gedenken, die dem kommunistischen („stalinistischen“) Terror der Sowjetunion zum Opfer fielen – aber der vielen Millionen gewöhnlicher (eher unpolitischer) von den staatlichen Organen der Sowjetunion ermordeten zivilen Opfer nicht? Nun, es gab in der Tat kommunistische Opfer des sogenannten „Stalinismus“. Die Kommunisten und Antifaschisten waren aber eine kleine Minderheit der Opfer der sowjetischen Staatsverbrechen der kommunistischen Jahre ab 1917. Die anderen der vielen Millionen Opfer des kommunistischen Staatsterrors waren Kulaken, Ukrainer, Polen, Juden, Deutsche,  Generäle, bourgeoise Intellektuelle, „Asoziale“, Arbeitslose, „Kapitalisten“, Abweichler, „antisowjetische Elemente“, Obdachlose, „Staatsfeinde“ usw. usw. Der Kategorien gab es viele! Was die Linke da offenkundig vorhat, ist eine Privilegierung der eigenen Opfer des Kommunismus. „Nur wir Kommunisten waren Opfer der Kommunisten!“

Das ist so ungerecht und verlogen, als wollten wir Deutschen am Shoah-Mahnmal nur der ermordeten jüdischen Deutschen gedenken. Denn es ist klar: die deutschen Juden waren eine Minderheit unter den Opfern der Shoah, die allermeisten Opfer der Shoah des Judentums im 20. Jahrhundert waren eben keine Deutschen, sondern gehörten anderen Nationen an, vor allem den Polen, Russen, Ukrainern, dem sowjetischen Judentum (einer offiziellen „Nationalität“), aber auch zahlreichen anderen europäischen Nationen.

Никогда больше фашизм! коммунизм никогда больше! никогда больше национал-социализм!

THINK ABOUT IT, LINKE! NEVER AGAIN COMMUNISM, NEVER AGAIN FASCISM, NEVER AGAIN NATIONAL-SOCIALISM! JAMAIS PLUS LE COMMUNISME, JAMAIS PLUS LE NATIONAL-SOCIALISME, JAMAIS PLUS LE FASCISME!
http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-langem-streit-kipping-will-gedenktafel-fuer-stalinismus-opfer-an-parteizentrale-der-linken-enthuellen/9205826.html

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Dez. 082013
 

Die Amerikanerin Anne Applebaum, die Polen Donald Tusk und Radoslaw Sikorski, Tony Judt, Christopher Clark, Henry Rousso, Jörg Baberowski, Norman Davies, Timothy Snyder … das sind einige europäische und außereuropäische Historiker, die leider in Deutschland, Italien, Frankreich und den Benelux-Staaten viel zu wenig gelesen werden. Sie böten für die EU die Chance, allmählich ein gesamteuropäisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen. Aber nein: die sechs Gründerstaaten der EU köcheln im eigenen Saft. Sie kriegen einfach nicht mit, was in Ukraine, Russland, Polen, in „Osteuropa“, den baltischen Staaten seit 1917/seit 1945 abgeht. Sie tun so, als hätte es die Sowjetunion nie gegeben. Schade. Aber es rächt sich bitter – siehe den Schlingerkurs der Ukraine!

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Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer

 1968, Goethe, Philosophie, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Deutsche, allzu deutsche Gewalt: das Beispiel des Deutschen Joschka Fischer
Nov. 192013
 

„Nazi bleibt Nazi“, mit diesen Worten formulierte Christian Ströbele, Deutscher, geb.  1939, seinen Glauben an die Unveränderlichkeit, an die sozusagen genetische Determiniertheit des Menschen.

Wir bilden ähnliche Sätze: Nazi bleibt Nazi, Gewalttäter bleibt Gewalttäter, Frankfurter Putztruppe bleibt Frankfurter Putztruppe, Steinewerfer bleibt Steinwerfer. Die Zahl der Variationen ist beliebig. Goethe dichtete diesen Glauben an den unveränderlichen Kern der Persönlichkeit so:

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Der heutige Unternehmensberater und Vortragsredner Joschka Fischer, 1948 geborener Deutscher, ehem. Chef des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland, erweist erneut, wie recht doch Goethe mit seinen Urworten. Orphisch hatte, wie tief eingewurzelt bei uns Deutschen eine gewaltgeprägte, brutal zuschlagende, verrohte Sprache ist. Höchst aufschlussreich ist die metaphorische Sprache, mit der Joschka Fischer, der deutsche Spitzengrüne, sich in einem Gespräch mit Fritz Stern über seinen Versuch, einen ganz großen Stein auf die von ihm geführten Mitarbeiter  im AA zu werfen, zu Protokoll nehmen lässt (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich allerdings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne die ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissionsberichtes, selbst nicht mehr im Amt erleben würde.“

Zitiert nach:
Thomas Schmid: Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt. WELT online, 19.11.2013
http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article122017508/Joschka-Fischers-Rache-am-Auswaertigen-Amt.html

Ein farbenprächtiges Zitat, ein Beispiel brauner Kontinuität aus dem Munde eines deutschen Spitzengrünen! Die Vorstellung, dass man politisch Andersdenkende  einfach mit einem Stein zerschmettern könne, aber auch der Mut, mit dem Joschka Fischer offen diese feldherrngleich ausgebrütete Gewaltphantasie ausspricht, sind höchst bemerkenswert und verdienen Anerkennung. Joschka Fischer, der typische Deutsche, hat sich von der Sprache der braunen, der auch roten, der steinewerfenden Vergangenheit, wie man sieht, nicht verabschiedet, sondern führt sie – zumindest in seiner Phantasie – ganz ungescheut fort.

