Nov 192007
 

Die ungarische Parlamentspräsidentin Katalin Szili von der regierenden Sozialistischen Partei hat sich an diesem Wochenende für die Vertreibung der Ungarndeutschen entschuldigt: „Statt unserer Vorfahren sagen wir heute ‚Entschuldigung‘ und ‚Nie wieder'“. Das ungarische Regierungsdekret vom Dezember 1945, das bereits 1989 verfassungsgerichtlich außer Kraft gesetzt worden war, bezeichnete Szili als „Dokument der Schande“ (Quelle: FAZ, 19.11.2007). Gute, mutige Schritte sind das! – Vor drei Wochen wiederum stellten Kulturstaatssekretär Bernd Neumann und der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse ein Konzept für das Zentrum gegen Vertreibung vor, das als unselbstständige Stiftung unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums entstehen soll. Was für eine Chance! Alle Welt spricht heute von Integration. Alle Welt redet sich den Mund fusslig über die ungelösten Vertriebenenprobleme in Palästina, in Darfur, in Kenia und Burundi.

Dabei haben die Deutschen ihr großes Flüchtlingsproblem in nur einem Jahrzehnt bewältigt. Sicher: Es war schwer zusammenzurücken in den Jahren nach dem Krieg. Viele blickten herab auf die Habenichtse, die ihr Eigentum verloren hatten. Es gab Egoismus, Neid, Revierkämpfe. Kulturelle Unterschiede wurden nicht übersehen. Und doch ist es in gut einem Jahrzehnt gelungen, die über 12 Millionen Deutschen aus den ehedem deutsch besiedelten Gebieten des Ostens zu integrieren und zu einem Motor eines blühenden Gemeinwesens zu machen. Diese Erfolgsgeschichte wird zu selten erzählt. Sie soll Bestandteil des Zentrums gegen Vertreibung werden.

Eine Aufarbeitung dieses vernachlässigten Jahrhundertthemas wäre in der Tat ein großer Gewinn für Berlin! Ach was sage ich da! Ein Jahrtausendthema! Die Blutspur der Deportationen und Vertreibungen zieht sich durch die gesamte asiatisch-europäische Geschichte, wobei die Juden wahrscheinlich den traurigen ersten Platz in der Rangliste der am häufigsten Vertriebenen haben! Eine der frühesten gewaltsamen Austreibungen der Juden erfolgte im 6. Jahrhundert v.d.Z. ins Gebiet des heutigen Irak. Im damaligen Bablyonien gelang es ihnen aber bald, eine eigene, höchst erfolgreiche, übrigens arabischsprachige Kultur aufzubauen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatte. Auch dies ist also ein Beispiel für gelingende Integration von Vertriebenen.

Karl der Große, der leider von vielen immer noch recht treuherzig als Vater Europas verehrt wird, setzte planmäßig – nach und neben seinen Massenhinrichtungen wehrloser Unbewaffneter – umfangreiche Deportationen unbotmäßiger Stämme ins Werk. Wer spricht davon? Niemand außer den Historikern!

Alle Welt giert stattdessen nach Bildern vom Krieg. Die Kriegsmuseen in London, Moskau oder auch in Heraklion (Kreta), die ich besuchte, ziehen die Massen in hellen Scharen an. Vertreibung hingegen ist weit weniger spannend als Krieg, aber ebenso folgenreich, jedoch bisher kaum für die Öffentlichkeit aufbereitet.

Übrigens: Eine weniger vorurteilsgeprägte Befassung mit der Geschichte der Tschechoslowakei, in der, von den Deutschen 1938 begonnen, bis 1946 mehrere brutale Vertreibungswellen, später auch unter planvoller tschechischer Regie, rollten, lohnt sich!

Im Tagesspiegel vom 2. Juni 2002 schrieb ich: „Die CSR war im 20. Jahrhundert der einzige demokratische Staat in Mitteleuropa, in dem mehrere größere Nationalitäten zusammenlebten. Sie stellt damit ein echtes Modell für Schwierigkeiten und Chancen einer demokratisch verfassten, multiethnischen Gesellschaft dar. Noch stärker als die Türken im heutigen Deutschland stellten die Deutschen der CSR 1918-1945 eine Art Parallelgesellschaft dar, mit eigenen geschlossenen Siedlungsgebieten, eigenen Zeitungen, Schulen, Theatern usw. Ich habe selbst mit vielen Deutschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei gesprochen, die sich damals wie heute beharrlich weigern, Tschechisch zu lernen. Dies erstaunt umso mehr, als die Deutschen in der Tschechoslowakei – trotz unleugbarer Benachteiligungen in Justiz und Verwaltung – volle Staatsbürgerrechte genossen: eine demokratische Selbstverständlichkeit, die den bei uns seit langem lebenden Türken lange verweigert worden ist – oft mit der Begründung, sie sollten erst einmal richtig Deutsch lernen.“

Nebenbei: Ein großer Teil meiner Verwandten wurde ebenfalls aus dem damaligen Sudetenschlesien vertrieben, darunter auch mein Großvater und mein Vater. Ihre Erzählungen zeigten mir, dass auf begangenes und erlittenes Unrecht erst gemeinsame Erinnerung, dann gemeinsam mit Mühen erarbeitete Versöhnung folgen kann und folgen muss.

Das Wichtigste aber ist: Wir dürfen nicht gebannt nur auf den vergangenen Schrecken starren, sondern müssen an Erfolge denken und im Blick auf mögliche Erfolge die drängenden Probleme mit den heute weiterhin rollenden Vertreibungen meistern.

Vertreibung als Mittel staatlicher Politik ist zu ächten – zur Integration gibt es keine gangbare Alternative.

P.S.: Sollte das offizielle Europa weiterhin in Aachen einen „Karlspreis“ verleihen und damit die Vertreibungspolitik dieses bereits in den Augen seiner Zeitgenossen grausamen Herrschers gutheißen? Es stünde uns als Europäern gut an, wenn wir uns ebenso entschieden von den Akten der Vertreibung, die die „Väter“ begangen haben, lossagten, wie dies am Wochenende die ungarische Parlamentspräsidentin für ihr Land getan hat. Mir wäre ein Preis nach Kaiser Karl IV., dem Luxemburger, weit lieber! Lasst uns doch bitte den Aachener Karlspreis umwidmen auf Karl IV.! Im Gegensatz zu Karl dem Großen konnte er lesen und schreiben, er sprach mehrere Sprachen, er brach im Gegensatz zu Karl dem Großen keine Eroberungskriege vom Zaun, er gründete in Prag 1348 (vor Heidelberg!) die erste Universität im Gebiet des Reichs nördlich der Alpen – keine schlechte Empfehlung für unseren ach so wissensgestützten europäischen Wirtschaftsraum …

 Posted by at 07:43

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