Okt 262011
 

Wieder und wieder stoße ich auf Grab- und Bodenplatten der europäischen Geschichte – Vorgänge, die verdrängt und vergessen werden, die aber machtvoll nach oben quellen. Die schrecklichen Bürgerkriege innerhalb vieler europäischer Länder gehören zu diesen furchtbaren Vergessenheiten. Wer weiß etwa in Italien, dass der italienische Bürgerkrieg in den Jahren 1943-1945 – „Italiener schießen auf Italiener“ – weit mehr Todesopfer im Bel paese gefordert hat, weit furchtbarer war als alle Kämpfe im Kontext des zwischenstaatlichen Krieges? Wer weiß etwa heute, dass die Massenmorde der Italiener in Addis Abbeba, der Hauptstadt des italienisch besetzten Abessinien, im Februar 1937 Tausende von unschuldigen Zivilisten das Leben kosteten? Kein Italiener ist für die staatlich gedeckten und angeordneten Massaker je zur Rechenschaft gezogen worden, es gibt meines Wissens über die Kriegs- und Kolonialgräuel der Italiener keinen einzigen Spielfilm. Keine Schulklasse reist mit einem Zug der Erinnerung nach Libyen oder ins kroatische Rab, um ehemalige italienische Konzentrationslager oder Stätten italienischer Massenmorde wie etwa Debrá Libanós zu besuchen. Die allermeisten italienischen Schüler hören nie etwas davon. Lieber bleibt man bei der Vorstellung Italiani – brava gente. „So etwas haben wir nicht getan, denn wir können es nicht getan haben. Denn wir sind gut.“ Und so bleiben die finstersten Kapitel des nationalen Epos versiegelt. Nur wenige Historiker wie etwa Angelo del Boca rütteln an diesen Überzeugungen.

Gleiche Situation in Griechenland, in Lettland, in der Ukraine, in Russland! Die Länder üben sich im Vergessen, Verschütten, Verdrängen. Und schuld an der Schuld, schuld an den Schulden sind immer die anderen. Das ist das große Thema etwa des griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos. Über ihn schreibt heute Andreas Kilb auf S. 36 in der FAZ:

„Das Land, das sich im Bürgerkrieg gespalten hat, ist niemals eins geworden, es hat seine Zerrisssenheit nur verdrängt. Damit die Mächtigen bei ihren Silvesterfeiern unter sich bleiben konnten, wurde das Wahlvolk mit Geldgeschenken beschwichtigt. Und wie der tote Partisan, der am Ende des Films wieder im Schnee verbuddelt wird, blieb das finsterste Kapitel des nationalen Epos unter Verschluss.“

Quellenangaben:

Andreas Kilb: Die letzten Tage der besseren Gesellschaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2011,  S. 36
Paul Ginsborg: Salviamo l’Italia. Giulio Einaudi editore, Torino 2010, S. 71-72

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