Jan 202011
 

100120112661.jpgIch sag’s immer wieder: Friedrichshain-Kreuzberg hat Modellcharakter! Was hier geschieht, darüber spricht die ganze Republik, spricht die ganze Welt! Wie anders ist es zu erklären, dass auch die ausländische Presse hineinhorcht in unseren Bezirk? So brachte der Standard gestern, am 19. Jänner, ein Interview mit unserem Bezirksbürgermeister Dr. Franz Schulz. Auszug:

„Man sollte ihnen ihre Parallelgesellschaft gönnen“ – Alltag – daStandard.at › Alltag
Dann sehen Sie Teile von Kreuzberg oder Neukölln also nicht als Parallelgesellschaft?

Franz Schulz: Warum sollten Bürger mit bestimmtem Background nicht in einer Parallelgesellschaft leben, wenn wir in einer Gesellschaft mit nur Parallelgesellschaften leben? Im Sportverein herrschen eigene Regeln. Wenn ich in der Karnickelzucht engagiert bin, bin ich dort auch in einer Parallelgesellschaft, wenn ich mich kulturell engagiere, lande ich auch in einer Parallelgesellschaft. Manager leben in einer Parallelgesellschaft. Sie ist nur bestimmten Personen mit bestimmter Kleiderordnung an bestimmten Orten zugänglich. Man sollte also auch Arabern ihre Parallelgesellschaft gönnen. Die Frage ist dann: In welchem Bereich koppeln sie sich vom Gesetz ab?

Das Interview lohnt in jedem Fall sorgfältiges Lesen. Mit gefällt es gut! Franz Schulz trifft vor allem den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, dass der Bezirk durch dieses Lebensgefühl der „parallelen Welten“, also der nicht mehr miteinander verbundenen Lebenswelten gekennzeichnet sei. „Wir leben in einer Welt mit nur noch Parallelgesellschaften.“

Hat Schulz recht? Bilden die üblichen Karnickelzüchter, Manager, und ich ergänze:  die Rapper, die Opernbesucher, die Autonomen, die Radfahrer, die Kirchgänger, bilden alles diese Gruppen unverbundene Parallelgesellschaften? Ich meine nein. Denn der typische „Vereinshuber“, der Taubenzüchter oder Karnickelzüchter oder Radsportler hatte und hat doch stets ein Gefühl der Zugehörigkeit zu seiner Gemeinde, zu seinem Staat bewahrt. Er war und ist nicht NUR Karnickelzüchter, sondern AUCH Gewerkschaftsmitglied, auch Berliner, AUCH SPD-Wähler, AUCH Hertha-Fan, AUCH Kirchenchormitglied, auch Familienvater. Er lebte nicht in Parallelwelten, sondern in kommunizierenden Welten.

Was wir hier aber in Friedrichshain-Kreuzberg erleiden, ist ein echtes Auseinanderdriften und Zerfallen der Bevölkerung in praktisch nicht  mehr verbundene Segmente. Und diese Segmente drohen sich entlang den ethnischen, weltanschaulichen und religiösen Trennlinien voneinander abzugrenzen. Kurz gesagt: Man geht sich aus dem Weg. Man weist sich die kalte Schulter.

Dies ist etwas Neuartiges, denn in dieser scharfen Absonderung gab es das bisher in der Bundesrepublik nicht. Die Tschechoslowakei bis zu den Vertreibungen der Jahre 1945-1946, das späte Habsburgerreich ab etwa 1848, das Osmanenreich (bzw. die Türkei)  bis zu den großen Vertreibungen der Jahre 1921-1923: sie alle waren derartige zerklüftete, multikulturelle und multiethnische Gesellschaften. Wir haben heute eine derartige aufgesplitterte, multikulturelle Gesellschaft in Staaten wie Libanon, Belgien, Ägypten, Indien, Irak. Alle diese Staaten drohen an ihren inneren Spannungen zu zerbrechen. Wollen wir also eine multiethnische, multikulturelle Gesellschaft werden, wie es die Tschechoslowakei bis 1946, die Sowjetunion bis 1990 war, wie es Libanon, Irak oder Indien heute sind?

Ich halte dies für eine gefährliche Entwicklung, der es bewusst entgegenzusteuern gilt. Wie?

Die drei großen Institutionen, die diese Segmentierung am ehesten rückgängig machen könnten, sind die Schule, die Arbeitswelt und die deutsche Sprache. Nur hier könnten die einzelnen Parallelgesellschaften noch in nennenswertem Umfang zusammenkommen, insbesondere in der Schule, und zwar in Gestalt der Familien: Kinder, Väter, Mütter.

