Sora nra matre tra – Schwester unser Mutter Erde

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März 142013
 

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Ein großes Vergnügen bereiten mir seit jeher die frühesten volkssprachlichen Texte – etwa des Althochdeutschen oder auch des Italienischen. Es ist ein tastendes Ungefähr zu spüren, ein Sich-Hineinfügen, ein Sich-Hineinlassen aus dem Bildungssprachlichen, dem Vatersprachlichen (etwa aus dem Lateinischen) in das Muttersprachliche, das Volkssprachliche, das zugleich die natürliche, die „gewachsene“ Sprache darstellt.

So hat dies staunend und doch ergreifend damals der Poverello d’Assisi, der gerade heute wieder ins Licht gerückte Francesco Giovanni di Pietro Bernardone – unser Franz –  geschafft.

„Sora nra matre tra“

lautet ein winziges Bruchstück aus seinem geistlichen Gesang. Das Manuskript zeigt wie damals üblich keinerlei Zeilenbruch und verwendet auch die Zusammenschreibungen, welches der Leser selbst auflösen muss zu

sora nostra matre terra

schwester unsere mutter erde

Auf Neuhochdeutsch:

Unsere Schwester Mutter Erde.

Das ist kaum auszuschöpfen, was das bedeutet.

File:Cantico delle Creature.djvu – Wikipedia.

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Vedi come storpiato è Maometo!

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Feb. 162013
 
Noch Philipp Melanchthon, der Mitstreiter Martin Luthers, erblickte im Islam eine schismatische Bewegung innerhalb des Christentums oder vom Stamme des Christentums, worüber dieses Blog am 09.09.2010 berichtete:
http://johanneshampel.online.de/2010/09/09/arbeite-dich-aus-der-hilflosigkeit-hervor-o-mensch/

Und das war wohl im Mittelalter ebenso gewesen!

Vedi come storpiato è Maometo!“

„Schau mal, wie verzerrt [das Bild des] Mohammed [bei uns im Westen] ist!“,

könnte man im Blick auf die heutigen Kenntnisse oder besser Nicht-Kenntnisse des Islams bei uns  diesen Vers Dantes übersetzen.

Fredi Chiapelli, der Kommentator meiner reichlich zerlesenen Handausgabe der Divina Commedia, kommentiert zu diesem Vers 31 des Gesangs XXVIII des Inferno: 

„Maometto: Il fondatore dell’Islam (560-633). Nel Medioevo era considerato uno scismatico.“ – „Der Gründer des Islam galt im Mittelalter als Schismatiker.“ Der Islam galt jahrhundertelang – bis in die frühe Neuzeit hinein – als eine Abspaltung des Christentums, so wie das Christentum als Abspaltung des Judentums entstanden war.

Das lateinische Mittelalter stellte also Mohammed auf eine Stufe mit den griechischsprachigen Christen des Ostens, mit denen es 1054 zum Bruch gekommen war! Eine Aussöhnung mit der orthodoxen christlichen Ostkirche schien aus westlich-abendländischer Sicht lange Zeit ebenso unmöglich wie eine Aussöhnung mit dem Islam.

Goethe schrieb 1774 seine Ode „Mahomets-Gesang“ wie an an einen Geistesverwandten:

Seht den Felsenquell,
Freudehell,
wie ein Sternenblick!
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.

Und was tun sich neuerdings für aufregende Perspektiven einer Wiederentdeckung des gemeinsamen Quellgrundes auf! Hierfür nur ein Beispiel: die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth. Sie greift den Felsenquell dieser uralten Traditionen, die für uns beispielhaft bei Dante Alighieri, Philipp Melanchthon und Johann Wolfgang Goethe fassbar werden, wieder auf!

Der Strom der asiatisch-europäischen Überlieferungen sprudelt noch. Er ist lebendig noch.

Ausgewählte Quellen:
Dante Alighieri: La Divina Commedia. A cura di Fredi Chiappelli. Grande universale Mursia, 4a edizione, Milano 1976, p. 150

Johann Wolfgang Goethe: Mahomets-Gesang. In: Das große deutsche Gedichtbuch. Von 1500 bis zur Gegenwart. Neu herausgegeben und aktualisiert von Karl Otto Conrady. Artemis & Winkler, München und Zürich, 4. Aufl. 1995, S. 143-144

Angelika Neuwirth: „Der Koran als Text der Spätantike“. Ein europäischer Zugang. Verlag der Weltreligionen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 859 S., geb., 39,90 €.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/angelika-neuwirth-der-koran-als-text-der-spaetantike-lesarten-eines-korans-in-dem-europa-sich-erkennen-kann-1612985.html

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Kafkas Mäuse, oder: Sollte man die Angst und den Hass einfach verbieten? (2)

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Dez. 102012
 

Das, was ich gegenüber Mäusen habe, ist platte Angst. Auszuforschen, woher sie kommt ist Sache der Psychoanalytiker, ich bin es nicht.“  So schrieb es Franz Kafka am 4.12.1917 an Max Brod, wie die Süddeutsche Zeitung heute auf S. 11 berichtet: Marbach erwirbt „Kafkas Mäuse“.

„In den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang: Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann.“ Zweifellos eine groteske Übertreibung, was der Prager Autor hier schreibt! Dennoch schlägt der Verfasser mit seiner Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse eine Saite an, die auch heute im Leser widerklingt. Welches Kind in Deutschland kennt und singt beispielsweise heute noch das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius? Das Lied ist noch erhalten, aber es wird  kaum mehr gesungen.

Kafka beschreibt in seiner Erzählung über Josefine, die Sängerin möglicherweise seine Trauer über den Verlust des volkstümlichen Liedsanges.

Das Singen lässt sich nicht befehlen. Die Angst lässt sich nicht verbieten. Eher schon kann man versuchen, Herr über die Angst zu werden, indem man sich in sie hineinversetzt! „Wie wäre es denn, wenn du selbst zu denen gehörtest, vor denen Angst hast?“

Verbring einen  Tag im Leben der Mäuse, und du wirst von deiner Mäuse-Angst, deiner Mysophobie geheilt!