Feinde werden von Joschka Fischer im Geiste mit Hinkelsteinen zerschmettert.  Das ist richtig gutes Deutsch, Joschka! „Gefangene werden nicht gemacht“, so sagte es Kaiser Wilhelm in seiner berühmten „Hunnenrede“ am 27.07.1900. Joschka Fischer, der typische, allzutypische Deutsche stellt sich in eine unselige Tradition deutscher Gewaltrhetorik, deutscher Außenpolitik. Mimesis ans Verkehrte, hätten Adorno und Horkheimer wohl gesagt.

Aktuelle Geschenketipps:
Daniel Koerfer: „Diplomatenjagd. Joschka Fischer und seine Unabhängige Kommission und ,Das AMT'“. (Strauss Medien & Edition, Potsdam. 544 S., 24,95 Euro)

 

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Nov. 122013
 

Hinter mir liegt ein schwieriger 9. November. Irgendwie empfand ich lebhaftes Unbehagen. Von der riesigen Steinwüste der „Topographie des Terrors“ führt mein Weg seit Jahr und Tag nahezu täglich auch an der gewaltigen Trauerwüste des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ vorbei. „Topographie des Terrors“ und „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ – das sind die räumlich größten, die am allermeisten Platz beanspruchenden, die stadtbildprägenden Denkmäler im unmittelbaren Berliner Wohnumfeld. Sehr weit, sehr gut versteckt gibt es in Berlin auch kleine Denkmäler für Rudolf Virchow, für Beethoven, Hadyn, Mozart. Aber Virchow, Beethoven, Immanuel Kant und all die anderen „großen Deutschen“ spielen ansonsten kaum eine Rolle in der Gedächtniskultur.

Die Dimension der Verbrechen ist in der Tat so ungeheuerlich, und wir werden durch die bewusste Inszenierung, durch das geschickte „Re-Enactment“ auf Schritt und Tritt daran erinnert, so als wären sie gestern geschehen, als würden sie heute geschehen, als könnten sie jederzeit wieder geschehen. Es fehlt sozusagen eine rituelle Distanzierung davon, wir müssen jeden Tag wieder daran vorbei. Der Besucher erhält hier in Berlin das Gefühl, unrettbar und hoffnungslos und auf alle Zeiten in diese zeitenthobene, metaphysische Geschichte der schrecklichsten Verbrechen verstrickt zu sein. Ein offener Friedhof, ein jederzeit begehbares Schlachtfeld – soll das, soll die Erinnerung nur und ausgerechnet an die Massenverbrechen der Kern der Erinnerung in der deutschen Hauptstadt sein? Ist das und nur das der tragende Sinn der europäischen Gedächtniskultur? Interessanterweise – ja! Denn nennt man heute die Worte „Erinnerungskultur“, „Gedächtnisarbeit“, „Gedenkstätte“, dann werden alle sofort an Massengräber, an Leichenberge, an den Tod denken.

Wann begann die Erinnerungskultur? Wann begann diese europäische Gedächtniskultur? Ich würde in diesem Zusammenhang des 9. Novembers 2013 sagen, ungefähr im 17. Jahrhundert v.d.Z., etwa mit dem sogenannten „Jakobssegen“ im ersten Buch Mose (Buch Genesis des Alten Testaments), 49,1-28. Erinnern wir uns an Jakob: Für Jakob gehört des vernichtende Gemetzel, das seine Söhne Simeon und Levi in Sichem anrichteten (Gen 34), untrennbar zu seiner eigenen Geschichte, zur Geschichte Israels. Er leugnet nicht, dass er der Vater der Verbrecher ist, aber er „verflucht ihren Zorn“, er verflucht ihre Taten.

Anerkennung, Konfrontation mit der historischen Wahrheit, klares Ansprechen des Zivilisationsbruches aus dem eigenen Volk heraus, Eingeständnis der Verwandtschaft mit den Massenmördern, und zugleich rituelle Absage an das Verhalten der Verbrecher aus dem eigenen Volk. Damit hat Jakob einen unschätzbaren zivilisatorischen Fortschritt eingeleitet. Eine frühe, rituelle Form der Vergangenheitsbewältigung!

In Deutschland begann die Erinnerungskultur mit Bezug auf die Schoah des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert sicherlich bereits weit vor den Frankfurter Auschwitzprozessen, sicherlich weit vor den öfters genannten Jahreszahlen, den späten 60er Jahren.  Ein lebendiger Beleg dafür ist beispielsweise die mich heute zutiefst anrührende Rede, die Bundespräsident Theodor Heuss bereits 1952 bei der Einweihung des Mahnmales im ehem. KZ Bergen-Belsen im hellsten Licht der Öffentlichkeit hielt. Da steckt eigentlich das Beste der deutschen Erinnerungskultur schon drin. Viel weiter haben wir Deutsche es seither meines Erachtens nicht gebracht.

Richtig ist aber an manchen Feststellungen, dass ab den späten 60er Jahren eine ganze Flut von Abrechnungen der deutschen Söhne und Töchter mit den eigenen Vätern und eigenen Müttern begann – eine Abrechnung, in der die nachgeborenen deutschen Söhne und die deutschen Töchter stets mit unfehlbarem Überlegenheitsgefühl sich selbst ins Recht setzten oder zu setzen glaubten. Das ist die Geburt der 68er-Studentenbewegung. Wir Söhne wollten großartig dastehen! Die Väter hatte Trauben gesessen, und uns wurden die Zähne stumpf! Wir legten und legen mit Wonne den Finger auf die faulen Zähne der Väter und Mütter und der Großväter und Großmütter! Die eigene, von uns selbst verursachte Karies sehen wir nicht. Ich spreche hier übrigens vor allem für mich selbst, im eigenen Namen.

 Posted by at 12:15