Dazu kann dann noch als krönender Schlussstein die Einigung auf das Grundgesetz stehen. „Unsere Leitkultur ist das Grundgesetz.“ So hat es Cem Özdemir treffend in der FAZ gesagt. Und das Grundgesetz sagt es ja in der Präambel klipp und klar: Das Deutsche Volk hat sich dieses Grundgesetz gegeben. Die Bundesrepublik Deutschland – durch Gründungsdokument ausgewiesen – ist der Nationalstaat der Deutschen. Sie ist nicht als multiethnischer Staat gedacht wie etwa Indien, die Sowjetunion oder Afghanistan. Sie ist zwar de facto Einwanderungsland geworden, aber sie ist eben weiterhin der Staat der Deutschen. Wenn man dies ändern will zugunsten eines Vielvölkerstaates mit zahlreichen Parallelgesellschaften, muss man es sagen. Ich will es nicht. Ich meine: Wer auf lange Sicht gesehen durch eigene Arbeit Deutscher werden und mitmachen will, ist herzlich willkommen.

Wer auf lange Sicht gesehen nicht Deutscher werden, sondern Russe, Türke, Syrer, Pole bleiben will – ist als einzelner Mensch ebenfalls immer herzlich willkommen, aber er muss gewärtig sein, dass er keine besonderen Gruppenrechte als scharf umrissene Minderheit oder Enklave oder eigenständige „Volksgruppe“ beanspruchen kann. Er muss damit rechnen, dass die Bundesrepublik Deutschland seine Loyalität, seinen Beitrag, seine Zugehörigkeit verlangt. Vor allem wird es sich Deutschland nicht unbegrenzt leisten können, Angehörige anderer Staaten über Jahrzehnte hinweg als abgeschlossene Kollektive aus den eigenen Sozialkassen mitzutragen.

Das Zusammenkommen der zersplitternden Gruppen würde dreierlei voraussetzen: Alle Eltern müssten sich der Schule verbunden fühlen, indem sie einen aktiven Beitrag zur Schularbeit leisten. Und alle Bürger Friedrichshain-Kreuzbergs müssten imstande und willens sein, sich in der Landessprache Deutsch auszudrücken. Von beidem sind wir noch weit entfernt. Und drittens müssten alle Kinder, alle Jugendlichen sich durch eigene Anstrengung so weit bringen, dass sie irgendwo in Deutschland, in Europa oder in der Welt einen Beruf ergreifen und ausüben können. Die Perspektive auf „Arbeitslos in Kreuzberg wie Onkel und Nichte“ müsste systematisch verbaut werden.

Schule, deutsche Sprache und Arbeitswelt könnten die einigende Klammer liefern, durch die die Gesellschaft unseres Bezirks statt wie jetzt eine zerklüftete Sammlung von Parallelwelten zu einem System kommunizierender Röhren wird. Wie? Durch eine gemeinsame Kultur der deutschen Sprache, eine gemeinsame Arbeitswelt, überhaupt eine gemeinsame Bildung. Dies alles fehlt jetzt noch weitgehend und droht sogar mehr und mehr verloren zu gehen.

Die Gesellschaft droht in Friedrichshain-Kreuzberg zu zerfasern. Der Bezirk droht abzurutschen in dem Maße, wie das Bundesland Berlin oder die Bundesrepublik Deutschland den Bezirk mit seinen vielfältigen Milieus nicht mehr durch stetig wachsende Transferzahlungen erhalten und pflegen kann. Das höchst lesenswerte Interview mit Franz Schulz vom 19. Jänner 2011 ist als warnender Hinweis auf dieses drohende Abgleiten nicht hoch genug zu loben. Besonders gefällt mir die diplomatisch verkleidete Selbstanalyse: „Verharmlose ich Multi-Kulti hier in Kreuzberg oder spitzt Buschkowsky zu?“

Beides halte ich für richtig: Buschkowsky spitzt die Probleme zu, Schulz verharmlost recht staatsmännisch die Probleme. Beide kennen ihre Bezirke sehr gut. Beides – Zuspitzung und Verharmlosung – ist für amtierende Politiker legitim, zumal beide sich ja letztlich im Dienst des Gemeinwohls so verharmlosend und so zuspitzend äußern, ja äußern müssen.

Man sollte ausführlich weiterdiskutieren, und vor allem: handeln, arbeiten, machen.

Bild: Der Kreuzberg als Rutschbahn, aufgenommen vor wenigen Tagen.

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