Möglicherweise war diese vermutlich 1924 niedergeschriebene Erzählung ein Versuch Kafkas,  sich von seiner Mäuseangst zu befreien. Ich sage: möglicherweise. Denn vielleicht war es auch ein Versuch, mit der in diesem Jahr diagnostizierten Kehlkopferkrankung Freundschaft zu schließen und den drohenden Verlust der Stimme und letzlich das Sterben vorwegzunehmen.

Welche Deutung ist die richtige: Trauer über den Verlust des volkstümlichen Singens, Versuch der Bewältigung der Mäuse-Angst,  Versuch der Freundschaft mit der Kehlkopferkrankung, Vorwegnahme des eigenen Sterbens?

Die Schrift der Vergangenheit ist unveränderlich. Jede Deutung ist nur ein Versuch, ihr aus dem Hier und Jetzt heraus Sinn einzuhauchen. Sie kann auch Ausdruck der Verzweiflung angesichts der Unabänderlichkeit der Vergangenheit sein.

Quelle:

Franz Kafka: Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. Prager Presse, 4. Jg., Nr. 110 (20. April 1924, Morgenausgabe, Beilage Dichtung und Welt, S. IV-VII). Hier zitiert nach: Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Herausgegeben von Roger Hermes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 518-538, hier bsd. S. 519

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Würde ER es mit seinem Lob der Mutter in eine Talkshow schaffen? Jamais!

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Okt. 302012
 

Die gestrige Betrachtung führte uns zu drei Dichtern – Friedrich Hölderlin, Friedrich Schiller, Heinrich Hoffmann von Fallersleben – die es sicherlich heute nicht mehr in eine Talkshow schaffen würden. Sie wären in höchstem Maße politically incorrect. Mindestens müsste man große Teile ihres Schaffens aussondern und wegsperren. Und das geschieht ja auch mit furiosem Eifer und unerbittlichem Ingrimm. Denn alles, was mit Lob und Hochschätzung von Dingen wie „Mutter“, „Nichtablehnung der früher herrschenden Gender-Zuschreibung“, „Muttersprache“ und „Heimatland“ zu tun hat oder zu tun haben könnte, unterfällt bei uns in Deutschland seit etwa 1980 offenkundig einem Generalverdacht!

Doch muss und soll die Aussonderung von politisch unerwünschtem Gedankengut nicht an den Landesgrenzen haltmachen! In anderen Sprachen, in unseren Nachbarländern hat sich über 2 Jahrtausende hinweg ebenfalls viel Minderwertiges angesammelt, was dem heutigen Zeitgeist ins Gesicht schlägt! Ein vielgelesener Autor war z.B. in Frankreich Évariste Boulay-Paty. Auch er würde sicherlich sofort weggesperrt, wenn sich jemand unterstünde, das nachfolgende Gedicht über die Mutter der Familie öffentlich zu Gehör zu bringen, geschweige denn es in einer Talkshow zu verteidigen. Lest seinen Lobpreis auf die Mutter. Ich kann was damit anfangen, wenn ich auch den Seitenhieb auf die koketten Frauen, die „Rabenmütter“, die lieber anderweitige Eroberungen suchen, statt sich um die Kinder zu kümmern, etwas übertrieben finde. Ich distanziere mich hiermit  – höchst vorsorglich – von dieser Wortwahl des französischen Dichters.

Dennoch meine ich, dass das französische Gedicht nicht verboten werden sollte. Ich gebe zu bedenken, dass nicht alles, woran die Europäer einhellig bis etwa 1980 glaubten, grundfalsch gewesen sein muss. Und ein solcher Wert, an den alle europäischen Völker einschließlich der europäischen Juden und der muslimischen europäischen Völker (etwa der Bosniaken) glaubten, aber heute nicht mehr glauben, das war der unverzichtbare, der überragende Rang der Mutter und der Mutterliebe. Fragt sie selbst.

La mère de famille.

Elle serre en ses bras les fils qu’elle a nourris ;
Son être maternel se fond dans sa tendresse ;
Son regard est un soin, son geste une caresse ;
Son âme en ses baisers vient sur leurs fronts chéris.

Son chagrin, c’est leurs pleurs, son bonheur leurs souris ;
Elle ne songe point au monde, à son ivresse ;
Hors du cercle adoré qui l’entoure et la presse,
Dans son vaste horizon l’univers est sans prix.

Oh ! qu’elle est au-dessus de ces femmes coquettes,
Oubliant leurs enfants pour chercher des conquêtes !
Je la trouve admirable en sa noble beauté !

Dans l’ombre de la nuit le pur diamant brille ;
Chaste rubis d’amour, ô mère de famille,
C’est ainsi que tu luis dans ton obscurité.

Évariste Boulay-Paty.

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„Du mußt die Führung übernehmen!“, oder: Hat uns Bert Brecht heute noch etwas zu sagen?

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Okt. 102012
 

„Du mußt die Führung übernehmen!“, so schreibt Bertolt Brecht in seinem „Lob des Lernens“.

Ich glaube, dieser Aufforderung kann ich mich anschließen: „Du, du einzelner Mensch, mußt die Führung deines Lebens übernehmen. Lass dich nicht verführen!“

Brecht meinte möglicherweise: Jeder einzelne Mensch soll für sich selbst die Führung seines Lebens übernehmen. Er soll durch Lernen sein Urteilsvermögen schärfen, es soll keiner Organisation, keiner Partei, weder der Kommunistischen Partei noch der Nationalsozialistischen Partei, keiner Klasse und keiner Rasse, keiner unpersönlichen Macht die Führung seines Lebens anvertrauen. Er soll frei entscheiden, was er will oder nicht will.

Jeder Mensch soll sein eigenes Leben führen.

Allzu oft glauben die Menschen, sie seien dem Staat, der Politik, dem riesigen Steuerungsmechanismus des Finanzkapitals unterworfen. Die Strukturgläubigkeit der Menschen in Berlin fällt mir immer wieder auf. Überall jammern die Menschen:

„Der Staat sorgt nicht für uns, hindert uns am Lernen! In den viel zu großen Berliner Klassen, in den viel zu winddurchschossenen Berliner Schulen, in dem hochselektiven Berliner Schulsystem  KANN MAN NICHT LERNEN. Erst einmal muss der Staat anständige Schulen, anständige Lehrer, anständige Kitas bereitstellen, dann fangen wir zu lernen an! Und das kostet. Wenn der Staat nicht genug zahlt, können wir nicht lernen. Erst einmal muss die Politik die Bedingungen für sinnvolles Lernen schaffen, danach dann fangen wir zu lernen an!

