Okt 102010
 

Etwas, was bei Sami Khedira undenkbar wäre: die Türken pfiffen im Berliner Olympistadion ihren abtrünnigen Landsmann aus. „Einmal Türke – immer Türke!“, „Die türkische Nation ist ewig und heilig“, „Wir müssen zueinander halten – wo immer wir sind“, „Wir müssen den Ruhm des türkischen Vaterlandes überallhin tragen“. Solche Stimmen hörte ich aus dem gellenden Pfeifkonzert heraus.  Es stimmt schon: Die Türken haben mit unendlicher Mühe aus einem Vielvölkerstaat unter Zuhilfenahme heiliger Beschwörungsformeln eine mit Blut geweihte Staatsnation geschmiedet. Wem das nicht passte, der konnte ja gehen oder wurde gegangen. Man besuche einmal das Atatürk-Mausoleum in Ankara! Man besuche auch das Lenin-Mausoleum (früher: Lenin/Stalin-Mausoleum) in Moskau! Die Ähnlichkeiten sind überraschend!

Dann wird man die heilige Verehrung der türkischen Nation besser begreifen.

Einer wie Özil, der sich aus freien Stücken für das Land entscheidet, in dem er geboren und aufgewachsen ist, gilt offenbar vielen als Verräter.

Ich habe über dieses Thema oft mit „gut integrierten“, akademisch gebildeten Deutschtürken gesprochen. Sie gaben mir privat weitgehend recht. Aber öffentlich wird kaum ein deutscher Türke dieses ersatzreligiöse Festklammern an der überragenden ewigen türkischen Nation, diese Verehrung des türkischen Staates, des Türkentums  in Frage stellen.

Er sähe sich sofort einem gellenden Pfeifkonzert ausgesetzt. Siehe Mesut Özil! Das gellende Konzert für Özil macht alle weiteren Integrationskongresse erst mal überflüssig, oder?

Dieser tief in den Seelen verwurzelte türkische Nationalismus ist – so meine ich – eines der größten Integrationshemmnisse. Falsch wäre es auch, von Türken zu verlangen, sie sollten umdenken. Das Sich-Lossagen vom türkischen Staat wird fast wie ein Frevel am Vaterland empfunden und kann zu schwerem seelischem Leid führen.

Über die türkischen Religionsbehörden steuert und stärkt der türkische Staat seine Auslandstürken in ihrem Sonder- und Abhängigkeitsbewusstsein. Er bestärkt sie als Schutzmacht im Bewusstsein, hier in einer türkischen Exklave zu leben. Er will nach Kräften verhindern, dass die seit vielen Jahrzehnten hier lebenden, hier geborenen Türken gute deutsche Staatsbürger werden und dadurch dem ewigen Türkentum verlorengehen.

Er bindet sie an sich – etwa durch die Beschneidung des Erbrechts bei Abgabe der türkischen Staatsbürgerschaft. Und wie man in Zypern sieht, nimmt der türkische Staat dieses wechselseitige Treueverhältnis blutig ernst.

Solange die Türken in Deutschland da nicht ran gehen und die Integration allein uns schafsfrommen Biodeutschen überlassen, wird das nichts mit der Integration der Türken.

Das ist doch alles Essig.  Ich bin es leid. Ich bin dessen überdrüssig, mir dieses ewige Lied vom Leid und Elend der Auslandstürken anzuhören.

 Posted by at 10:50

  4 Responses to “Warum haben sie Mesut Özil ausgepfiffen?”

  1. Hat Martin recht? Was meinen die anderen? Haben wir uns getäuscht?

  2. @Martin – es würde mich freuen, wenn es so wäre! Dann wäre es nur unsportlich.

    @ Ben – wir Menschen sind wunderliche Mischwesen. Ich selbst träume auch oft von der herrlichen Mittelmeerwelt der Ägäis, vom herrlichen Süddeutschland, bekenne mich aber zu mienr jetzigen Heimat Berlin

  3. Ich finde Ihren Artikel sehr differenziert und möchte auf die Sonntags-FAZ dieses Wochenendes hinweisen, die mehrere Leitartikel zu dem Thema gebracht hat.

    Mich persönlich hat das Verhalten der (überwiegend männlichen) türkischen Fans zwar nicht gewundert, aber um so mehr geärgert, da sich die übelsten Vorurteile bestätigen.

    Nebenbei: Nuri hat in einem Interview vor dem Spiel gesagt er fühle sich durch seine Disziplin als deutscher, emotional zieht es ihn aber zur Türkei – auch dies ein Klischee: Geld verdienen in Deutschland, träumen vom Haus in der Türkei.

    MfG

  4. Ähmm… vielleicht auch, um den zZ gut spielenden Ozil zu verunsichern, das er ja nicht gut spielt?

    nur so als Idee

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