Groteske Töne – in Dakawa in Tansania beträgt die Klassenstärke durchschnittlich 103 Kinder pro Grundschulklasse. Dennoch wird auch dort gelernt – auf dem Boden sitzend, an großen Wandtafeln. Für Bücher gibt es ja kein Geld.

Lernen kann man immer. Gerade in den heutigen Grundschulen Berlins herrscht ein unfassbar üppiges Angebot. Die materielle Ausstattung ist teurer, ist besser als je in der Geschichte.

Dennoch maulen Eltern und Kinder, Wähler und Politiker, „Bildungsforscher“ und „Bildungsexperten“ in einem fort: „Die Schulen sind nicht gut genug. Wir brauchen bessere Schulen. Wir brauchen bessere Lehrer. Erst danach werden wir zu lernen anfangen.“

Das revolutionäre Gedicht „Lob des Lernens“ von Bert Brecht verlangt hingegen jedem Einzelnen die lebenslange Anstrengung des Lernens ab – auch unter widrigsten Umständen.

Ausreden, bequemes Sich-Davonstehlen gibt es in den Augen Bert Brechts nicht. In der Mitte des Lernens steht der Lernende. Das Lernen wird gemacht und betrieben vom Lernenden.

Das ist die revolutionäre Wende zur Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein eigenes, sein selbst zu führendes Leben. Es gibt immer ein richtiges Leben, auch wenn es in den Strukturen etwas gibt, was falsch ist.

Es gibt immer ein richtiges Leben im Falschen.

Der einzelne Mensch muss lernen. Er muss sich selbst diese Anstrengung überall und immer abverlangen. Damit er sein Leben führen kann, statt von den Parteien oder von der Politik geführt zu werden.

Brecht fordert uns auf: „Lerne selbst, damit du selbst die Führung in deinem Leben übernehmen kannst!“

Bert Brecht würde sich als parteitreuer Kommunist selbstverständlich im Grabe umdrehen, wenn er diesen Eintrag des widersetzlichen Kreuzberger Bloggers läse! Aber ich meine, dass er, wenn er 125 Jahre alt würde, ebenfalls zu dieser Deutung seines Gedichts gelangen würde. Ich gehe davon aus, dass er der KPdSU und der SED, dass er dem Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus nicht mehr mit dem unterwürfigen Gehorsam folgen würde, den er zu Lebzeiten gezeigt hat.

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Sep. 052012
 

„Was hatten die Griechen des Altertums jenseits ihrer uns im Nachhinein fast unfassbaren Zerstrittenheit und kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Antwort: Recht wenig – außer der Verehrung der olympischen Götter, den olympischen Spielen und Homer. So schroff kann man es durchaus sagen.

„Was haben die heutigen europäischen Völker jenseits ihrer im Nachhinein oft unfassbaren kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Kulturell gesehen recht wenig – außer dem Bezug auf die drei mosaischen Religionen Judentum, Christentum und Islam und einer zivilgesellschaftlichen Tiefenprägung durch das Imperium Romanum.

Einen weiteren Beleg für meine Diagnose eines zutiefst unvollständigen europäischen Bewusstseins meine ich in der Vernachlässigung all jener Richtungen des Christentums zu erkennen, die weder dem römisch-katholischen noch dem evangelischen Flügel zuzuordnen sind. Die Kirchenspaltung, zu deren Überwindung heute namhafte deutsche Laien aufrufen (siehe FAZ S. 1), wird in Deutschland und in Westeuropa ausschließlich als die Trennung zwischen römisch-katholisch und evangelisch gesehen.

Dabei gehören der EU mit Griechenland, Zypern, Bulgarien und Rumänien vier Länder an, deren Bevölkerung sich mit über 80%, ja bis zu 97%  zum Christentum bekennt, wenngleich sie weder römisch-katholisch noch evangelisch bzw. protestantisch sind.

„Wie denn das?“ Antwort: Während die Völker des europäischen Westens das Neue Testament in lateinischer Sprache empfingen, empfingen es die Völker des Ostens in griechischer Sprache. Diese Völker gehören zum weiten Bereich des orthodoxen Christentums. Die Spaltung zwischen orthodoxem und lateinischem Christentum datiert wesentlich auf das Jahr 1054.

Die Bibel, also erstens der ältere hebräische Teil, bei den Christen Altes Testament genannt, verbunden zweitens mit dem Neuen Testament der Christen ist in der Tat neben der paganen Antike eine überaus wichtige kulturelle Klammer, welche die beiden Lungenflügel Europas zusammenhält, in ihrer Bedeutung vergleichbar den Gesängen Homers oder den Olympischen Spielen für das alte Hellas.

Das gilt unabhängig davon, ob man sich zur Person Jesu Christi bekennt oder nicht, also ob man „Christ“ ist oder nicht. Und selbstverständlich sind die biblischen Geschichten auch überreich im Koran der Muslime weitergeführt, wenngleich unter leicht veränderten Namen. So heißt unsere Maria, die hebräische Miriam, dort auf arabisch Meryam.

Hebräischer Tenach, christliches Neues Testament, neuerdings auch muslimischer Koran – ohne eine Befassung mit diesen drei Büchern wird man Europa kaum vollständig ausbuchstabieren können.

Und deshalb meine ich: das ganze Christentum sollten wir in den Blick nehmen – nicht nur den westlichen Lungenflügel.

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Juli 172012
 

Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles bei uns! Rund 115 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr würde die Einhaltung der neuen Hygienestandards an Berliner Schulen kosten, also die tägliche Reinigung der Böden und Toiletten durch den eifrig den Bürgern hinterherwischenden Berliner Senat! Ein Ding der Unmöglichkeit! Alle drängen und bedrängen die Geldkoffer des Staates, die Politik gebärdet sich im Kleinen wie im Großen fast nur noch als Streit ums Geld. Das Geld ist offenkundig die Grundlage und das entscheidende Maß der Politik, dieser Grundlage dient alles andere.

Dabei ist eigentlich genug Geld im System, es fehlt nur an den Regeln, wie heute recht zutreffend Bundestagspräsident Lammert seufzte.

Da flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten! Zur Erholung von diesen allzu europäischen Geld-Tönen schlage ich gerne die alten Bücher des Ostens, Homer, Herodot, Aischylos etwa  auf. – Heute wiederum las und rezitierte ich das berühmte Gedicht Einladung (Davet) von Nazim Hikmet. Was für andere Töne! Kraftvoll, leidenschaftlich, – dieser Mann wird noch getragen von einem echten republikanischen Ethos! Die Freiheit steht im Mittelpunkt seines Einsatzes, auf dieser ursprünglichen Einsicht in Freiheit und Gleichheit aller Menschen gründet sein Vertrauen in das gute, das gelingende Wort!

Bu memleket bizim – das ist unser Land.
Bu davet bizim – das ist unsere Einladung.
Bu hasret bizim – das ist unsere Sehnsucht.

In den Zeilen Hikmets wird für mich erfahrbar, wie kostbar die Freiheit – selbstverständlich auch die politische Freiheit – ist. Gelingende Politik stiftet Gemeinschaft im Wort: unser Land.

Gelingende Politik schließt andere Menschen, andere Völker ein statt aus: unsere Einladung.

Wie schwer ist es, sich im Gezänk über Geld dieses Wertes bewusst zu bleiben!

Gelingende Politik strebt erlebten Wünschen nach: unsere Sehnsucht.

Gelingende Politik, gelingendes Zusammenleben beruht darauf, dass alle sich dieser Zugehörigkeit, diesem Streben nach Freiheit und Brüderlichkeit verpflichtet wissen.

Hört selbst:

 Nâzım Hikmet:

DAVET
Dörtnala gelip Uzak Asya’dan
Akdeniz’e bir kısrak başı gibi uzanan
bu memleket bizim.

Bilekler kan içinde, dişler kenetli, ayaklar çıplak
ve ipek bir halıya benzeyen toprak,
bu cehennem, bu cennet bizim.

Kapansın el kapıları, bir daha açılmasın,
yok edin insanın insana kulluğunu,
bu davet bizim.

Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür
ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim.

Quelle:

Türkçe Okuma Kitabı. Erste türkische Lesestücke. Herausgegeben von Celal Özcan und Rita Seuß. Illustrationen von Rita Seeberg. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Auflage, München 2011 [=dtv 9482], S. 76

Ich freue mich auch auf folgende öffentliche Veranstaltung:

„Wir wollen uns an die Abmachungen halten. Das ist das Fundament, auf dem Europa nur gedeihen kann.“  So wird Bundeskanzlerin Merkel 16.06.2012 in der ARD-Tagesschau zitiert.

Abmachungen einhalten, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit des Wortes – ist dies das Fundament, auf dem Europa neu gedeihen kann? An diesem Abend wollen wir ein politisches Gedicht über die Freiheit von Nazim Hikmet und eines von Friedrich Hölderlin kennen und lieben lernen.

Zum Mitmachen, Mitsprechen  und Mitwachsen für alle. Anschließend politische Diskussion.

Treffpunkt:  Donnerstag, 19. Juli 2012, 20.00 Uhr, Park am Gleisdreieck, Kreuzberg-West.

Neuer Kiosk am Park-Eingang (von der Hornstraße her)

In Deutsch und Türkisch

Bild: Wurzelscheibe eines Baumes vom Märchenpfad in Bischofswiesen, Berchtesgadener Land

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O leuchtende Kraft des freien Wortes!

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Apr. 022012
 

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O leuchtende Kraft des freien, fröhlichen Wortes! Diese strahlende Macht des freien Wortes offenbart sich darin, dass man es jäh aufblitzend der Angst zum Trotz laut, kräftig und vernehmbar erschallen lässt.

So, mit derart steigernd-steigender, nicht wortlautgetreuer Begeisterung übersetze ich mir und Euch allen einen Spruch aus dem 67. Kapitel des ersten Teils des Romans Leben und Schicksal von Wassili Grossman, den ich in diesen Tagen immer wieder mit großer Dankbarkeit zur Hand nehme.

Diesen Spruch mache ich mir vollkommen zu eigen. Ich kaue ihn wie der Häftling seinen Brotkanten kaut, der im Kauen süß wird. Dieser Kanten Brot, dieses kantige Wort hilft mir über Widrigkeiten und Gefährdungen hinweg. Er stellt in der Tat eine Art Glaubensbekenntnis für mich dar.

Ich glaube in der Tat an die überragende, befreiende Macht des in Freiheit gesprochenen Wortes.

Europa wird nicht durch das Schwert zusammenkommen, wie es Wassili Grossman am eigenen Leib erleben musste. Europa wird auch nicht durch das Geld zusammenkommen, wie törichte Menschen es jetzt wieder landauf landab verkünden. Die Unterwerfung der nachfolgenden Generationen unter die zentralen Steuerungsmechanismen der Währung ähnelt einer Selbstaufgabe der Freiheit.

Die Unterjochung unter die herrischen Imperative des Geldes ist ein gefährlicher Irrweg, vor dem es Europa zu bewahren gilt. Übermäßige Staatsverschuldung, mangelnde Strukturreformen, vor allem aber ein Mangel des freien Wortes sind zusammen mit dem Glauben an die absolute Macht des mit gleichsam religiöser Inbrunst angebeteten Geldes die Ursachen für den drohenden Verlust der Handlungsfreiheit.

Die öffentliche Diskussion über den ESM ist dieser Tage in meinen Augen ein niederschmetterndes Dokument des mangelnden Zutrauens in die Freiheit des Menschen.

Das Schwert hat zu Wassili Grossmans Zeiten die europäischen Völker nicht geeint. Das Geld, die Unterwerfung der Politik unter das Geld, die Absolutsetzung der Währung droht heute Europa zu spalten.

Ich sage: Nur im freien, befreienden Wort werden die europäischen Völker zusammenfinden. Am freien Wort fehlt es in Europa, fehlt es in Deutschland. Dies werde ich gar nicht oft genug wiederholen können.

Hier könnt ihr die Fundstelle meines Goldschatzes im Wortlaut nachlesen:

Василий Гроссман. Жизнь и судьба
О, ясная сила свободного, веселого слова! Она в том и проявляется, что вопреки страху его вдруг произносят.

Bild: Hammer und Sichel kommen wieder. Ein aktuelles Wand- und Warnbild, aufgenommen gestern in Berlin-Kreuzberg, Obentrautstraße

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März 132012
 

Der eine oder andere gütig geneigte Leser mag sich noch an jene Aufzählung von Pflichten und Verboten erinnern, die das früher einmal christliche Europa als die „Zehn Gebote“ kannte. Man findet sie bei einigem Suchen noch in der Hebräischen Bibel, also auch in dem Alten Testament der Christen. Die zehn Gebote sind noch nicht ganz außer Mode, auch wenn sie jeden Tag hunderttausendfach übertreten werden.

Die zehn Gebote, die teilweise Ergebnisse von Lebensweisheiten sind, richten sich an den einzelnen Menschen. Beispiele, an die manche der älteren Leser dieses Blogs sich noch erinnern mögen, sind: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“, „du sollst nicht morden“, „du sollst nicht  stehlen“, „du sollst nicht Falsches gegen deine Nächsten aussagen“, „du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“  usw. usw.

Biblischer Glaube besagt: Würdest du diese hier aufgezählten wenigen Gebote und Verbote einhalten, dann ginge es dir und den deinen besser. Wer diese Gebote verletzt, schadet anderen und letztlich auch sich selbst. Wenn niemand mordet, lügt und stiehlt, geht es dir und den deinen besser. Wenn du Vater und Mutter pflegst und hegst, geht es dir und den anderen besser.

Biblischer Glaube besagt: Nicht das Eigentum ist böse, sondern das Stehlen des Eigentums. Nicht das menschliche Leben ist böse, sondern die Vernichtung des menschlichen Lebens, der Mord. Nicht das Privateigentum ist böse, sondern der Diebstahl.  Nicht die Sprache ist böse, sondern das Reden in der Absicht, anderen zu schaden, die Lüge.

Eine andere Ethik, man könnte sie Kollektivethik nennen, predigt John Lennon in seinem bekannten Lied IMAGINE.  Das Lied wurde kürzlich im Konzerthaus auf dem Festakt der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt gespielt. Ein klares Bekenntnis Deutschlands zum Gedanken der Kollektivethik?

Lennon stellt sich eine gute Welt vor, eine Welt ohne Staatsgrenzen, ohne Eigentum, ohne Religion, ohne den Himmel der Werte. Dann – so predigt John Lennon – wird alles gut. Nicht der menschliche Wille wählt für  John Lennon das Böse, sondern die Trennung in Länder, die Trennung in Mein und Dein, die Religion. Staatlichkeit, Religion, Besitz sind die Ursachen des Bösen. Durch Abschaffung von Staatlichkeit, Religion und Besitz entfällt der Grund zum Bösen. Das Paradies kann anbrechen. So ähnlich dachte wohl auch John Lennon persönlich.

Man darf weiterdenken: In einer John-Lennon-Welt ohne Eigentum, ohne Religion, ohne Nationalitäten werden die Menschen gut sein. Es wird keinen Mord, keinen Raub und keine Lüge geben.

Durch die Abschaffung von Eigentum, Religion, Nation und Staatlichkeit bricht das Reich des ewigen Friedens an. Es gibt keinen Grund mehr, irgendetwas Böses zu tun. Alles wird gut.

JOHN LENNON lyrics – Imagine
Imagine there’s no heaven
It’s easy if you try
No hell below us
Above us only sky
Imagine all the people
Living for today…

Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion too
Imagine all the people
Living life in peace…

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Dez. 242011
 

καὶ εἶπεν αὐτοῖς ὁ ἄγγελος· Μὴ φοβεῖσθε· – Und der Bote sagte ihnen: Habt keine Angst (Lukas 2,10).

Dieses gestern aufgenommene Bild zeigt ein paar elektrische Lichter in der Dunkelheit, einen Hinweis auf einen Storchenparkplatz und einen Pfeil, der den Weg zur Brandmeldezentrale weist. Wir sehen: Für Geburten gibt es heute Krankenhäuser mit gut ausgeschilderten Storchenparkplätzen, das Risiko der Feuersbrünste ist gemindert durch Warnmelder, echte Dunkelheit gibt es nicht, da Strom und Licht überall vorhanden sind. Wir dürfen sogar das allgegenwärtige Handy einmal abschalten. Wir könnten uns zu Weihnachten alle entspannen und locker chillen.

Wie haben wir es doch so herrlich weit gebracht in den letzten Jahrzehnten!

Mein aus Ägypten stammender Freund, der die Ereignisse des letzten Jahres am Tahrir-Platz miterlebt hat,  sagt es mir schroff und klar ins Gesicht: „Zu diesem Weihnachten bleiben zwei Zimmer dunkel: meins und das von Jesus.“ Ein großartiges, ein geradezu herzbezwingendes Wort: es führt die Nähe zu Jesus vor Augen. Denn wie sonst könnte Hamed etwas über Jesu dunkles Zimmer sagen?  Und zugleich zeigt diese Aussage die absolute Ferne von Jesus, die schlichte Wahrheit: „Ich kann nichts mit eurem Weihnachtsfest und eurem Jesus-Gebimmel anfangen. Bleibt mir damit vom Leibe!“ Ich muss sagen, ich mag all diese Menschen, die den Weihnachtsrummel in voller Überzeugung oder gar angewidert ablehnen.

Doch meine ich, dass man durchaus hinter die Glitzer- und Rummelfassade hineinleuchten kann. Nicht alles ist schon ein abgekartetes Spiel, nicht alles ist schön aufgeräumt und glühweinselig. Es gibt Zweifel und Unsicherheiten auch im bestausgeschilderten Parkplatz.

Liest man etwa die Beschlüsse des Europäischen Rates vom 09.12.2011 genauer durch, so wird man erkennen, dass sie von mannigfachen Ängsten getrieben sind: Angst vor dem Auseinanderbrechen der Währung, Angst vor dem Staatsbankrott, Angst vor dem Bedeutungsverlust und der Verarmung Europas. Die Staats- und Regierungschefs haben offenkundig den Überblick über das komplizierte Gefüge der Staatsfinanzen verloren. Sie weisen in ihrem Abschlussdokument ausdrücklich die zentral regulierte Währungs- und Wirtschaftspolitik als das entscheidende Fundament der europäischen Integration aus. Gedeih und Verderb der Europäischen Union hingen also am Geld. Politik bestünde also  darin, Geldwerte zu sichern, bestünde darin, den höchsten Wert für sich und seine Schäflein herauszuholen.

Nicht zufällig erschüttern immer wieder und gerade auch  in den letzten Wochen Geschichten über den falschen oder leichtfertigen Umgang mit dem Geld die Glaubwürdigkeit einzelner Politiker und auch der Politik insgesamt. Politik wird am Umgang mit Geld gemessen, das Geld und die Geld-Gerüchte liefern das Maß für den Wert der Politik.  Mit starrem Blick aufs Geld steigen und fallen die Kurse der Politiker.

Ist Geld alles?

„Fürchtet euch nicht!“ Die Geburt Jesu ereignete sich nach der ausmalenden Schilderung des Lukas  in notdürftigsten Umständen als erlebte Freude unter den Armen und Angstgeplagten des Altertums, den Hirten, die des Nachts ihre Herden hüteten. Für Jesus stand kein Storchenparkplatz bereit. Er wurde vorerst in einen Futtertrog abgelegt, und der Raum, in dem er geboren wurde, war wohl eine Ein-Raum-Wohnung, in der mehrere Menschen und allerlei Vieh den Platz teilen mussten.

Eine Brandmelde-Zentrale gab es nicht: die Hirten, die von einer Licht- und Feuererscheinung in Panik versetzt wurden, konnten keine Notruftaste drücken. Ihnen blieb nichts anderes als dem Wort des Boten zu vertrauen: „Jetzt geratet nicht in Panik. Fürchtet euch nicht.“ Und diese Botschaft wirkte. Das gesprochene Wort war für die Hirten stärker als die begreifliche Angst vor dem Unerwarteten.

In einem Kinderlied heißt es: „Die redlichen Hirten knien betend davor?“ Wieso redliche Hirten? Redlichkeit, das kommt von Rede, dem Reden vertrauen, sein Reden vertrauenswürdig machen. Redlichkeit ist das, was wir von den Hirten lernen können.

Sollen wir vertrauen? Heißt es nicht zu recht: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Ich erwidere: Vertrauen in das redliche Wort ist nicht alles. Aber ohne Vertrauen in die redliche Kraft des Wortes ist alles nichts. Wenn wir dem grundsätzlich nicht mehr vertrauen können, was andere uns sagen, können wir uns alle Staaten und alle Staatenbündnisse oder Bundesstaaten und alle Europäischen und sonstigen Unionen gleich abschminken. Dann nützen auch Rettungsschirme und automatische Kontrollen nichts mehr.

Hat uns materiell unvergleichlich reicheren Europäern des 21. Jahrhunderts die Angst- und Armutsgeschichte des Lukas mit den redlichen Hirten heute noch etwas zu sagen?

Ich meine: ja! Der Evangelist Lukas rahmt die Geburtsgeschichte Jesu in einen staatspolitischen Rahmen höchster Stufe. Eine steuerliche Erfassung der Vermögenswerte aller Bürger war der Anlass der Wanderung von Maria und Josef. Der regierende Kaiser hatte offenkundig – wie die Regierenden in unserer Zeit – den nötigen Überblick über Soll und Haben verloren. In diese Ausnahmesituation fällt die Geburt Jesu. Spannend! Wie verhält sich der Erzähler Lukas zu den drängenden finanzpolitischen Fragen seiner Zeit? Welches Ergebnis brachte die Steuerschätzung? Wir erfahren es nicht.

Es ist enttäuschend: Die großen weltpolitischen Fragen werden ausgeblendet. Statt auf den Kaiser und seine großen Nöte richtet der Erzähler seinen Blick auf das Kleinste, Jämmerlichste, Ärmste und Unscheinbare.

Die Weihnachtsgeschichte spielt in einer Zeit größter Unsicherheit, größter finanzieller Risiken. Aber sie schlägt doch einen deutlich anderen Ton an als den Ton des großen und des kleinen Geldes, der heute unsere Medien und oft auch unser Denken beherrscht. Ich finde, die Weihnachtsgeschichte ist eine unterirdisch wühlende, wenn auch sanftmütige Kritik an der Anbetung des Geldes und der Macht.  Sie bereitet die Umwertung aller Werte vor, welche der Einbruch des Christentums für die damalige Welt und später für ganz Europa bedeutete.

Johannes, der vierte Evangelist, angeblich der Mann des Wortes, legt allergrößten Wert darauf, das Wirken Jesu in Jerusalem mit einer beispiellosen, ja gewaltsamen Tat beginnen zu lassen: mit dem Hinauswurf der Händler und Banker aus dem Tempel, der nicht nur religiöses Zentrum, sondern auch wirtschafts- und finanzpolitische Zentrale war. „Setzt euer Vertrauen nicht ins Geld, sondern in geistig-geistliche Werte!“  So deute ich diese Geschichte.

Die Geschichte von der Geburt Jesu  kann uns klarmachen, worin ein Sinn-Kern der Geschichte Europas besteht. Fürchtet euch nicht, habt keine Angst. Das sind wohltuende Worte in diesen wie wahnsinnig durcheinanderflatternden, viel zu aufgeregten Zeiten!

Wenn man sich heute, im Jahr 2011, in einen Zug setzt und von Moskau nach Lissabon fährt, wird man mehrere Zeitzonen durchmessen und Schlafwagenschaffner in 12 verschiedenen Sprachen Tee anbieten hören. Findet man Zeit auszusteigen und innezuhalten, wird man in allen Städten – ob nun in Moskau, Kiew, Warschau, Wien, Genf, Madrid oder Lissabon – chromstarrende Banken und Paläste finden, prachtvolle Schlösser und tuckernde Omnibusse. Aber man wird auch in allen diesen Städten Kirchen finden. Diese Gebäude sind gebaute Wahrzeichen,  die letztlich auf jene unscheinbare Geschichte in einer gedrängt vollen Einraumwohnung zurückgehen und auf jene Geschichten vom Vertrauen in das Wort verweisen: Fürchtet euch nicht. Diese Geschichte ist eine jener Geschichten, die Europa zusammenhalten könnten, wenn wir bereit wären, auf sie zu hören und einen Augenblick das Handy abzuschalten und innezuhalten.

Ich wünsche uns allen diese Fähigkeit, hinzuhören, Kraft zu schöpfen aus dem einigenden, dem redlichen Wort: Fürchtet euch nicht. Sicher: die weltpolitischen Fragen und Nöte sind nicht gelöst. Hunger, Tod und Krankheit, Krieg und Naturgewalten lauern.

Aber seien wir ehrlich: es geht uns in der Europäischen Union noch oder auf absehbare Zeit unvergleichlich gut. Kein neugeborenes Kind, so ersehnt wie sie alle sind, braucht heute in einem Futtertrog abgelegt zu werden. Der Storchenwagenparkplatz steht doch jederzeit bereit. Nahezu alle Menschen in der Europäischen Union sind dank Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft von Not und Armut befreit. Wir könnten uns eigentlich freuen und versuchen, möglichst viele Menschen außerhalb unserer 27-Länder-Wohlstandsinsel zu ähnlichen demokratisch-rechtsstaatlichen Verhältnissen zu führen, wie wir sie genießen.

Warum haben wir nicht mehr Glauben, mehr Zuversicht? Ich vermute, es hat damit zu tun, dass wir der Angst noch zu viel Platz einräumen. Angst lähmt. Angst um des Geldes willen ist die lähmendste Angst. Für diese Angst besteht kein echter Grund. Denn Angst ängstet sich zuletzt um sich selbst.

Zu Weihnachten bietet sich uns nun die große Chance, diese Grundlosigkeit der Angst zu durchbrechen. Wir werden die Ängste nicht los, ebenso wenig wie wir unsere Not und unsere realen Schulden schnell loswerden. Aber wir dürfen erkennen, dass es etwas Größeres, etwa anderes als die Angst gibt: Vertrauen in das Wort, Vertrauen in den Nächsten, Hoffnung auf unsere Veränderbarkeit, Hoffnung, dass die Wanderung zu einem sinnvollen Ziel findet.

Wir setzen also der kalten Faust der Angst unser unerschütterliches Vertrauen in die Kraft des befreienden Wortes, in die Tüchtigkeit der europäischen Bürger, in den unverwüstlichen Friedenswunsch der Völker entgegen.

Das Glockengeläute, das man in Moskau, Kiew, Wien, Madrid oder Lissabon hören kann, ist nicht das lärmende Jesusgebimmel, vor dem mein ägyptischer Freund vom Tahrir-Platz sich zu recht scheut. Es ist ein Zeichen für das andere der Angst, ein Weck- und Merkzeichen der Freude. Das Glockengeläute sagt:  „Freut euch vorläufig, mindestens solange diese Glocke läutet. Lasst sie hineinläuten ins dunkle Zimmer.

Mit einer Wendung, die ich einem ergreifenden Choral im Weihnachtsoratorium Johann Sebastian Bachs entnehme, rufe ich Euch und Ihnen  zu:

„Seid froh dieweil!“

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Fahrrad und Füße statt Auto, oder: Ist Armut das größte aller Übel?

 Angst, Antike, Armut, Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Fahrrad, Geld, Griechisches, Orthopädie, Tugend  Kommentare deaktiviert für Fahrrad und Füße statt Auto, oder: Ist Armut das größte aller Übel?
Dez. 152011
 

Feurio, Feurio, unser Wohlstand steht auf dem Spiel!

Zerstochen von den Fliegen des Finanzmarktes, suche ich Zuflucht in den Quellen des europäischen Denkens, das nirgend uns so würdig brennt als in den griechischen Schriften des Altertums! Es gibt ja heute mehr als einen Grund, wieder Griechisch zu lernen. Ja, ach möge doch in Europa wieder mehr Griechisch gelernt werden! Es war jahrhundertelang eine lingua franca des gesamten Mittelmeerraumes. In griechischer Sprache entstand das, was den Geist Europas bis heute prägt.

Kinderarmut, Altersarmut, Bildungsarmut … der Übel größtes scheint heute die Armut zu sein.

Doch ich widerspreche: Es ist mehr die Angst vor der Armut, die uns in der Europäischen Union lähmt. Eine gewisse Armut gibt es innerhalb der EU nur noch in wenigen Gegenden Bulgariens und Rumäniens. Aber auch diese wird schon bald der Vergangenheit angehören.

Ich behaupte: der größten Übel eines ist nicht die Armut, sondern die Angst vor Armut.

Umgekehrt gilt vielfach staatliche Mehrung und staatliche Umverteilung des stattlichen Wohlstandes, Sicherung des Geldwertes auf Kosten der nachfolgenden Generationen als die entscheidende Triebkraft der staatlich gesteuerten, von oben herab lenkenden Politik, ja als der Sinn von politischer Lenkung überhaupt.

Μακάριοι οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι, ὅτι αὐτῶν ἐστιν βασιλεία τῶν οὐρανῶν. 

Ganz anders klingt die reiche orientalische und europäische Tradition der gesuchten und gepriesenen Armut: „Sælic sind die armen des geistes, wan daz himelrîche ist ir.“ So fand ich es übersetzt in einem vor drei Jahren erschienenen brandaktuellen Buch.

„Ein ûzwendigiu armuot, und diu ist guot und ist sêre ze prîsenne an dem menschen, der ez mit willen tuot.“

Meister Eckart ist einer der größten europäischen Sprachpfleger: schöpfend aus der Antike, übersetzend, predigend, anverwandelnd. Vor allem hat er seine deutsche Muttersprache als gleichwertig mit den heiligen Sprachen des Altertums zu beleben gesucht.

Sollte die europäische Politik sich offen wie der von mir so hoch geschätzte Meister Eckart zum erzieherischen Wert der Wohlstandminderung bekennen, statt wie bisher ihren vornehmsten Sinn in der Hebung und Sicherung des Wohlstandes dank defizitfinanzierter Geldgeschenke zu sehen?

Freiwillige Wohlstandsminderung? Treppensteigen statt Aufzug? Fahrrad statt Auto? Müssen wir uns nicht etwas ärmer, etwas ehrlicher, etwas redlicher machen als wir eigentlich sind? Was sagen die Gelehrten, Doktoren und Professoren dazu?

„Nutzen Sie jede Gelegenheit zur Bewegung, das heißt Treppe statt Aufzug, Fahrrad statt Auto.“

Genau dieses Beispiel der freiwilligen Armut verlangt heute von uns Prof. Dr. med. Dr. med. habil . H. Michael Mayer, Orthopäde, Mitglied des Medizinischen Beirates der Versicherungskammer Bayern, Wirbelsäulenzentrum Orthopädische Klinik München-Harlaching

Zitatnachweise:

Meister Eckart. Predigt über Beati pauperes spiritu (P 52), in: Meister Eckart. Werke I. Texte und Übersetzungen von Josef Quint. Herausgegeben und kommentiert von Niklaus Largier. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 550

H. Michael Meyer: Fahrrad und Füße statt Auto, in: gesundheit aktuell. Der Gesundheitsratgeber der Versicherungskammer Bayern. Ausgabe 4/2011, S. 15

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Nov. 132011
 

Ein großer deutscher Politiker, an den ich täglich erinnert werde, ist Gustav Stresemann. Die nach ihm benannte Straße in Kreuzberg radle ich regelmäßig entlang. „Weich aus, Jana!“, warnten heute einige Schülerinnen mit blonden Zöpfen eine nachlässig auf dem Radweg der Stresemannstraße dahinschleichende Freundin. „Pass auf, Jana! Ich kann deinen Namen erraten!“ rief auch ich, nachdem ich meine lustige Klingel hatte erschallen lassen. Großes Gelächter bei den Schülerinnen mit den blonden Zöpfen! Da vergass ich vor Freude den gewohnt schlechten Zustand des holprigen Radweges!

Gustav Stresemanns überragend hellsichtige, unerhört visionäre Rede vor der Vollversammlung des Völkerbundes vom 9. September 1929 passt sehr gut in unsere Zeit. „Weshalb sollte der Gedanke, Europas Staaten zusammenzufassen, unmöglich sein. Wir haben die Aufgabe, in nüchterner Arbeit die Völker einander näherzubringen und ihre Gegensätze zu überbrücken. Auch diese Arbeit wird sich nicht mit Elan und Hurra lösen lassen.“

Stresemanns Begründungen für den europäischen Zusammenschluss sind heute noch gültig: Verhütung des Krieges durch starke wirtschaftliche Verflechtung, Bekenntnis zu Schutz und Pflege der Minderheiten, Gleichwertigkeit aller Kulturen, Kooperationsverhältnis zwischen allen Staaten und Wirtschaftsräumen. Im Vergleich zur heutigen Bewältigung der Schuldenkrise fällt auf, dass er seine Vision eines vereinten Europa nicht als Zweckbündnis zur Mehrung des Wohlstandes sieht, sondern als  durch viel Arbeit und Zusammenarbeit sauer zu erringendes Bündnis gleichberechtigter Völker.

Das Thema Schuldenabbau und Währungsreform beherrschte die deutsche Politik der 20er Jahre!  Es wäre so spannend, strukturelle Analogien der hochverschuldeten Volkswirtschaften der ersten Nachkriegszeit in Beziehung zur heutigen Euro-Krise zu setzen!

Das Zitat oben zitiere ich nach folgendem Buch, das ich kurz nach dem Erscheinen bereits ein erstes Mal las: Wir erleben die Geschichte. Ein Arbeitsbuch für den Geschichtsunterricht. II. Band. 7. und 8. Schuljahr. Von Johannes Hampel und Franz Seilnacht. Bayerischer Schulbuch-Verlag. München 1966, S. 182

Die komplette Rede gibt es hier zu lesen:

stresemann.pdf (application/pdf-Objekt)

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Okt. 292011
 

Sprechen wir weniger über Pläne und Lernziele, über Systeme und Curricula, über Integrationshindernisse und Integationsverweigerung!

Sprechen wir über Vorbilder!

Meine Mutter war mein Vorbild, sie hat mir gezeigt, dass man sich nie hängenlassen darf“, sagt der Tempelhofer Klaus Wowereit, dem wir nicht zur Wiederwahl ins Abgeordnetenhaus gratulieren können.  „Mein Lehrer Türk war ein richtiges Vorbild …“, sagt der Kreuzberger Özcan Mutlu, dem wir zur Wiederwahl ins Abgeordnetenhaus gratulieren.

In Familie und Schule scheint nichts so wichtig zu sein wie das persönliche Vorbild.

Erziehung ist Beziehung! Wir haben es geahnt.

Ich meine darüber hinaus: kulturelle Vorbilder können genau so wichtig werden wie persönlich erlebte Vorbilder, je älter die Kinder werden. Vom Drachentöter Siegfried, Dornröschen, Fanny Hensel, dem einen, der auszog, um das Fürchten zu lernen, über Odysseus, die heilige Hildegard von Bingen, Achilles, Jesus von Nazareth, Sokrates von Athen, die heilige Elisabeth von Thüringen, Parzival bis hin zu Harry Potter: Kinder brauchen klare, greifbare Menschen, an denen sie sich abarbeiten können.

Kulturelle Vorbilder sind Leitbilder, an denen sich Gesellschaften über Jahrzehnte und Jahrhunderte hin orientieren können.

Dass unsere Kinder aus dem reichen Schatz europäischer und deutscher Vorbilder in Familie und Schule, in Medienwelt und Alltag fast nichts mehr erfahren, ist ein unverzeihliches, ein fast nicht gutzumachendes „Integrationshindernis“.

Erstaunlich ist es nicht, dass ausgerechnet eine ehemalige Erzieherin, die englische Autorin  J.K.Rowling, mit einer Romanserie zum Thema „An Vorbildern reifen“ so riesigen Erfolg weltweit hatte: Harry Potter. Es zeigt nur zum tausendsten Mal, dass Kinder hungrig nach Vorbildern sind.

Karriere eines Gastarbeiterkindes: Der Türke und Herr Türk – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
„Türk war ein richtiges Vorbild, er war nicht autoritär und trotzdem streng, wenn es darauf ankam. Und das Wichtigste: Er hatte immer eine Linie, ein Konzept.“

 Posted by at 20:46